Festakt "100 Jahre Übersee-Club"

Schwerpunktthema: Rede

Hamburg, , 3. Juli 2022

Bundespräsident Steinmeier hat am 3. Juli beim Festakt "100 Jahre Übersee-Club" in Hamburg eine Rede gehalten: "In dieser Zeit, in der die Welt in Unordnung geraten ist, müssen Unternehmerinnen und Unternehmer ihre Verantwortung breiter fassen. Sie können sich nicht allein danach richten, was rechtens ist. Sie müssen sich auch daran orientieren, was richtig ist: moralisch richtig, gesellschaftlich richtig und ökologisch verantwortbar."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache beim Festakt zum 100-jährigen Jubiläum des Übersee-Clubs im Großen Saal in der Laeiszhalle in Hamburg

Vor hundert Jahren, als der Übersee-Club hier in Hamburg gegründet wurde, befand sich die Welt in einer Phase des Umbruchs. Zeitenwende würden manche heute sagen. Die Katastrophe des Ersten Weltkrieges und der Friedensvertrag von Versailles hatten die politischen Machtgewichte verschoben; der weltweite Handel, der zuvor jahrzehntelang floriert hatte, war zusammengebrochen; die erste Ära der Globalisierung war vorbei.

Damals diskutierten Politiker, Ökonomen und Unternehmer, wie der Welthandel unter den neuen politischen Bedingungen wiederbelebt, wie Frieden und Wohlstand dauerhaft gesichert werden könnten. Und sie taten das nicht zuletzt im Übersee-Club, der 1922 als Gesellschaft für wirtschaftlichen Wiederaufbau ins Leben gerufen wurde.

Gerade heute lohnt es sich, einen Blick in die programmatische Gründungsrede zu werfen, die Max Warburg damals hielt. Er forderte darin einen neuen Freihandel, um die Arbeit der Menschen, die Schätze der Erde, die Fruchtbarkeit des Bodens, die Vorteile des Klimas überall zum höchsten Wirkungsgrad zu bringen.

Und an die Regierungen der Welt gerichtet, fügte er hinzu: Wer heute die wirtschaftliche Autarkie erstrebt, dient ebenso wenig dem Besten der Nation, wie die Neu-Merkantilisten, die für einseitig egoistische Handelspolitik eintreten. Es ist eine Verkennung der wahren nationalen Werte, wenn ein Volk sich nur für einen Verein auf Gegenseitigkeit zur Bereicherung am Ausland hält.

Ein Zitat, das man hundert Jahre später einfach so stehen lassen kann.

Der erste auswärtige Redner, der einige Wochen nach der Gründungsversammlung im Übersee-Club auftrat, war, wie Sie alle hier wissen, kein Geringerer als John Maynard Keynes. Er knüpfte hier in Hamburg an seine Streitschrift über die ökonomischen Folgen des Friedensvertrags an, in der er das Ende einer Epoche skizziert hatte.

Was für eine außergewöhnliche Episode in der wirtschaftlichen Entwicklung der Menschheit, schrieb Keynes, war doch jenes Zeitalter, das im August 1914 an sein Ende kam! In den Jahrzehnten vor dem Krieg sei die Internationalisierung des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens de facto nahezu vollständig gewesen. Und vor allen Dingen, fuhr Keynes fort, vor allen Dingen habe man diesen Zustand für normal, sicher und dauerhaft gehalten, veränderlich höchstens im Sinne noch weiterer Verbesserungen.

Dieses Gefühl, das Keynes vor mehr als hundert Jahren beschrieb, das Gefühl, dass weltweiter Austausch und freier Handel normal, sicher und dauerhaft seien, ich glaube, dieses Gefühl ist den meisten von uns hier im Saal höchst vertraut.

Viele von uns sind geprägt von der zweiten Phase der Globalisierung, die mit der Öffnung Chinas in den 1980er Jahren begann und nach dem Ende des Eisernen Vorhangs ein geradezu beispielloses Wirtschaftswachstum in Gang gesetzt hat, ganz besonders in unserem Land, aber auch in den ärmeren Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas.

Zugleich haben wir in den vergangenen Jahren auch die Schattenseiten der Globalisierung gesehen. Nicht alle Menschen profitieren gleichermaßen von Freihandel und weltweiter Arbeitsteilung. Manche haben im Strukturwandel nicht nur ihre Arbeit, sondern auch ihren Platz in der Gesellschaft verloren. Vor allem im globalen Süden leiden viele unter Ausbeutung und menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen; Umweltzerstörung und Raubbau an der Natur gefährden die Lebensgrundlagen von Mensch und Tier.

Für die große Mehrheit der Menschen in Deutschland ist klar: Freiheit und Regeln gehören auch in der Weltwirtschaft zusammen. Ohne nationales und internationales Recht sind wirtschaftliche Stabilität, Fairness, sozialer Ausgleich, Umwelt- und Klimaschutz nicht zu haben. Deshalb setzen wir uns in Deutschland und Europa seit Jahrzehnten für eine regelgebundene globale Ordnung ein, für Völkerrecht und Vertragstreue, für Vernetzung und Freihandel, für ökologische und soziale Standards, für internationale Zusammenarbeit, für Streitschlichtung und die friedliche Lösung von Konflikten.

Diese Ordnung der Welt und der Weltwirtschaft war die Grundlage für Deutschlands Aufstieg als Industrie- und Exportnation. Es war eine immer verbesserungsbedürftige, aber eine gute Ordnung, die unserem Land nicht nur Wohlstand und Arbeitsplätze beschert hat, sondern auch eine stabile Demokratie und einen leistungsstarken Sozialstaat.

Schon seit einiger Zeit aber können wir beobachten, wie diese Ordnung brüchig wird. Finanzmarktkrise und Eurokrise; Flüchtlingskrise und wachsende Spannungen in der Europäischen Union; Brexit und schwere globale Handelskonflikte; Naturkatastrophen und Pandemie, all das zerrt an den Grundfesten der gewachsenen Weltwirtschaftsordnung.

Wir erleben seit Jahren, wie der freie Austausch von Waren, Dienstleistungen und Kapital an Schwung verliert; wie protektionistische und merkantilistische Ideen an Zustimmung gewinnen; wie ganz unterschiedliche Länder sich abschotten, sich vom weltweiten Handel zurückziehen und internationale Organisationen schwächen; wie autoritäre Regime zunehmend die Konfrontation mit den liberalen Demokratien suchen – und das gerade in einer Zeit, in der wir doch eigentlich dringend mehr grenzüberschreitende Zusammenarbeit bräuchten, um Klimakrise, Artensterben, Hunger und Krankheiten zu bekämpfen.

Und jetzt der brutale russische Angriffskrieg gegen die Ukraine.

Dieser völkerrechtswidrige Krieg bringt Tod, Leid und Zerstörung über viele Millionen Menschen in der Ukraine; er löst Energiekrisen und Nahrungsmittelknappheit aus; vor allem ist er Grund für eine gewaltige Dynamik geopolitischer und geoökonomischer Veränderung. Eine Dynamik, deren Ende und Folgen nicht annähernd absehbar sind, der wir uns aber nicht entziehen können.

Spätestens seit dem 24. Februar, spätestens jetzt ist uns allen miteinander bitter bewusst: Wir können unseren Weg nicht einfach weitergehen, als wäre nichts passiert – und das gilt für die Politik ebenso wie für die Wirtschaft.

Die ungeordnete, unsichere, unberechenbare Welt, in der wir seit vier Monaten leben, ist für niemanden eine bessere Welt. Aber gerade weil wir die neue Wirklichkeit nicht als gegeben hinnehmen wollen, müssen wir jetzt umsteuern. Wir müssen uns politisch, militärisch und ökonomisch neu ausrichten, wir müssen unsere Demokratien wehrhaft und unsere Volkswirtschaft widerstandsfähig machen, ohne dabei das Ziel einer regelbasierten Weltordnung und einer liberalen, fairen und klimaverträglichen Weltwirtschaft aus dem Blick zu verlieren.

Und ja, wir erfahren jeden Tag aufs Neue, wie kompliziert und wie schwierig es ist, unseren Kurs in voller Fahrt neu zu justieren. Aber ich bin überzeugt: Nur wenn es uns jetzt gelingt, gemeinsam mit unseren Partnern in Europa und der Welt umzusteuern, nur dann werden wir einen vorderen Platz in der Weltwirtschaft halten, nur dann werden wir die Chancen der Globalisierung auch in Zukunft nutzen können.

Wie Warburg und Keynes vor hundert Jahren, stehen wir heute an der Schwelle zu einer neuen Epoche. Vielleicht könnte man sogar sagen: Der Übersee-Club, der damals gegründet wurde, erlebt heute unter dem Druck der aktuellen Ereignisse so etwas wie seine zweite Gründung. Denn gerade jetzt brauchen wir Foren wie dieses, in denen wir uns zuhören, in denen wir uns orientieren können, wie und mit wem wir die Globalisierung der Zukunft eigentlich gestalten wollen. Auch deshalb bin ich heute gerne bei Ihnen.

Pandemie und Krieg haben auch denen, die sich sonst weniger mit Wirtschaft beschäftigen, eindringlich vor Augen geführt, wie abhängig wir in der zweiten Phase der Globalisierung von Rohstoffen und Vorprodukten aus Ländern rund um den Erdball geworden sind – und wie sehr Unternehmen, Kaufleute und Verbraucher deshalb darauf angewiesen sind, dass weltumspannende Produktions- und Lieferketten störungsfrei funktionieren.

In einer Zeit, in der die Pandemie noch nicht vorbei ist, hat der russische Überfall auf die Ukraine die Weltwirtschaft in schwerste Turbulenzen, die schwersten seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges gestürzt. Wir erleben, wie Putin versucht, Staaten zu erpressen, die von russischen Gas-, Öl- und Kohlelieferungen abhängig sind; wir erleben, wie die Europäische Union gegen den Aggressor die schärfsten Wirtschaftssanktionen ihrer Geschichte verhängt hat; und wir erleben, wie China und Indien und andere jetzt sogar mehr Öl und Kohle aus Russland kaufen, wie sie die Wirkung unserer Sanktionen dadurch schwächen und sich gleichzeitig selbst weiter stärken.

Wir alle erfahren in diesen Wochen, wie hoch die ökonomischen Kosten sind, die der russische Angriffskrieg unmittelbar und mittelbar verursacht. Die Gasknappheit ist ein schwerer Schock für Wirtschaft und Verbraucher; die Preise für Energie, Rohstoffe und Lebensmittel steigen; die Inflation hatte in der vergangenen Woche eine Rekordmarke erreicht; Wachstumsprognosen werden nach unten korrigiert; Millionen Menschen vor allem in Afrika droht eine Hungersnot, weil Weizen als Waffe missbraucht wird; auch bei uns müssen die Bürgerinnen und Bürger Wohlstandsverluste hinnehmen – was viele in Deutschland weitaus härter trifft als die meisten von uns hier im Saal.

Wir erfahren in diesen Wochen, welch dramatische Folgen es für die verflochtene Welt hat, wenn ein autoritäres Regime gegen alle Vernunft und sogar wider die eigenen Interessen handelt. Dass die russische Führung ihrem imperialen Größenwahn ganz und gar verfallen würde, dass sie dafür auch den politischen, moralischen und wirtschaftlichen Ruin ihres eigenen Landes in Kauf nehmen würde, das habe ich vor dem 24. Februar nicht für möglich gehalten. Aber der mörderische Überfall Russlands hat uns bitter bewusst gemacht, dass wir uns heute vor irrationalen und unberechenbaren Akteuren schützen müssen – in der Politik ebenso wie in der Wirtschaft.

Es ist und bleibt richtig, dass wir Russland politisch und ökonomisch unter Druck setzen und uns selbst unabhängiger machen von russischer Energie.

Aber Russland ist eben nur das eine: Wir müssen jetzt unsere Lektion lernen und entschlossen handeln, um ganz generell unabhängiger von autoritären Staaten zu werden und vor allen Dingen Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen und sie zu erhalten.

Das ist, ich weiß das, leichter gesagt als getan. Und es ist sogar gefährlich, wenn wir jetzt die falschen Schlüsse ziehen. In einer Zeit, in der einige schon das Ende der Globalisierung prophezeien, andere das Ende der Globalisierung herbeisehnen, will ich eines ganz klar sagen: Wir dürfen uns jetzt nicht in den eigenen Hafen zurückziehen, das Tor zur Welt zumauern und von Autarkie träumen!

Denn auch in Zukunft gilt: Wir können unseren Wohlstand nur erwirtschaften, unsere Arbeitsplätze nur erhalten, unseren Sozialstaat nur finanzieren, wenn wir ein Industrie- und Exportland bleiben! Dass ein rohstoffarmes Land wie Deutschland, mit einer Bevölkerung von nur 83 Millionen Menschen, zur viertgrößten Wirtschaft der Welt aufsteigen konnte, das ist wahrhaftig keine Selbstverständlichkeit, und es ist nur durch die Internationalisierung zu erklären.

Wir leben von Abhängigkeiten, habe ich an anderer Stelle schon einmal sehr verkürzend gesagt. Mit anderen Worten: Der Erfolg unseres Wirtschaftsmodells beruht auf globaler Verflechtung. Das müssen wir uns eingestehen. Unsere Industrie ist abhängig von Rohstoffen und Vorleistungen aus anderen Ländern, und sie wird es auch bleiben. Als Exportnation sind wir auf offene Märkte und auf Kundschaft aus aller Welt angewiesen. Und nicht zuletzt können wir unserer Verantwortung für die Zukunft unseres Planeten nur gerecht werden, wenn wir in Politik und Wirtschaft weiterhin eng mit internationalen Partnern zusammenarbeiten.

Deshalb müssen wir möglichst viele neue Partner gewinnen – und damit gleichzeitig auch unsere Verwundbarkeit verringern. Wir dürfen nicht nur darüber diskutieren, wie wir von etwas wegkommen, wir müssen auch klären, wo wir stattdessen hinwollen und wo wir wieder andocken können! Wenn wir uns auf den Weltmärkten neu ausrichten und breiter aufstellen, wenn wir unsere Abhängigkeiten klug austarieren und uns aus schädlichen Beziehungen lösen, dann können wir unsere politische und ökonomische Widerstandskraft stärken.

Wenn Politikerinnen und Politiker, Unternehmerinnen und Unternehmer vor der Entscheidung stehen, mit wem sie zukünftig Energie- oder Infrastrukturpartnerschaften eingehen wollen; von wem sie ihre Rohstoffe beziehen und an welchen Standorten sie produzieren wollen; welche Standards für ihre Lieferketten gelten sollen – dann müssen sie mit Weitblick kalkulieren und die politischen Risiken, auch die Kosten klimaschädlichen oder unethischen Handelns mit einpreisen.

Denn auf lange Sicht ist es in dieser neuen Welt der Gefahren eben auch ökonomisch klüger, Vorratshaltung wiederzubeleben, Lieferantenstrukturen zu diversifizieren, Produktion zu dislozieren, Teile davon näher heranzuholen, statt Versorgungsengpässe, Lieferausfälle oder Umsatzeinbrüche mit schweren und schwersten Konsequenzen zu riskieren.

Fast zwei Jahrzehnte schien alles reibungslos zu laufen. Deutsche Unternehmen waren auf den Märkten der Welt zu Hause. Deutsche Produkte und deutsches Engineering genossen Weltruhm. Energie, Rohstoffe, Vorprodukte kamen zum jeweils günstigsten Preis von allen Kontinenten und hielten uns wettbewerbsfähig.

Aber heute ist uns in der Politik und auch in der Wirtschaft bitter bewusst: Der kurzfristig günstigste Preis einer Ware oder eines Rohstoffes spiegelt eben nicht immer alle politischen, ökologischen oder moralischen Risiken wider. Märkte wissen nicht immer alles. Und in einer Welt, in der alles zur Waffe werden kann, wie der britische Historiker Mark Galeotti es formuliert hat; in einer Welt, in der Rohstoffe und Technologie strategisch eingesetzt werden können; in dieser Welt ist auch die Wirtschaft in besonderer Verantwortung und muss ihren Blick auf die Welt und die Märkte neu ausrichten.

Ich weiß, viele Unternehmerinnen und Unternehmer in unserem Land haben längst reagiert und ihre Lieferketten robuster gemacht, oder sie sind dabei. Gerade der deutsche Mittelstand ist da wie immer vorausblickend und beweglich, innovativ und kreativ. Ich weiß auch: Managerinnen und Manager großer Kapitalgesellschaften müssen Kennzahlen und Börsenkurse im Blick haben. Sie können ihre Unternehmen nicht von heute auf morgen von den internationalen Märkten und russischer Energie abkoppeln, klimaneutral machen und sich zugleich aus autoritären Ländern zurückziehen.

Aber in dieser Zeit, in der die Welt in Unordnung geraten ist, müssen Unternehmerinnen und Unternehmer ihre Verantwortung breiter fassen. Sie können sich nicht allein danach richten, was rechtens ist. Sie müssen sich auch daran orientieren, was richtig ist: moralisch richtig, gesellschaftlich richtig und ökologisch verantwortbar.

Wenn wir die Zukunft der Globalisierung mitgestalten und unsere strategischen Abhängigkeiten klug ausbalancieren wollen, dann müssen wir natürlich China im Blick behalten. China steht nach außen in Loyalität zum russischen Angriffskrieg und seinen Zielen; es setzt im Innern immer mehr auf eine autoritäre Politik der Unterdrückung jeglicher Abweichung, und es tritt nach außen immer mehr wie ein globaler Hegemon auf. Es ist das erklärte Ziel von Präsident Xi Jinping, China unabhängig von der Welt und die Welt abhängig von China zu machen.

Wir wissen: Deutsche Schlüsselbranchen sind aufs Engste mit China verflochten und auf chinesische Absatzmärkte angewiesen. Fast jedes zweite deutsche Industrieunternehmen bezieht wichtige Teile oder Rohstoffe aus China; mancher Autohersteller verkauft jedes dritte produzierte Fahrzeug in die Volksrepublik. Zugleich hat auch China großes Interesse an europäischen Kunden, Fähigkeiten, Technologien und Investitionen. Wir können deshalb in Politik und Wirtschaft selbstbewusst gegenüber China auftreten, und wir müssen Verhandlungsspielräume nutzen, um uns für Klimaschutz, Menschenrechte und unsere existenziellen wirtschaftlichen Interessen einzusetzen!

Wir wissen aber auch: Auf manchen strategisch wichtigen Feldern ist unsere Abhängigkeit von chinesischen Rohstoffen deutlich größer, als unsere Abhängigkeit von russischem Gas in den vergangenen Jahren. Das betrifft pharmazeutische Produkte – bis zu achtzig Prozent aller Wirkstoffe für Medikamente kommen aus China. Und es betrifft insbesondere Technologien, die für die Energiewende ebenso unverzichtbar sind wie für die Mobilitätswende. Für den Bau von Solaranlagen, Motoren für Elektroautos und Windgeneratoren brauchen wir Metalle der seltenen Erden – Neodym ist nur eine davon –, die wir in der Europäischen Union zu fast hundert Prozent importieren und die fast ausschließlich aus China kommen.

Wenn wir uns von Gas, Öl und Kohle aus Russland unabhängig machen und Klimaneutralität erreichen wollen, dann müssen wir die Produktion von Elektrofahrzeugen, von Wind- und Sonnenenergie jetzt noch schneller und entschiedener ausbauen – aber wir müssen dabei zugleich unsere Abhängigkeit von China im Blick behalten und nach Möglichkeiten suchen, Metalle der seltenen Erden auch und ergänzend aus anderen Quellen zu beziehen, sie zu recyclen oder zu ersetzen.

Ja, China ist ein riesiger Absatzmarkt, ein strategischer Lieferant, ein wichtiger Partner – und das wird auf absehbare Zeit auch so bleiben. Aber, das ist mein Plädoyer, weder China noch ein anderes Land darf auf Dauer der jeweils einzige Partner bei Energie, Vorprodukten und Rohstoffen sein! Wir müssen dafür sorgen, dass wir in Zukunft von keinem Land der Welt erpresst werden können. Deshalb müssen wir jetzt neue Partner finden und unsere politischen und wirtschaftlichen Beziehungen neu justieren – und zwar mit Weitsicht, Mut und Verantwortungsbewusstsein!

Ich war vor einigen Tagen in Singapur und Indonesien. Es war meine erste lange Überseereise nach zweijähriger Corona-Pause. Beide Länder streben nach fairem regelgebundenem Welthandel, sind an grenzüberschreitender Zusammenarbeit interessiert, engagieren sich in internationalen Gremien, so wie wir. Beide Länder haben den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine verurteilt – auch weil sie selbst, wie auch andere Länder im indopazifischen Raum, den Druck einer zunehmend aggressiven Großmacht spüren. Und beide, Singapur und Indonesien, kämpfen – wie ganz Südostasien – gegen ihren gefährlichsten Feind, die Klimakrise.

Ländern wie diesen müssen wir uns entschlossener zuwenden! Wir müssen in Asien, Afrika und Lateinamerika neue Märkte und neue Rohstoffquellen erschließen und politische Beziehungen entweder neu einrichten oder da, wo sie bestehen, erheblich intensivieren. Wir haben hier das Potenzial zur Zusammenarbeit bei Weitem nicht ausgeschöpft. Was wir dabei anstreben sollten, ist eine pragmatische Kooperation. Gerade auf afrikanische Länder sollten wir mit einer neuen Haltung zugehen. Statt diese Länder als hilfsbedürftige Mündel anzusehen, sollten wir sie endlich als das anerkennen, was sie sind: wichtige Partner, die uns in der Zukunft helfen können, in dieser neuen Welt zu bestehen.

Und wenn wir unsere Beziehungen neu ausrichten, dann sollten wir besonders um jene Länder werben, die sich keinem Lager zugehörig fühlen, die in der sich verschärfenden Konfrontation zwischen den liberalen Demokratien und den autoritären Regimen keine Partei ergreifen wollen, sondern neutral bleiben wollen, so wie es viele afrikanische, aber auch asiatische Staaten tun. Länder, die sich nicht als Teil des Westens verstehen, die aber wie wir ein Interesse daran haben, dass Weltwirtschaft und Welthandel auf festen Regeln beruhen – und dass alle Akteure bereit sind, sich an diese Regeln auch zu halten.

Vernetzung ausbauen, Verwundbarkeit abbauen – genau das muss die Maxime unseres Handelns sein und werden!

Deshalb brauchen wir auch ein Comeback der Freihandelsabkommen, aber wir brauchen ihr Comeback in anderer Gestalt. Freihandelsabkommen neuen Typs müssen Handels- und Nachhaltigkeitspolitik miteinander verschränken.

Die Rechtsordnung der Welthandelsorganisation bleibt weiterhin die beste Lösung. Aber solange diese Ordnung brüchig oder nicht akzeptiert ist, können Freihandelsabkommen in einem Meer der Unsicherheit Inseln der Rechtssicherheit schaffen.

Deshalb würde ich mir wünschen, dass Deutschland und die Europäische Union jetzt laufende Verhandlungen abschließen, neue Verhandlungen starten, bestehende Abkommen modernisieren und miteinander verknüpfen. Wir brauchen starke und gut geregelte Handelsbeziehungen zu Ländern wie Kanada – Ceta ist jetzt auf dem Weg –, den USA, Australien, Neuseeland, Mexiko, Chile und vielen anderen mehr. Denn wenn wir es nicht sind, die die Globalisierung mit ehrgeizigen Handelsabkommen gestalten, dann werden es andere tun – mit ihren eigenen, niedrigeren Standards!

Zum Schluss: Ja, die geopolitischen Veränderungen setzen auch das Modell der deutschen Volkswirtschaft erkennbar unter Druck. Wir werden uns in der Weltwirtschaft neu verorten müssen, und auch das wird auch zu Kosten und zu Belastungen führen. Im Moment deutet alles darauf hin, dass harte Jahre vor uns liegen, bis sich die Energiemärkte neu sortiert haben und die gestärkten Lieferketten wieder laufen.

Auf den Umbau unserer Volkswirtschaft hin zur Klimaneutralität waren wir mehr oder weniger vorbereitet. In der neuen Wirklichkeit seit dem 24. Februar hat der Kampf gegen den Klimawandel natürlich nichts an Dringlichkeit verloren, aber die Herausforderung, mit der Politik umzugehen hat, ist um ein Vielfaches größer geworden. Wir müssen die Energieversorgung für alle sicherstellen, wir müssen die Inflation bekämpfen, und wir müssen uns um die kümmern, die von der Wirtschaftskrise besonders hart getroffen werden.

Langfristig müssen wir uns in Deutschland und Europa neu aufstellen; kurzfristig ist mutiger Pragmatismus gefragt. Das Gute ist: Wir können beides! Das haben wir uns schon mehr als einmal bewiesen. Wir haben schwere Krisen überwunden, wir haben die Kraft zu großen Erneuerungen und Veränderungen gehabt!

Vor zwanzig Jahren galt Deutschland als kranker Mann Europas, viele hatten unsere Industrie schon abgeschrieben, das Wachstum war schwach, die Arbeitslosigkeit hoch. Damals ist es uns in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft gemeinsam gelungen, das vermeintliche Auslaufmodell Deutschland zurück an die Weltspitze zu führen – auch und gerade dank vieler tatkräftiger Modernisierer in den Unternehmen!

Heute, gerade in dieser Zeit, in der sich Unsicherheiten und Gefahren wie dunkle Wolken vor uns auftürmen, sollten wir uns darauf besinnen, was uns in Deutschland stark macht und worauf wir bauen können.

Demokratie und Rechtsstaat; soziale Marktwirtschaft, freie Wissenschaft, Meinungsfreiheit und eine vielfältige Gesellschaft; Erfindergeist, technologische Exzellenz, Verlässlichkeit und Beweglichkeit; nicht zuletzt – sage ich gerne hier in Hamburg – nicht zuletzt Weltoffenheit und der Wille zur Kooperation – all das macht unser Land stark, all das macht uns attraktiv für die Welt, und all das sollte uns in Deutschland Mut machen, gemeinsam für eine bessere und friedlichere Zukunft einzutreten, in der Politik ebenso wie in der Wirtschaft!

Gerade in der internationalen Politik und im Welthandel sollten wir wieder mehr auf die Anziehungskraft unseres eigenen Erfolgs vertrauen. Es spricht sich doch herum, dass unser Modell des demokratischen Rechtsstaats und der sozialen Marktwirtschaft eben nicht nur Wohlstand schafft, sondern Wohlstand in Freiheit, Würde und Selbstbestimmung ermöglicht. Genau danach, nach Demokratie und Prosperität, sehnen sich Millionen Menschen rund um den Globus, und ich bin mir sicher: Danach sehnen sich auch Millionen von Menschen in Russland und in China!

Warum sonst zieht es kluge und kreative Köpfe aus der ganzen Welt hin zu den liberalen Demokratien? Ich bin überzeugt und bleibe überzeugt, im Wettbewerb der Regierungsformen wird sich das Modell durchsetzen, das Menschen aller Nationen und Weltregionen etwas zu bieten hat. Der autoritäre Nationalismus, der nur den Systemtreuen und Regierungsfreunden nützt, dem Rest der Menschheit aber einen Schrecken einjagt, dieser autoritäre Nationalismus wird scheitern! Das darf unsere selbstbewusste Überzeugung sein.

Vor hundert Jahren, als der Übersee-Club gegründet wurde, warben die Mitglieder hier in Hamburg für den Aufbruch in ein neues Zeitalter – ein Zeitalter der Weltoffenheit, des Friedens, des Rechts, der Freiheit und des Wohlstands. Wir wissen, ihre Ideen für eine liberale Neuordnung der Welt setzten sich damals nicht dauerhaft durch, ihre Hoffnung sollte sich erst viele Jahrzehnte später erfüllen. Aber die Geschichte hat ihren Überzeugungen recht gegeben, und sie tut es bis heute!

Gerade jetzt, wo Krieg und Krisen die Welt ins Chaos zu stürzen drohen, brauchen wir Vernetzung und Austausch über die Grenzen hinweg. Gerade jetzt brauchen wir den Übersee-Club. Ihnen und Ihrem Verein alles Gute zum Hundertsten. Herzlichen Glückwunsch und vielen Dank!