Besuch des Senats der Vereinigten Mexikanischen Staaten

Schwerpunktthema: Rede

Mexiko-Stadt/Mexiko, , 20. September 2022

Bundespräsident Steinmeier hat am 20. September bei einer Sitzung des Senats der Vereinigten Mexikanischen Staaten in Mexiko-Stadt eine Rede gehalten: "Wir wissen, dass wir dabei unsere demokratischen Grundwerte, Menschenrechte, auch den Rechtsstaat nach innen, in unseren Ländern, tagtäglich verteidigen müssen gegen Feinde, die die freiheitliche Ordnung herausfordern. Die Freiheit, die Demokratie, das Bestreben nach sozialer Sicherheit, die Verantwortung dafür, das alles eint uns."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei einer Rede vor dem Senat der Vereinigten Mexikanischen Staaten in Mexiko-Stadt

Wie schön ist es, endlich hier bei Ihnen zu sein! Gut zwei Jahre sind vergangen, seit die weltweite Corona-Pandemie mich gezwungen hatte, meinen lang geplanten Besuch hier in Mexiko zu verschieben. Als Freunde wollten wir damals zusammenkommen – und ahnten nicht, wie sehr sich in den darauffolgenden zwei Jahren die Welt verändern sollte. Unsere Freundschaft allerdings – und darüber bin ich sehr glücklich – hat sich nicht verändert.

Die Pandemie hat uns bewusst gemacht, wie eng die Nationen der Welt miteinander verflochten und vor allen Dingen, wie sehr wir aufeinander angewiesen sind. Diese Pandemie hat uns gezeigt, wie wichtig angesichts dieser Verflechtung der Austausch untereinander ist. Aber sie hat uns auch noch etwas anderes verdeutlicht: Die Welt, die uns geschenkt wurde, ist fragil. Um sie zu erhalten brauchen wir Freundschaften, die auf einem festen gemeinsamen Fundament stehen. Und Freundschaften muss man pflegen.

Denn es ist doch gerade der Austausch, der eine Freundschaft ausmacht. Und es ist doch gerade das Wissen um die Situation und um die Sicht des anderen, aus der man gemeinsame Positionen entwickeln – aber auch unterschiedliche Positionen verstehen und anerkennen kann.

Es ist gut zu wissen, dass unsere Freundschaft mit Mexiko auf einem solchen festen Fundament steht. Seit Jahrzehnten stehen unsere Länder politisch wie wirtschaftlich Seite an Seite. Unsere wirtschaftlichen Beziehungen sind eng und stark: Mehr als 2.100 deutsche Unternehmen sind in Mexiko engagiert, sie beschäftigen rund 300.000 Menschen, und ich freue mich, dass darunter auch viele junge Menschen, viele Auszubildende sind, die nach dem System unserer Berufsausbildung, dem dualen System, lernen und arbeiten. Knapp 470 Kooperationspartnerschaften verbinden mexikanische und deutsche Hochschulen, und auch deutsche Unternehmen schätzen das hohe Potential, das dieses Land, das seine jungen Leute, in Forschung und Entwicklung auszeichnet. Unsere beiden Länder sind eng miteinander verbunden – siebzig Jahre diplomatische Beziehungen sprechen für sich – und Mexiko ist ein wichtiger, hoch geschätzter Partner für uns. Diese Partnerschaft gilt es fit zu halten für die Zukunft. Und so wäre es auch sehr zu begrüßen, wenn das modernisierte Globalabkommen zwischen Mexiko und der Europäischen Union endlich zügig abgeschlossen werden könnte.

Ich bin nicht nur dankbar dafür, dass wir einander nun wieder begegnen können – ich bin auch dankbar für die Ehre, heute hier an diesem Ort sprechen zu dürfen: im mexikanischen Senat, im Herzen Ihrer Demokratie, deren Verfassung älter ist als die deutsche.

La patria es primero – unter diesem Leitspruch versammeln Sie sich hier in diesem Haus. In Berlin, unter dem Giebel unseres Parlaments, steht der Leitspruch Dem deutschen Volke. Ich bin mir sicher, es geht Ihnen hier in Mexiko-Stadt wie uns im Reichstagsgebäude in Berlin: Wenn man unter dem Dach solcher Worte ans Rednerpult treten darf, verspürt man Stolz – Stolz auf das eigene Vaterland, vor allem aber Stolz auf ein solches Haus der Demokratie.

Man spürt den Auftrag, den einem die Wählerinnen und Wähler mitgegeben haben. Den Auftrag, für ein friedliches, sicheres Leben zu sorgen. Und man spürt gerade in diesen Wochen und Monaten eine wirklich große Verantwortung dafür, die Errungenschaft der Demokratie zu verteidigen. Wir wissen, dass wir dabei unsere demokratischen Grundwerte, Menschenrechte, auch den Rechtsstaat nach innen, in unseren Ländern, tagtäglich verteidigen müssen gegen Feinde, die die freiheitliche Ordnung herausfordern. Die Freiheit, die Demokratie, das Bestreben nach sozialer Sicherheit, die Verantwortung dafür, das alles eint uns. Diese Verantwortung gibt uns auch etwas auf: uns untereinander, unter den Demokratien, nicht auseinanderdividieren zu lassen.

Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine erschüttert uns in Wahrheit doch alle, die wir an die Freiheit und das Recht jedes Landes auf territoriale Selbstbestimmtheit glauben. Es ist ein Epochenbruch, wenn dieses Recht, wenn Grenzen gar in Frage gestellt werden. An jedem Tag seit dem Beginn dieses Überfalls, seit dem 24. Februar, werden Menschen in der Ukraine getötet, verlieren Frauen ihre Männer, Kinder ihre Eltern, Eltern ihre Kinder.

Dieser brutale Regelbruch Putins betrifft nicht allein Europa, sondern uns alle: Wer versucht, Grenzverletzungen und Landraub zu normalisieren, der öffnet eine Büchse der Pandora und bedroht letztlich die ganze Welt. Er verlässt damit endgültig den Pfad, auf dem Benito Juárez schritt, als er sagte: Respekt vor dem Recht des anderen bedeutet Frieden.

Damit wir, Deutsche und Mexikaner, damit die demokratische Welt gestärkt aus dieser Auseinandersetzung hervorgeht, gilt es, jetzt eine gemeinsame Linie zu halten. Wir müssen uns einig sein in der Antwort auf einen Aggressor, der versucht, die Stärke des Rechts durch das Recht des Stärkeren zu ersetzen. Wenn wir im Geleitzug der Demokraten zusammenstehen, können wir den Mechanismen der Eskalation widerstehen.

Einigkeit und eine breit angelegte Partnerschaft, der Austausch von Wissen und enge wechselseitige Wirtschaftsbeziehungen machen uns resilienter gegen Autokraten und unberechenbare Akteure. Und resilient müssen unsere Demokratien, müssen aber auch unsere Volkswirtschaften werden, angesichts der Krisen der Gegenwart, die sich geradezu aufzutürmen scheinen.

Die Folgen des Klimawandels sehen wir in Echtzeit. In Europa erleben wir katastrophale Hochwasser und in diesem Sommer eine beispiellose Dürre. Auch Sie kennen im Norden Ihres Landes das Problem des enormen Wassermangels. Die wachsende Zahl der zerstörerischen Extremwetterereignisse zeigt uns mit all ihren Verheerungen schon jetzt, dass es eine Überlebensfrage ist, die Erderwärmung so schnell wie nur irgendwie möglich zu verlangsamen.

Bevor ich heute zu Ihnen kam, konnte ich auf dem Zócalo die Spuren des Templo Mayor bewundern. Es ist ein Anblick, der mich nicht nur tief beeindruckt, sondern der mich berührt hat. Es macht demütig, dieses gewaltige Zeugnis Ihrer indigenen Hochkultur zu sehen. Aus den Spuren der Ofrendas lässt sich lesen, wie weit sich die Einwohner von Tenochtitlán über den Handel schon damals in die Welt vernetzten. Das historische Fundament, auf dem Ihr Land steht, war und ist groß und vielfältig.

Und ungeheuer vielfältig ist auch Ihre Natur. Aus der ganzen Welt – besonders auch aus Deutschland – kommen Menschen, um ihr unvergleichlich schönes Land zu bestaunen und kennenzulernen: Die Mangrovenwälder von Sian Ka’an, die Wasserfälle Cascada de Basaseachi in Chihuahua, die Höhlen von Yucatan. Sie besitzen einen immensen Schatz. Der gewaltige Artenreichtum Ihres Landes, das über so viele Generationen weitergegebene Wissen der Einwohner um Flora, Fauna und Urbarmachung Ihres Lebensraumes, alles das gehört zusammen zu diesem Schatz.

Als der deutsche Forscher Alexander von Humboldt Ihr Land bereiste, da kannten wir das Wort Biodiversität noch nicht. Es war noch nicht klar, welche Bedeutung der weltweite Artenreichtum für die Stabilität unserer Erde hat. Humboldt hat uns Europäer überhaupt erst gelehrt, dass uns alle, die wir gemeinsam auf diesem Planeten leben, die Welt der anderen etwas angeht. Von seinen Forschungsreisen nach Südamerika, Mittelamerika und insbesondere Mexiko brachte er die zentrale Erkenntnis mit: Die Welt, auf der wir leben, ist ein Gesamtsystem. Was auf einem Kontinent geschieht, bleibt nicht ohne Folgen auf anderen Kontinenten. Das Handeln des Einzelnen beeinflusst das Wohlergehen aller. Mit dem Wissen um einen Kosmos, in dem das eine mit dem anderen zusammenhängt, waren die ursprünglichen Völker Mexikos uns Europäern um viele Jahrhunderte voraus.

Jetzt, mehr als 200 Jahre, nachdem Alexander von Humboldt von seiner großen Reise zurückkehrte, ist es entscheidend für unsere gemeinsame Zukunft, dass wir Umweltpolitik auch als Sicherheitspolitik und vor allem auch als Sozialpolitik verstehen. Deshalb bin ich so froh, dass die mexikanische Regierung sich dafür einsetzt, die biologische Vielfalt und die Umwelt zu schützen, mehr noch als bisher. Wir alle sind dankbar, dass Mexiko Vorreiter für eine internationale Biodiversitätsagenda der Vereinten Nationen ist. Wir sind dankbar, dass Sie den großen Schatz Ihrer Heimat zum Wohle der gesamten Menschheit hüten.

Damit schützen Sie letztlich die Lebensgrundlagen aller Menschen, egal ob sie in Mexiko-Stadt oder in Berlin leben, in Islamabad, Kiew oder Moskau. Ich bin überzeugt: Gemeinsam können wir es schaffen, den Klimawandel mit seinen Folgen zu verlangsamen – wenn wir gemeinsam Brücken der Innovation, des Austauschs, der Solidarität bauen.

Den jungen Menschen eine Welt zu hinterlassen, die bewohnbar und lebenswert ist, muss unser Ziel sein. Von uns allen hängt es ab, wie die Welt unserer Kinder aussehen wird. Wir brauchen nicht nur globalen Mut zum Wandel, es gibt eine globale Pflicht zum Wandel, um eine erlebbare Zukunft für unsere Nachkommen zu sichern. Dafür tragen zwei demokratische Partner, wie es Deutschland und Mexiko sind, ihren Anteil an Verantwortung.

Nur gemeinsam führt der Weg aus Krisen. Nur gemeinsam lässt sich der Frieden bewahren oder, wo er verloren gegangen ist, auch wieder neu stiften. Und nur gemeinsam finden wir Antworten auf andere große Herausforderungen unserer Zeit.

Erst recht in dieser schwierigen Zeit wünschen wir Deutsche uns nicht weniger, sondern wir wünschen uns mehr Partnerschaft mit Mexiko. Wir wollen unsere Verbindungen nicht nur bewahren, wir wollen sie ausbauen: gesellschaftlich, politisch – und nicht zuletzt wirtschaftlich. Deshalb bin ich hier – und deshalb danke ich Ihnen für die Ehre, hier im Senat zu sprechen. Wer dieselben grundsätzlichen Überzeugungen teilt, wer einander vertraut und zueinander hält, der kann sich gemeinsam auf den Weg machen.

Dabei kommt es nicht darauf an, dass alle dieselbe Route wählen. Denn jedes Land hat seine eigene Tradition und seine eigene Kultur. Entscheidend ist es, gemeinsam das Ziel im Auge zu behalten. Und genau das wollen wir tun.