150 Jahre Deutsche Gesellschaft für Chirurgie

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 1. Juli 2022

Der Bundespräsident hat am 1. Juli beim Fest zum 150-jährigen Bestehen der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie in Berlin eine Rede gehalten: "An diesem Festtag möchte ich Ihnen und allen Ärztinnen und Ärzten für Ihren täglichen Dienst danken – in der Praxis, in der Klinik, auch in Forschung und Lehre […]. Ich kann nur hoffen und von hier aus dafür werben, unser Gesundheitssystem immer wieder zu überprüfen, zu verbessern und vor allem attraktiver für motivierte junge Menschen zu machen."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache bei der Festveranstaltung zum 150-jährigen Bestehen der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie im Langenbeck-Virchow-Haus

Bereits mit fünfzehn Jahren hat das Jahrhundertgenie der Malerei, Pablo Picasso, ein bedeutendes, zwei mal zweieinhalb Meter großes Bild gemalt, im Stil der damals beliebten Historienmalerei. Heute ist es im Picasso-Museum in Barcelona zu sehen. Man sieht auf diesem Bild eine offenbar kranke Frau in ihrem Bett liegen. Zu ihrer rechten Seite sitzt ein Arzt, der ihr aufmerksam den Puls fühlt. Zu ihrer linken Seite steht eine Ordensschwester, die ein kleines Kind auf dem Arm hält und gleichzeitig der Kranken ein Glas Wasser reicht.

Ciencia y caridad hat Picasso dieses Bild genannt: Wissenschaft und Barmherzigkeit. Oder wie man auch übersetzen könnte: Wissenschaft und Nächstenliebe.

Auf der einen Seite also der Arzt, offenbar ein Mann der exakten Wissenschaft, der konzentriert den Puls fühlt, also Daten aufnimmt, die ihm etwas über die Krankheit mitteilen. Der die exakte Anamnese vornimmt, daraus seine Schlüsse zieht und die vorgesehene und den Erfahrungen nach notwendige Behandlung vornimmt. Gleichzeitig bringt die Ordensschwester mit dem Wasser eine Erfrischung und menschliche Nähe. Dass sie dabei ein Kind auf dem Arm hält, deutet ihre zugewandte Fürsorge für Jung und Alt an, für Gesunde und Kranke.

Die beiden allegorischen Figuren stellen wohl keine Alternative dar, eher eine Ergänzung: Für die Kranke im Bett ist beides für ihre Heilung wichtig und segensreich – die sachliche, wissenschaftlich fundierte Kenntnis des Arztes und die barmherzige Zuwendung, die hier die Nonne verkörpert. Ciencia y caridad: Wissenschaft und Barmherzigkeit.

Picasso und sein frühes Werk wollen wir als Anregung verstehen, über einige Aspekte des medizinischen und ärztlichen Handelns nachzudenken, gerade am 150. Geburtstag dieser altehrwürdigen Gesellschaft für Chirurgie. Auch über Aspekte, die über den eigentlichen Bereich der Chirurgie hinausgehen.

Im Nachdenken über den ärztlichen Beruf gerät man unweigerlich ins Nachdenken über den Menschen selbst. Was ist der Mensch? Was ist gut für ihn? Was ist Gesundheit, was ist Krankheit, was Heilung? Mit welchem Bild vom Menschen üben Ärzte ihren Beruf aus?

Man kann den Menschen rein wissenschaftlich als Körper betrachten, seine reinen physiologischen Funktionen. Dann trifft man sicher auch eine Wahrheit, so wie sie der über neunzigjährige Hans Magnus Enzensberger erst vor zwei Jahren in seinem Gedicht Gefäße, Tuben, Kanäle beschrieben hat.

Spürst du nicht,
dass du eine Röhre bist,
nichts weiter,
durch die es tröpfelt,
rinnt, gleitet oder rutscht?
Und dann stockt es,
mitten in der Nacht
auf der Intensivstation.
Nichts kommt mehr.
Du solltest dich wundern,
wie lang das gutging.
Unwahrscheinlich,
von der Milch deiner Mutter,
bis zu dem waagrechten Strich
auf dem grünen Bildschirm.

Den Menschen, den menschlichen Körper als ein Funktionssystem zu beschreiben, unter Absehung von allem, was wir Seele oder Geist, Verstand oder Gefühl nennen, ist uns nicht unbekannt. Den Körper als ein System der verschiedenen Körpersäfte zu betrachten, ist seit dem Beginn der Medizin bei den Ärzten der Antike bekannt, auf die sich Enzensberger hier mutmaßlich bezieht.

Und es hat der wissenschaftlichen und medizinischen Forschung und den darin erreichten ungeheuren, ja unglaublichen Fortschritten sehr oft und sehr weitgehend geholfen, den Menschen genau so, also rein somatisch-funktional zu betrachten.

Tatsächlich sind ja in den vergangenen einhundertfünfzig Jahren, seit Ihre Gesellschaft besteht, unvorstellbare Fortschritte in der Forschung und der Behandlung gemacht worden. Dafür können wir alle nur dankbar sein. Gerade in der Chirurgie. Was haben nicht zum Beispiel die minimalinvasive oder die Herzchirurgie, die Unfall-, die Kinder- oder die Gefäßchirurgie für große Erfolge zu verzeichnen!

Besonders dankbar bin ich persönlich, das verstehen Sie, für die Transplantationsmedizin – weil sie meine Frau und mich mit Lebenszeit und Glück beschenkt hat.

Zu den bahnbrechenden Fortschritten in der Medizin hat vieles und haben viele beigetragen. Große Ärzte wie Rudolf Virchow, Robert Koch oder Ferdinand Sauerbruch und alle, die heute in ihren Schuhen stehen. Die technischen Weiterentwicklungen im Labor und im OP. Die mechanischen und elektronischen Instrumente und Geräte. Die Entwicklungen in der Pharmazeutik. Und, nicht zu vergessen, die immer neuen Erkenntnisse in der Pflege und Nachsorge.

Wir können nur dankbar sein, dass diese Fortschritte Sie, die Chirurgen, aber auch alle anderen Ärzte dazu befähigen, Tag für Tag Leben zu retten, Lebenszeit zu verlängern, Lebensqualität zu verbessern. Und ich darf heute allen Ärztinnen und Ärzten, ob als Hausärzte, als niedergelassene Fachärzte oder in der Klinik, Respekt, Dank und Anerkennung dafür aussprechen, dass sie nach bestem Wissen und Gewissen ihren Patienten die beste Behandlung zukommen lassen, die ihnen möglich ist.

Über die funktionale, ja mikroskopische Sicht auf den Körper und seine Funktionen sind wir nicht zuletzt in der Pandemie noch einmal deutlich aufgeklärt worden. Was Viren sind, was sie in Körperzellen anrichten, wie unser gesamter Organismus, ja unsere ganze Existenz von winzig kleinen Bausteinen und ihren Angreifern bestimmt werden, haben wir allzu deutlich gelernt. Und wir haben auch dankbar erfahren, wie spezialisierte medizinische Forschung in der Lage war, Impfstoffe zu produzieren, die nicht nur Infektionsrisiken vermindert haben, nein: die weltweit vermutlich Millionen Menschen vor dem Tod oder schwersten Erkrankungen bewahrt haben.

Gleichzeitig hat die Pandemie deutlich offengelegt, dass jede Krankheit auch eine soziale, in diesem Fall sogar auch eine politische Dimension hat. Wir alle mussten uns schützen, mussten unser Leben umstellen, mussten solidarisch sein, um uns und andere zu schützen.

Quarantäne und Lockdown, solche und andere Maßnahmen haben neben allem anderen für sehr viele Menschen auch schwerwiegende psychische Folgen. Kranke und alte Angehörige nicht besuchen zu dürfen, von Schule und von Freunden isoliert zu sein, das hat seelische Auswirkungen gehabt, deren Ausmaß wir noch gar nicht überblicken können.

Und viele Kranke haben genau das nicht mehr von ihren Angehörigen erfahren können, was wir in Picassos Bild als Barmherzigkeit gesehen haben: die menschliche, liebende Begleitung, die heilende oder tröstende Nähe, gerade in schweren und vor allem in den letzten Stunden. Ich weiß, dass in dieser Hinsicht dann sehr viele Pflegerinnen und Pfleger, auch Ärztinnen und Ärzte das getan haben, was ihnen möglich war, oft auch jenseits dieser Grenzen.

Wir haben es natürlich auch schon vorher gewusst, aber in der Pandemie ist es noch einmal überdeutlich geworden: Der Mensch ist eben doch mehr als eine Röhre, durch die es tröpfelt. Und er wird auch nicht allein durch Medikamente oder Operation geheilt oder durch Impfung geschützt. Auch menschliche Nähe und Zuwendung sind zur Heilung wichtig. Umgekehrt kann das Ausbleiben menschlicher Nähe auch einen körperlich gesunden Menschen krank machen.

Am nächsten kommen dem kranken Menschen in der Regel Ärzte und Ärztinnen, Pflegerinnen und Pfleger. Und zwar oft vom Anfang des Lebens an, noch bevor uns die Muttermilch nährt, bis hin zum waagrechten Strich auf dem grünen Bildschirm, wie es bei Enzensberger heißt. Es kommt ja nicht von ungefähr, dass neben dem Priester und dem Anwalt auch dem Arzt eine Schweigepflicht obliegt. In bestimmter Hinsicht kommt uns ja niemand näher – und nicht nur, wenn wir bereits erkrankt sind – als der Arzt. Er kennt oft intimste Geheimnisse, und ihm vertrauen wir uns an – im Ernstfall auf Leben und Tod.

Und ich weiß, dass Ärztinnen und Ärzte die Herausforderung spüren, ihren Patienten beides zu geben – Wissenschaft und Barmherzigkeit. Praktische Hilfe und menschliche Nähe, Rezept und Gespräch, Operation und Begleitung. Natürlich ist das in den einzelnen Gebieten unterschiedlich nötig und unterschiedlich möglich. Ein Internist hat hier andere Herausforderungen als ein Chirurg. Aber immer mehr Ärzte spüren heutzutage – und wenn mich mein Eindruck nicht täuscht: weit mehr als früher –, immer mehr wissen, dass Patienten nicht nur Sachverstand und gutes Handwerk brauchen, das natürlich auf jeden Fall, sondern auch Zuhören, Zuwendung, Zuspruch.

Und sie brauchen – auch das nicht zu vergessen – genaue und verständliche Aufklärung. Nur dann sind die Menschen auch willens und in der Lage, sich hilfreich und angemessen um sich selber zu bemühen, also als Aufgeklärte zu handeln.

In seiner berühmten Schrift Was ist Aufklärung? bezeichnet Immanuel Kant den Arzt noch als möglichen Verhinderer aufgeklärten Daseins. Wenn allein er für mich die Diät beurteilt […], so der immer auch praktisch denkende Kant, brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann. Durch Aufklärung lassen Ärzte ihre Patienten zu kundigen und mündigen Mitarbeitern an ihrer Gesundheit werden.

Jetzt werden viele von Ihnen wahrscheinlich sagen: Sehr schöne Worte, große Ideale! Aber das Schwarzbrot des Klinikalltags! Aber die tägliche Arbeit in den Praxen!

Und es stimmt ja auch: Es fehlt zuallererst und am meisten an Zeit. Es fehlt an Zeit, weil Ärzte und Ärztinnen fehlen. Es fehlt an Zeit, weil Pflegerinnen und Pfleger fehlen. Es fehlt an Zeit, weil die Hausärzte, gerade auf dem Land, immer weniger werden, wo uns bald ein noch empfindlicherer Mangel droht.

Nachwuchsmangel, Abwanderung ins Ausland, systembedingte Engpässe, Überforderung durch zu lange Dienste: Mir sind viele und sicher längst nicht alle Missstände bekannt. Und ich kann nur hoffen und von hier aus dafür werben, unser Gesundheitssystem immer wieder zu überprüfen, zu verbessern und vor allem attraktiver für motivierte junge Menschen zu machen.

An diesem Festtag aber möchte ich Ihnen und allen Ärztinnen und Ärzten für Ihren täglichen Dienst danken – in der Praxis, in der Klinik, auch in Forschung und Lehre. Sie begleiten das menschliche Leben vom Anfang bis zum Ende, Ihnen vertrauen sich die Menschen an, in guten und mehr noch in schweren Tagen.

Sie wollen und werden gemeinsam weiterhin lernen und heilen. Und sich, soweit Sie können, um beides bemühen – Wissenschaft und Barmherzigkeit. In diesem Sinne noch einmal: Herzlichen Glückwunsch zu 150 Jahre Deutsche Gesellschaft für Chirurgie und vielen Dank!