60 Jahre Stiftung Wissenschaft und Politik

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 7. September 2022

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei der 60-Jahr-Feier der Stiftung Wissenschaft und Politik am 7. September in Berlin eine Rede gehalten: "Bewahren wir uns den Mut, in der Unübersichtlichkeit der Welt die Unterschiede zu sehen, und schützen wir uns vor der Versuchung, auf die komplexen Fragen der Zeit Antworten zu geben, die allzu einfach sind."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache bei der 60 Jahresfeier der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin

Ich freue mich, Ihnen heute zum sechzigsten Geburtstag der Stiftung Wissenschaft und Politik gratulieren zu dürfen! Fast die Hälfte dieser Zeit, knapp dreißig Jahre, begleite ich den Weg der SWP, aus unterschiedlichen Rollen und Perspektiven heraus, aber immer mit großer Sympathie und Verbundenheit. Und weil wir uns so lange kennen, erlaube ich mir, gleich zu Beginn zu sagen: Gäbe es die SWP nicht, man müsste sie heute spätestens erfinden.

Besonders intensiv haben sich unsere Wege vor etwa einem Vierteljahrhundert gekreuzt. Das Parlament und die Regierung waren im Sommer 1999, als auch ich nach Berlin kam, überwiegend von Bonn nach Berlin umgezogen. Ich wurde quasi mit dem Umzug Chef des Bundeskanzleramtes und damit formell zuständig für die SWP. Aber nicht nur das; gleichzeitig war ich als Verantwortlicher für die Nachrichtendienste von da an mit nahezu allen außenpolitischen Konflikten beschäftigt, vom Balkan bis zum Nahen und Mittleren Osten, von A bis Z, von Afghanistan bis Zypern. In diesen Jahren habe ich den Rat der SWP früh schätzen gelernt und enge Bande mit Ihrem damaligen Chef Christoph Bertram geknüpft.

Nicht ganz einfach waren allerdings unsere Gespräche darüber, welcher Ort der richtige für die Arbeit der SWP sei. Die Außenpolitik hatte sich durch die deutsche Wiedervereinigung, das Ende des Ost-West-Konflikts, durch die Balkankriege erheblich geändert. Deutschland war außenpolitisch erwachsen geworden. Diesem neuen Status musste unsere Außenpolitik gerecht werden, das war natürlich die Aufgabe der Regierung – aber dafür brauchte sie Beratung. Und zwar Beratung nicht nur durch kluge Studien, sondern durch kluge Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner am Ort der Entscheidungen, also hier in Berlin. Kaum lag der Regierungsumzug hinter uns, war erneut Beschäftigung mit einem Umzug angesagt – mit dem der SWP von Ebenhausen nach Berlin, aus Bayern hierher in die Hauptstadt.

Es ging uns, es ging mir darum, hier am Sitz der Bundesregierung etwas, was uns fehlte, nämlich eine außen- und sicherheitspolitische Community zu schaffen und zu etablieren und vorhandene, bisher über die ganze Republik verstreute Expertise zu bündeln. In Ebenhausen, das habe ich in guter Erinnerung, gab es dafür – verständlicherweise – nicht nur Beifall. Ich erinnere mich, dass manchen die räumliche Nähe zur Regierung als Gefahr für die Unabhängigkeit der Forschung galt, anderen der Umzug ins Preußische schlicht ein Graus war.

Jedenfalls war ich damals überzeugt und bin es noch heute: Die Entscheidung für Berlin war richtig und notwendig. Als wir dann dieses wunderbare Gebäude mitten in Berlin, am schönen Ludwigkirchplatz für die SWP gefunden hatten, ebbte der Widerstand gegen den Umzug auch spürbar ab. Ich möchte auch im Rückblick noch einmal Christoph Bertram und seiner damaligen Mannschaft danken, die diese so entscheidende Phase für die Entwicklung der SWP und für die Berliner außenpolitische Community gestaltet haben.

Die SWP hat sich in der Folgezeit hier in Berlin prächtig entwickelt. Sie alle waren bald regelmäßige Gesprächspartnerinnen und -partner für Abgeordnete, Regierung und wachsend auch für Medien, Sie veranstalteten wichtige Hearings und Konferenzen – und das spiegelte sich auch im Mittelaufwuchs für die SWP im Bundeshaushalt wider.

Aber natürlich stand die Welt nicht still. Die Forschung zu außenpolitischen Themen orientiert sich selbstredend immer auch an den Konflikten dieser Welt, und diese wurden, wie wir alle wissen, nicht weniger. 9/11 hat die Bedrohung durch den islamistischen Terror auf grausame Art und Weise in den Vordergrund der Außen- und Sicherheitspolitik gerückt. Das Engagement Deutschlands in Afghanistan seit 2001 und der Beginn des Irak-Krieges 2003 haben unsere außenpolitischen Parameter nicht nur marginal verschoben – vielmehr rückten neue Weltregionen in den Fokus, neue Positionierungen waren notwendig.

Sachverstand für die arabische Welt war überall gefragt, und mit dem Blick von heute ist es keine Überraschung, dass 2005 mit Volker Perthes ein Experte für den Nahen und Mittleren Osten und die arabische Welt die Nachfolge von Christoph Bertram in der Institutsleitung antrat. Ich erinnere mich gerne an unzählige Begegnungen in meiner Amtszeit als Außenminister mit den Experten der SWP zu Entwicklungen im arabischen Raum, insbesondere zum Irak, zu Syrien und zur Maghreb-Region. Wir haben intensiv Analysen und Perspektiven debattiert, sind gemeinsam gereist, und ich habe sehr von Ihrem Rat und Ihrer Expertise profitiert.

Dann die Trump-Jahre in den Vereinigten Staaten, der Brexit, der russische Krieg gegen die Ukraine: All das hat wieder eine völlig neue außen- und sicherheitspolitische Lage geschaffen. Mit Stefan Mair hat die SWP jetzt einen erfahrenen Kapitän auf der Brücke, der das Ebenhausener Idyll noch kennt, und der – nach Ausflügen in die Wirtschaft – 2020 zu seinen Ursprüngen zurückgekehrt ist. Darüber freue ich mich, denn Sie sind wahrlich ein kluger Ratgeber, wo auch immer: in Berlin oder, wie schon häufiger, gemeinsam unterwegs in der Welt.

Dass die SWP es dabei versteht, die Grenze zu ziehen zwischen notwendiger Politikberatung und unzulässiger Einflussnahme, das hat Ihr ehemaliger Präsident, Christoph Bertram, als hygienischen Abstand zur Politik“ bezeichnet. Sie haben die Ethik der wissenschaftlichen Politikberatung hier in diesem Haus, in diesem Institut seit langen Jahrzehnten verinnerlicht.

Nähe zur Politik und Unabhängigkeit Ihrer Forschung sind eben – entgegen mancher anfänglichen Skepsis – kein Widerspruch. Sie liefern natürlich keine fertigen Lösungen, sondern Expertisen, machen historische Linien sichtbar, zeigen Entscheidungsoptionen auf. Dabei verbinden Sie die Gründlichkeit der Forschenden mit Ihrem Wissen um die so oft nötige Schnelligkeit der Politik. Dass die Menschen in unserem Land so oft – und erst recht jetzt in Zeiten des Krieges – Ihre Expertisen, die Analysen und Schlussfolgerungen der SWP in den Nachrichten sehen, hören und lesen, dafür können eigentlich alle außenpolitischen Akteure dieser Republik dankbar sein. Denn Außenpolitik ist eben bei Weitem nicht nur Diplomatie in kleinen Runden, sondern bedarf in einer Demokratie der öffentlichen Debatte.

Russlands brutaler Angriffskrieg gegen die Ukraine hat diese Debatte noch einmal dramatisch verändert. Der 24. Februar dieses Jahres markiert einen Epochenbruch. Die Rückkehr des Krieges nach Europa hat uns vor Augen geführt: Wir müssen wehrhaft sein, nicht nur in der Theorie, auch in der Praxis. Denn Putins Krieg ist auch ein Angriff auf den Frieden in ganz Europa, auch auf unsere liberale Demokratie, unsere Werte, unsere Gesellschaften. Russland setzt Gas als strategische Waffe ein, attackiert unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt und den sozialen Frieden in unserem Land.

Dass mit dem 24. Februar eine in fünf Jahrzehnten, seit der Schlussakte von Helsinki gewachsene europäische Friedensordnung unumkehrbar zerstört ist, das ist mittlerweile Alltagswissen. In der Erinnerung an Michael Gorbatschow in diesen Tagen wurde uns – natürlich neben der Dankbarkeit für seine Verdienste um die Deutsche Einheit – ebenso eindringlich bewusst, dass sein Traum vom gemeinsamen Haus Europa vermutlich unwiederbringlich in Trümmern liegt.

Was aber folgt daraus? Der von Russland ausgehenden Konfrontation können und dürfen wir nicht ausweichen. Wir müssen sie annehmen, wenn wir Freiheit und Demokratie bewahren wollen. Wir müssen wehrhafter werden. Und wir müssen die Ukraine mit ganzer Kraft unterstützen: finanziell und humanitär, militärisch und politisch. Dass auf diese Unterstützung Deutschlands Verlass ist und bleibt, das habe ich dem ukrainischen Ministerpräsidenten am vergangenen Sonntag versichert. Und gerade hat sich der ukrainische Parlamentspräsident angekündigt in wenigen Tagen; ich werde es ihm in gleicher Weise sagen.

Was aber, und das ist die entscheidende Frage für Sie hier in einem Forschungsinstitut, was bedeutet dieses Zeitalter der Konfrontation für die deutsche und europäische Außenpolitik der Zukunft?

Die Vorstellung von kooperativer Sicherheit in Europa ist Geschichte. Auf Sicht gibt es keine Rückkehr dahin. Aber was ist mittel- und langfristig die Alternative? Schwer zu sagen. Nur eins ist sicher: jedenfalls nicht weniger, sondern mehr Außenpolitik. Denn gerade in Zeiten von wachsender Konfrontation und Konkurrenz – und dabei denke ich natürlich auch die komplizierter werdenden Beziehungen zu China – sind die Risiken von gefährlicher Zuspitzung enorm, wenn nicht sogar erwartbar.

Das bedeutet: Auf Konflikt und Konfrontation müssen wir uns vorbereiten, ganz sicher mit Stärke. Wir brauchen eine moderne, gut ausgerüstete Bundeswehr, eine stärkere europäische Säule in der NATO. Wir werden auch auf Möglichkeiten wirtschaftlicher Druckentfaltung nicht verzichten können. Aber nach meiner Auffassung wird und darf die Gestaltung internationaler Beziehungen – gerade der komplizierten – nicht dauerhaft darauf reduziert bleiben. Gerade in einer stärker konfliktbehafteten Welt brauchen wir dringend neue Ideen und neue Instrumente der Eskalationsbegrenzung.

In einer Welt der vielfachen Interdependenzen, einer Welt, in der die Autorität gewachsener internationaler Organisationen schwindet, einer Welt, die sich auf alte und neue Machtzentren neu ausrichtet, in der die Demokratien des liberalen Westens den Einflusssphären Russlands und Chinas gegenüberstehen – in einer solchen Welt ist die Gefahr der Aufschaukelung von regionalen zu globalen Konflikten deutlich gewachsen. Wie ich es gerne sage: Die Wege zu einem Eskalationsautomatismus sind kürzer geworden. Hier Voraussetzungen zu schaffen, die Eskalationsgeschwindigkeiten zu reduzieren, Mechanismen zu entwickeln, die einen Eskalationsautomatismus vermeiden, das wird mittelfristig zu den großen Aufgaben gehören, über die wir nachdenken müssen. Das dazu notwendige Denken, auch jenseits und über den aktuellen Konflikt hinaus, ist jede Anstrengung wert. Und wer wäre dazu unter den Thinktanks besser geeignet als Sie, die SWP?

Vor dem Morgen kommt das Heute, und for the time being ist für mich klar: Wir müssen uns weniger verwundbar machen. Wir dürfen nicht erpressbar sein. Wir müssen auch unsere Volkswirtschaft widerstandsfähig machen, wir müssen uns teilweise auch ökonomisch neu ausrichten.

Gleichzeitig ist es unmöglich, ein derart vernetztes Land wie Deutschland, dessen Wohlstand über Jahrzehnte als Exportnation über den freien Austausch von Waren erwirtschaftet wurde, oder gar die Europäische Union als autarke Gebilde zu denken. Ich glaube ja auch, wie viele es jetzt sagen und schreiben: Der Hype der Globalisierung ist vorbei. Es gibt ein gewisses wachsendes Verständnis dafür, dass wir mehr Regeln brauchen, aber das, wovon manche träumen, dass die Rückabwicklung der Globalisierung zur Verfügung stehe, das wird nicht stattfinden und wäre auch nicht von Vorteil für uns.

Auch für uns bleibt es dabei: Wir brauchen wirtschaftliche Vernetzung auch über die europäischen Grenzen hinweg. Wir können unseren Wohlstand nur erwirtschaften, unsere Arbeitsplätze nur erhalten und auch unseren Beitrag für Europa nur leisten, wenn wir ein Industrie- und Exportland bleiben.

Wollen wir uns aus einseitigen Abhängigkeiten lösen, dann müssen wir viele neue Partner gewinnen – und auf diese Weise unsere Verwundbarkeit verringern. Wir werden den Zugang zu Märkten und Rohstoffen weiter brauchen. Zugespitzt und mit anderen Worten: Als ein im Weltmaßstab ja doch eher kleines, jedenfalls ressourcenarmes Land leben wir und werden wir in und von Abhängigkeiten leben. Darüber werden wir nicht so einfach hinwegkommen. Deshalb dürfen wir nicht nur darüber diskutieren, wie wir von etwas wegkommen, sondern wir müssen auch klären, wo wir stattdessen hinwollen, genauer gesagt, wo wir eigentlich andocken können. Und das Mittel, genau das zu tun, heißt Außenpolitik.

Wir alle haben in den vergangenen sechs Monaten erfahren, welche dramatischen Folgen es für die verflochtene Welt hat, wenn ein autoritäres Regime gegen alle Vernunft handelt. Ja, wir befinden uns in einer systemischen Auseinandersetzung. Aber wir befinden uns eben nicht in einer globalen Auseinandersetzung, die ein einfaches Wir gegen die ist. Es ist vermutlich etwas komplizierter und differenzierter zu sehen.

Weder ordnet sich die Welt rückwärts in ein System zweier antagonistischer Blöcke unter der Führung Russlands und den USA neu, noch ist China eindeutige Führungsmacht eines dritten Blocks. China steht auf der Seite des aggressiv-autoritären Russlands im Ukraine-Konflikt, ohne völlig identische Interessen mit Russland zu haben.

Entscheidender noch: Viele Staaten lassen sich keiner Seite der Konfrontation zwischen liberalen Demokratien und autoritären Regimen zuordnen. Sie wollen sich in kein Lager, in keine Schublade stecken lassen. Ich denke an Länder, die ich jüngst bereist habe, wie Senegal oder Indonesien. Es sind Länder, die sich nicht als Teil des Westens verstehen, die aber wie wir ein Interesse an verlässlichen Regeln, an wirtschaftlicher Entwicklung und Austausch haben, selbst wenn sie nicht vollständig unseren Wertekanon teilen. Solche Partnerschaften müssen wir ausbauen, und diese Partnerschaften prägen auch meinen Reisekalender – den, der hinter mir liegt, wie jetzt auch demnächst mit Mexiko und Mittelamerika, hoffentlich bald auch wieder Indien.

Auch wenn die Welt um uns herum in für überholt geglaubte Formate zurückzufallen scheint und nationale Egoismen in wirklich beunruhigender Weise stärker werden: Das ist dennoch nicht die Zeit für uns, in die Konkurrenz um schärfstes Schwarz-Weiß-Denken einzutreten. Meine Bitte ist: Bewahren wir uns den Mut, in der Unübersichtlichkeit der Welt die Unterschiede zu sehen, und schützen wir uns vor der Versuchung, auf die komplexen Fragen der Zeit Antworten zu geben, die allzu einfach sind.

Lieber Herr Mair, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stiftung Wissenschaft und Politik, bleiben Sie diejenigen, die nicht schwarz-weiß, sondern in Nuancen denken, wirken Sie mit Ihrem Weitblick an Debatten mit, seien Sie auf notwendige Art weiterhin kritisch und unbequem! Ich wünsche Ihnen von Herzen ertragreiche Forschung, eine an Ihrem Rat interessierte Politik und einen schönen Geburtstag.