Abendessen mit den Parlamentspräsidentinnen und -präsidenten der G7-Staaten

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 16. September 2022

Der Bundespräsident hat am 16. September bei einem Essen mit den G7-Parlamentspräsidentinnen und -präsidenten eine Rede in Schloss Bellevue gehalten: "Die Welt wird sich nicht wie früher komplett in zwei Blöcke aufteilen, auch wenn sich Demokratien und autoritäre Systeme gegenüberstehen. Und ich sehe derzeit nicht, dass unter Chinas Führung ein dritter Block entstünde. Vielmehr werden wir neue Kooperationsformen mit neuen Partnern finden müssen."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache beim Abendessen mit den Parlamentspräsidentinnen und -präsidenten der G7-Staaten im Großen Saal in Schloss Bellevue

Herzlich willkommen in Schloss Bellevue – es ist sehr schön für uns, für mich, dass Sie da sind als Repräsentanten jener Staaten, denen wir uns aufs engste verbunden fühlen, den G7-Staaten, und natürlich der Ukraine!

Wenn ich hier in die Runde blicke, sehe ich viele vertraute Gesichter: Manchen bin ich an unterschiedlichen Stationen und zu unterschiedlichen Zeiten meines Lebens begegnet. Wenn ich zurückdenke, Nancy Pelosi, sind wir uns schon vor rund zwanzig Jahren über den Weg gelaufen. Andere habe ich zu späteren Zeitpunkten getroffen In all diesen Jahren der Zusammenarbeit haben wir, haben auch schon unsere Vorgängerinnen und Vorgänger immer wieder Umbrüche erlebt und zu meistern gehabt.

Umbrüche, Transformationen in der politischen Entwicklung, sind etwas, was wir in den unterschiedlichen Weltregionen, in denen wir leben, durchaus unterschiedlich erleben. Wenn ich das für mich sagen darf und für die Lebensspanne, die ich überschaue und in der ich Politik machen durfte: Der größte Umbruch war für mich der Fall der Berliner Mauer, die Auflösung der Sowjetunion und die deutsche Wiedervereinigung.

Sie erinnern sich, welche Schriften in den Jahren 1989/90 erschienen sind, wie groß die Hoffnung war auf das Ende jeder Blockkonfrontation, auf den weltweiten Durchbruch der liberalen Demokratie! Heute wissen wir: Das berühmte Ende der Geschichte, von dem Francis Fukuyama geschrieben hat, es ist nicht eingetreten. Es kamen die Balkankriege in den 1990er Jahren, der internationale Terrorismus und 9/11, Afghanistan, Irak, Syrien, Libyen, die völkerrechtswidrige Annexion der Krim, der Atomkonflikt mit dem Iran – Geschichte ist eben nie zu Ende. Immer neue Konflikte haben in den letzten Jahren die Weltpolitik bestimmt.

Aber wenn ich darunter einen Strich mache: Keine Krise, kein Konflikt war so schwerwiegend wie Russlands Angriff auf die Ukraine. Der 24. Februar markiert einen Epochenbruch. Wofür wir alle – auch im Rahmen der G7 – gearbeitet haben, ist zerstört: Die in fünf Jahrzehnten, seit der Schlussakte von Helsinki, gewachsene europäische Friedensordnung. All die Bemühungen um einen Raum von gemeinsamer Sicherheit, zwischen Vancouver und Wladiwostok – alles zu Staub zerfallen. Putin hat die letzten Brücken des Dialogs, die letzten Pfeiler unseres Friedens in Europa, eingerissen. Und wir haben, das müssen wir bekennen, mit all unseren Anstrengungen, mit all unseren Bemühungen den 24. Februar nicht verhindern können.

Millionen Menschen in der Ukraine leiden unter Russlands brutalem Angriffskrieg. Putins imperialer Wahn zerstört das Leben der Ukrainerinnen und Ukrainer, aber nicht nur das Leben, auch das Land und die Lebensgrundlage der Menschen. Die Staaten der G7 unterstützen die Ukraine mit ganzer Kraft – finanziell, humanitär, politisch und militärisch. Und wir werden dies weiter tun – das habe ich letzte Woche dem ukrainischen Ministerpräsidenten Denys Schmyhal, der hier war, und heute Ruslan Stefanchuk noch einmal versichert.

Die Welt ist für die Ukraine eine andere, aber sie ist nicht nur für die Ukraine eine andere. Das gemeinsame Haus Europa, das dem gerade verstorbenen Michail Gorbatschow vorschwebte, es liegt in Trümmern, noch bevor es gebaut war. Die Vorstellung kooperativer Sicherheit ist Geschichte.

Die politische Landkarte in Europa hat sich verändert – grundlegend und nicht nur vorübergehend. Deshalb brauchen wir mittel- und langfristig nicht weniger, sondern mehr Außenpolitik, nicht weniger, sondern mehr Kooperation unter Gleichgesinnten. Gerade in Zeiten wachsender Konfrontation und Konkurrenz – und ich denke nicht nur an Russlands Krieg, sondern auch an unsere komplizierter werdenden Beziehungen zu China – gerade dann sind die Risiken der weiteren Zuspitzung enorm. Wir müssen uns auf weitere Konfrontation, auf weitere Konflikte vorbereiten. Und das bedeutet: Wir müssen wehrhaft sein, innerhalb der NATO, in der G7, und wir müssen auch in der Lage sein, wirtschaftlichen Druck zu entfalten.

Und gleichzeitig brauchen wir neue Ideen und neue Instrumente, um Eskalationen, die drohen, auch wieder begrenzen zu können! Wie wir es verhindern können, dass sich regionale Konflikte zu globalen Krisen aufschaukeln, wie wir Eskalationsgeschwindigkeiten reduzieren. An solchen Ideen und Konzepten müssen wir gemeinsam arbeiten – in unseren Parlamenten, innerhalb von EU und G7 und natürlich auch in und mit neuen internationalen Partnerschaften.

Ich bin überzeugt: Es wird keine Zurück-Taste geben, kein Reset in die Zeit vor 1990. Die Welt wird sich nicht wie früher komplett in zwei klar definierte Blöcke aufteilen, auch wenn sich überwiegend Demokratien und überwiegend autoritäre Systeme gegenüberstehen. Und ich sehe auch noch nicht, dass unter Chinas Führung schon so etwas wie ein klar definierter dritter Block entstünde.

Wir werden vielmehr neue Kooperationsformen mit neuen Partnern finden müssen. Wir wissen und müssen realisieren: Viele Staaten unserer Welt wollen sich nicht fest einem Block zuordnen lassen, sich keiner Seite der Konfrontation zwischen liberalen Demokratien und autoritären Regimen gänzlich zuwenden. Ich denke hier an Länder, die ich selbst gerade jüngst bereist habe, wie Senegal oder Indonesien, vielleicht auch Mexiko, wo ich in der nächsten Woche sein werde. Das sind Länder, die, wie die G7-Länder auch, ein Interesse an verlässlichen Regeln haben, an internationaler Kooperation, politisch wie wirtschaftlich.

Ganz in diesem Sinne sind unsere Länder zuletzt beim G7-Gipfel in Elmau nicht unter sich geblieben, sondern hatten Partnerländer eingeladen: Argentinien, Indien, Indonesien, Senegal und Südafrika. Es kommt jetzt darauf an, dass diese Partnerschaften immer mehr sind als Lippenbekenntnisse. Mit den Beschlüssen des G7-Gipfels von Elmau, mit den 600 Milliarden Dollar an Investitionen, die dort in Aussicht gestellt worden sind, da wird man sagen können: Das ist ernst gemeint, das ist kein Lippenbekenntnis.

Demokratien brauchen Partner – das gilt nach außen wie nach innen. Sie haben heute darüber diskutiert, wie wir unsere Demokratien durch politische Bildungsarbeit stärken und was Parlamente dazu beitragen können.

Natürlich können wir uns Demokratie nicht nur als eine Konsensbildungsmaschine vorstellen. Demokratie braucht Kontroversen. Und Ihre Parlamente sind genau der Ort dafür: Sie sind es miteinander, die mit Argumenten um die gerechteste Lösung streiten, die gesellschaftliche Konflikte und Verteilungsfragen zur Sprache bringen, die Interessen ausgleichen und, wo möglich, Kompromisse schmieden. Nirgendwo sonst als im Parlament, nirgendwo sonst treffen die unterschiedlichsten Positionen so konzentriert aufeinander, nirgendwo sonst können diese Kontroversen so intensiv geführt, nirgendwo sonst können am Ende solch breit legitimierte Entscheidungen getroffen werden.

Populistische Kräfte versuchen gerade in krisenhaften Zeiten, und nicht nur in Deutschland, Parlamente zu schwächen und die politische Debatte nicht mit Argumenten, sondern mit Falschinformationen, Desinformationen, Verschwörungstheorien oder gar mit Gewalt zu führen – gelegentlich auch mit russischer Unterstützung. Damit verlassen solche Parteien und Bewegungen unsere gemeinsame Basis des demokratischen und des parlamentarischen Streits, missachten unsere Werte von Respekt und Achtung voreinander, die wir in jeder Demokratie brauchen. Wir müssen den Gegnern der Parlamente, den Gegnern der Demokratie alle miteinander so früh es geht entschlossen entgegentreten. Starke Parlamente – und starke Parlamentarierinnen und Parlamentarier – sind es, die unsere Demokratien stark machen!

Ich bitte Sie nun, mit mir das Glas zu erheben: auf starke Demokratien, auf unsere Wehrhaftigkeit, nach innen und nach außen – und auf unsere vertrauensvolle Partnerschaft!