Ökumenischer Gottesdienst zur Wiedereinweihung der St. Petrikirche

Schwerpunktthema: Rede

Riga/Lettland, , 21. Juni 2022

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 21. Juni beim ökumenischen Gottesdienst zur Wiedereinweihung der St. Petrikirche in der lettischen Hauptstadt Riga eine Rede gehalten: "Ich wünsche mir, dass Deutsche und Balten dieses Kapitel ihrer gemeinsamen Geschichte heute wiederentdecken, dass wir die Lehren aus unserer Geschichte beherzigen, wenn es darum geht, die Zukunft in unserem vereinten Europa zu gestalten."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache beim ökumenischen Gottesdienst zur Wiedereinweihung der St. Petrikirche in Riga

Es bewegt mich sehr, am heutigen Tag an der Seite meines lettischen Amtskollegen und Freundes Egils Levits in diesem altehrwürdigen Gotteshaus stehen zu können. Die Petrikirche ist ein Wahrzeichen Rigas, tief in der Geschichte dieser einzigartigen Stadt verwurzelt. Die Steine könnten von der wechselhaften Geschichte dieses Ortes sprechen, von Aufbruch und Niedergang, von Leid und Hoffnung. Ein Schicksal, das Riga und das ganze Land geteilt haben.

1939 endete die jahrhundertalte Geschichte der deutschsprachigen Gemeinde – eine Folge des verbrecherischen Pakts, mit dem die Sowjetunion und Nazideutschland das Ende von Freiheit und Eigenständigkeit der zwischen ihnen liegenden Länder und Völker besiegelten. Was Molotow und Ribbentrop festhielten, erfüllt uns Deutsche bis heute mit Scham und Trauer. Wir tragen Verantwortung für Dunkelheit und Leid, die über diesen Teil Europas hereinbrachen.

Der Pakt bedeutete auch das Ende der jahrhundertealten Präsenz der Deutschbalten. Dass nun heute mit dem geschwisterlichen Verbund der Petrikirchenstiftung die lettische Landeskirche und ihre deutschsprachige autonome Abteilung diesen Ort zu neuem Leben erwecken, dafür dürfen wir zutiefst dankbar sein.

Die Petrikirche soll wieder Ort der Begegnung sein, ein Ort, an dem die versöhnte Verschiedenheit in Lettland als Teil unseres gemeinsamen Europas lebendig wird. Das besondere Geflecht unserer gemeinsamen kulturellen und spirituellen Wurzeln zeigt sich hier offenkundig. Ich bin dem lettischen Parlament, der Saeima, dankbar, dass sie in dem jüngst verabschiedeten Eigentumsgesetz die Vielfalt der Funktionen festgehalten hat, die diese einzigartige Kirche erfüllen soll. Die Kirche ist nun wieder ein sakraler Raum und zugleich bleibt deutlich: Kirche ist auch Miteinander; Kirche ist Reflexion; Kirche ist Erinnerung und Zukunft; Kirche ist die Lebendigkeit der Kultur.

Von dieser Kirche ging 1522 die Reformation im östlichen Teil Europas aus. Riga war damals eine der ersten Städte jenseits von Wittenberg und dem Kerngebiet von Luthers Reformation in mitteldeutschen Landen, in denen sich die Bewegung ausbreitete. Auf dem Weg hierher sind wir über den Reformationsplatz gegangen, den mein Vorgänger Joachim Gauck und sein lettischer Amtskollege Raimonds Vējonis 2017 eingeweiht haben. Heute, gerade fünf Jahre später, dürfen wir nun diesen besonderen Festgottesdienst in der Petrikirche feiern.

Die Reformation hat überall, wohin sie kam, Neues angestoßen – auch hier in Riga. Der Begriff der individuellen Freiheit, der Freiheit eines Christenmenschen, die Besinnung auf das Wort, all dies änderte auch den Blick von Deutschbalten und Letten auf ihr Verhältnis zueinander und auf ihre gemeinsame wechselhafte Geschichte.

An dieser Entwicklung waren namhafte Geistliche beteiligt, die als Pastoren nicht nur in Riga wirkten. So war die Lutherbibel auch Ausgangspunkt für den berühmten aus Sachsen-Anhalt stammenden Pastor Johann Ernst Glück, der im damaligen Marienburg – dem heutigen Alūksne –, die Bibel aus den Ursprachen ins Lettische übersetzte und so die Entwicklung der lettischen Schriftsprache maßgeblich prägte. Die Besinnung auf lettische Sprache und Traditionen beschäftigte viele protestantische Geistliche, ich nenne hier nur Pastor August Bielenstein, der sich als Ethnograph der lettischen Kultur bleibende Verdienste um dieses Land erworben hat.

Ich wünsche mir, dass Deutsche und Balten dieses Kapitel ihrer gemeinsamen Geschichte heute wiederentdecken, dass wir die Lehren aus unserer Geschichte beherzigen, wenn es darum geht, die Zukunft in unserem vereinten Europa zu gestalten.

Und ich wünsche der Gemeinde der Petrikirche, dem Herzen des nun wieder aufblühenden kirchlichen Lebens, viel Kraft und Segen für dieses großartige Unterfangen. Vielen Dank, paldies.