Libori-Mahl zum 500. Jubiläum des Libori-Festes

Schwerpunktthema: Rede

Paderborn, , 24. Juli 2022

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 24. Juli die Festrede beim Libori-Mahl zum 500. Jubiläum des Libori-Festes in Paderborn gehalten: "Wahrscheinlich gibt es wenige Orte in der Mitte Deutschlands, wo die Beziehung zwischen Frankreich und Deutschland und deren Bedeutung für Europa so lebendig im Bewusstsein ist wie hier in Paderborn. Und wo die alte Beziehung immer wieder erneuert worden ist."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält beim Libori-Mahl eine Rede zum 500. Jubiläum des Libori-Festes in Paderborn

Der französische Historiker Georges Duby beschrieb das Abendland des Jahres tausend so: Sehr wenig Menschen – einsame Gegenden, […] Brachland, Sümpfe, unstete Flussläufe, […] hier und dort Lichtungen, einmal erobertes, doch nur halbwegs gezähmtes Land, leichte kümmerliche Furchen […] auf dem widerspenstigen Boden […], ab und an […] eine städtische Siedlung, […] eine recht und schlecht ausgebesserte Einfriedung, Steinbauten aus der Zeit des Imperiums, die in Kirchen oder Zitadellen verwandelt worden sind; in ihrer Nähe ein paar Dutzend Hütten […], schmale Pfade, […] kleine Barkenverbände auf allen Wasserläufen. […] Das ist das Abendland im Jahre tausend. In seiner Ländlichkeit wirkt es gegen Byzanz oder Cordoba sehr arm, sehr mittellos. Eine wilde Welt, eine Welt in den Fängen des Hungers.

So müssen wir uns den Zustand der Welt vorstellen in jener Zeit, als die Reliquien des Liborius von Le Mans hierher nach Paderborn überführt wurden. Diese Welt lebte in Angst, schrieb der Historiker Duby: in Angst vor dem Hunger, vor marodierenden Heeren und Banden, vor unbarmherzig Herrschenden – im Grunde vor jedem neuen Tag.

In dieser Zeit war es den Menschen ein Trost, wenn sie glauben konnten, dass wenigstens ihre Beziehung zum Überirdischen intakt war, zu den schicksalsbestimmenden Mächten des Himmels, zu Gott. Da man sich aber Gott wie einen fernen Lehnsherrn dachte, war es wichtig, mächtige, wirksame Fürsprecher zu haben.

Diese Fürsprecher, diese Vermittler zwischen der unerlösten irdischen Existenz und dem so unendlich weit entfernten Ewigen sah man in den Heiligen. Auch die hatten ja, wie die armen Seelen der jeweiligen Gegenwart, in diesem Jammertal der Welt gelebt, waren aber jetzt durch ihr gottgefälliges Leben oder durch ihr Martyrium besonders nah bei Gott und konnten so zwischen den Gläubigen und dem Schöpfer vermitteln. Die Heiligen waren gleichsam Lobbyisten im Vorzimmer der himmlischen Mächte.

Wir können uns von der Macht dieser Vorstellung kaum ein zureichendes Bild machen. Und deswegen können wir auch kaum abschätzen, wie unendlich bedeutsam es war, die irdischen, körperlichen Überreste solcher Heiliger ganz nah zu haben, also Reliquien.

Reliquien waren mit das Kostbarste, was eine Gemeinschaft, was ein Kloster, eine Stadt, ein Land überhaupt besitzen konnte. Eine Kirche ohne Reliquien war praktisch undenkbar. Deswegen waren sie so notwendig wie begehrt, sie waren Objekte des freundschaftlichen Tauschs, des Handels, gelegentlich auch wichtige Beute bei Kriegszügen. Je bedeutender die Heiligen waren, desto mächtiger stellte man sich die Wirkung ihrer Reliquien vor.

Und so war im neunten Jahrhundert die Überbringung von Reliquien des Heiligen Liborius von Le Mans nach Paderborn ein Ereignis von tatsächlich herausragender Bedeutung. Es ging darum, den Glauben in den östlichen Gebieten des noch ungefestigten Reiches zu stärken. Heute würde man sagen: eine typische Mischung aus politischen, religiösen und populären Motiven. Damals stärkten solche Gaben nicht nur den Glauben, sie festigten bestehende Herrschaft. Dass daraus eine der ältesten Städtefreundschaften der Welt entstand, zeigt, wie bedeutend und folgenreich diese Überbringung war – in einer Zeit übrigens, der die Begriffe Deutschland und Frankreich, wie wir sie heute verstehen, noch gänzlich fremd waren.

So schauen wir zurück auf die Ursprünge des Libori-Festes, zu dem jedes Jahr hunderttausende Besucher kommen – und erinnern uns daran, wie aus der armen, meist von Hunger und Not und Gewalt geprägten Welt jenes freie, friedliche und wohlhabende Europa wuchs, in dem heute zu leben wir das große Glück haben.

Dieses Europa beruht zum großen Teil auf christlichen – und genau darum übrigens auch auf jüdischen – Fundamenten. Es beruht auf dem Glauben, letztlich in einer guten, dem Menschen dienlichen Schöpfung zu leben. Es beruht auf dem Glauben, dass uns diese Schöpfung zu treuen Händen übergeben wurde, um daraus das Beste für alle zu machen. Es beruht auf dem Glauben, dass Barmherzigkeit, Solidarität, Nächstenliebe keine Zeichen von Schwäche, sondern von großer moralischer Stärke sind. Es beruht auf dem Glauben, dass jeder Einzelne für seine Taten und für seine Unterlassungen in seinem Gewissen und vor seinem Schöpfer verantwortlich ist.

Diese Überzeugung verbindet uns über mehr als tausend Jahre hinweg mit den Menschen, die noch mit eigenen Augen die Ankunft der Gebeine des heiligen Liborius aus Le Mans hier in Paderborn gesehen haben.

Wir wissen: Es hat nie eine gerade Linie von den christlich geprägten Grundüberzeugungen zum faktischen Handeln gegeben. Immer wieder hat es schreckliche Verirrungen und Verbrechen gegeben und Perversionen dieser guten und heilsamen Ursprünge. Die Kreuzzüge, die Ketzer- und Hexenverfolgungen, die Kriege, sogar im Namen der Religion, die Unterdrückung abweichender Meinungen, Haltungen und Lebensweisen, die Unterdrückung von Frauen, der Sklavenhandel, der Mord an den europäischen Juden, all das sind Zeugnisse der Schande und des Verrats.

Und deswegen gehört zur europäischen Geschichte die immer wieder notwendige Neubesinnung auf Europas gute geistige Wurzeln, auf seine menschenwürdigen Fundamente. Oft genug mussten – etwa in der Aufklärung und in den verschiedenen sozialen Bewegungen bis heute – die Wurzeln und die ursprünglich im Christentum angelegten Begründungen der Menschenrechte gegen die amtlichen Vertreter des Christentums durchgesetzt werden. Immer wieder musste die Bergpredigt oder das Gleichnis vom barmherzigen Samariter gegen die Kirche selbst in Erinnerung gerufen werden.

Wenn wir heute vor einer großen neuen Herausforderung stehen, wenn wir angesichts des verbrecherischen Krieges, den Russland gegen die Ukraine führt, davon sprechen, dass da auch ein Krieg geführt wird gegen die oft so genannten westlichen Werte, dann müssen wir uns über eines klar sein: Werte werden nicht durch eine von vier Himmelsrichtungen gekennzeichnet. Werte sind weder östlich noch westlich. Werte werden bestimmt durch bewährte Überzeugungen, durch die Erfahrung, dass durch sie für möglichst alle ein gutes gemeinsames Leben möglich wird, dass durch sie die Schwachen geschützt und die Chancen aller auf ein erfülltes Leben gestärkt werden – und auch durch die Erfahrung, wie schrecklich es für alle ist, wenn diese Werte missachtet werden.

Dieser Krieg Russlands gegen die Ukraine verletzt alles, was wir für das Zusammenleben von Menschen auf diesem Kontinent noch vor Jahren sowohl in West wie in Ost als fundamental betrachtet haben. Er bringt millionenfaches Leid über die Ukraine, Zehntausende sind Opfer brutaler Waffengewalt geworden, Städte zerstört, Millionen haben ihre Heimat verlassen müssen, sind zur Flucht ins Ausland gezwungen, sind in Angst um diejenigen, die zurückgeblieben sind.

Russland stellt nicht nur Grenzen infrage, es besetzt nicht nur Territorien eines selbständigen, souveränen Nachbarstaates und bestreitet sogar die Staatlichkeit der Ukraine. Zugleich vernichtet Putin eine europäische Sicherheitsarchitektur, für die viele Generationen nach der Erfahrung zweier blutiger Weltkriege im vergangenen Jahrhundert gearbeitet haben und die mit der Schlussakte von Helsinki vor fünfzig Jahren Hoffnung auf dauerhaften Frieden in Europa geschaffen hat.

Ich befürchte, wir kehren zurück in eine Zeit, von der wir glaubten, sie hinter uns gelassen zu haben: eine gegenseitige Abschottung zwischen Ost und West. Die Jüngeren mögen die Wiederkehr des Kalten Krieges für keine besondere Katastrophe halten; die Älteren wissen noch um die Fragilität und Gefährlichkeit des Zustandes – besonders für die Menschen in Europa.

Aber in diesen Tagen geht es noch um mehr: Der Krieg, den Putin gegen die Ukraine führt, ist auch ein Krieg gegen die Einheit Europas. Wir dürfen uns nicht spalten lassen, wir dürfen das große Werk eines einigen Europa, das wir so vielversprechend begonnen haben, nicht zerstören lassen. Es geht in diesem Krieg nicht allein um das Territorium der Ukraine, es geht um den im doppelten Sinne gemeinsamen Grund unserer Werte und unserer Friedensordnung.

Wir werden dazu nur dann eine eindeutige Haltung an den Tag legen und uns über unsere eigene Verpflichtung klar werden, wenn wir uns sehr klar sind über das, was uns bestimmt und uns zusammenhält. Über die Werte, die wir als tragend erkennen und als belastbar erfahren haben für ein freiheitliches, gerechtes und menschliches Zusammenleben. Und wenn wir bereit sind, diese Werte zu verteidigen, wenn wir bereit sind, für ihre Geltung einzustehen und für sie auch empfindliche Nachteile in Kauf zu nehmen.

Sind wir dazu bereit? Vor dieser Frage stehen wir alle – heute und in den kommenden Tagen, Wochen und Monaten. Vielleicht hilft uns bei den Entscheidungen, die wir alle zu treffen oder mitzutragen haben, wenn wir uns daran erinnern, welch weiten Weg wir in unserem Teil Europas gehen mussten seit den Tagen der Übertragung der Gebeine des heiligen Liborius hierher nach Paderborn. Über diese Zeit hatte ja Georges Duby geschrieben: Diese Welt lebte in Angst. Und diese Welt hatte etwas gefunden, das Stück für Stück, im Laufe der Jahrhunderte, diese Angst überwinden oder zumindest kleiner machen konnte. Dahinter sollten wir nicht zurückstehen, sondern gemeinsam suchen und finden, was diese Angst, die wir auch heute immer wieder spüren, immer neu in Stärke und Kraft verwandeln kann.

Europas Stärke, Europas Wertegemeinschaft, Europas Glück und Europas Zukunft hängt zu einem großen Teil von der Partnerschaft, ja der Freundschaft zwischen Deutschland und Frankreich ab.

Wer hätte das für möglich gehalten, gerade in den beiden vergangenen Jahrhunderten? Wer hätte das für möglich gehalten etwa 1806, als Napoleon nach der Schlacht bei Jena und Auerstedt in Berlin eingeritten ist, oder 1870/71, als sich das Deutsche Kaiserreich durch einen Krieg gegen Frankreich konstituieren wollte, oder 1914/18, als hunderttausende Soldaten vor Verdun und anderswo verbluteten, oder 1940 oder 1945?

Es waren zwei gläubige Christen, zwei Katholiken, General Charles de Gaulle und Bundeskanzler Konrad Adenauer, die bei einer Messe in der Kathedrale zu Reims, dem alten Krönungsort der französischen Könige, sich und ihre Landsleute an ihre letztlich unzerstörbaren gemeinsamen Wurzeln erinnerten und endlich symbolisch die sogenannte Erbfeindschaft zwischen Deutschland und Frankreich beendeten – jene Feindschaft, die im historischen Maßstab, denken wir an die tausend Jahre alte Beziehung zwischen Le Mans und Paderborn, doch eher kurz war. Unvergessen in diesem Zusammenhang die Rede von Charles de Gaulle an die deutsche Jugend – auf Deutsch! –, die er vor fast genau sechzig Jahren gehalten hat.

Wahrscheinlich gibt es wenige Orte in der Mitte Deutschlands, wo die Beziehung zwischen Frankreich und Deutschland und deren Bedeutung für Europa so lebendig im Bewusstsein ist wie hier in Paderborn. Und wo die alte Beziehung immer wieder erneuert worden ist.

Ich denke heute beispielhaft an einen Priester aus dem Erzbistum Paderborn, Franz Stock, der in Paris Theologie studiert hatte. Als Wehrmachtspfarrer in Frankreich hat er sich dann aufopferungsvoll um französische Kriegsgefangene gekümmert, hat selber hunderte zur Exekution verurteilte Kämpfer der Résistance begleitet. Als er selber nach der Kapitulation Kriegsgefangener war, hat er bei Chartres ein großes Priesterseminar unter Gefangenen geleitet. Der Abbé Stock, wie er dort heißt, wird noch heute in Frankreich in hohen Ehren gehalten; schon 1949 fand eine Gedenkfeier für ihn im Invalidendom statt – zum ersten Mal überhaupt für einen Deutschen. Und sogar der Platz vor der Gedenkstätte des französischen Widerstands gegen die deutsche Besatzung auf dem Mont Valérien ist nach ihm benannt. Der damalige Nuntius in Frankreich, der den früh verstorbenen Seelsorger 1948 beerdigte, Angelo Roncalli, der spätere Papst Johannes XXIII., hat über ihn gesagt: Abbé Stock, das ist kein Name, das ist ein Programm.

Es war und es ist wie immer: Wo vieles zerstört wird und alles in Trümmern liegt, wo vieles nicht mehr selbstverständlich ist, da sind es Einzelne, die das gute Werk wieder aufnehmen und weiterführen und eine bessere Zukunft für viele, für uns alle eröffnen.

Ob der Abbé Stock; ob so viele, die dann im deutsch-französischen Jugendwerk eine Ahnung von der Bedeutung Frankreichs und Deutschlands für Europa bekommen haben; ob Mitglieder in der Deutsch-Französischen St. Liborius-Fraternität, hier in Paderborn und in Le Mans; ob Publizisten, wie der gerade verstorbene Johannes Willms, der uns etwa durch Biographien Napoleons oder Charles de Gaulles unser westliches Nachbarland nahegebracht hat; ob so viele, die französische Literatur lesen, französische Chansons hören, französische Filme lieben: Alle hatten und haben Anteil daran, dass der Frieden und die Freundschaft zwischen Frankreich und Deutschland lebendig bleiben und dass diese Freundschaft weiter dazu beiträgt, ein einiges Europa zu bauen.

Europa ist, wie wir hier in Paderborn beim Libori-Fest immer wieder erfahren, unsere reiche Vergangenheit. Europa muss auch unsere gemeinsame gute Zukunft sein.