Festakt zum 1.200-jährigen Gründungsjubiläum des Klosters Corvey

Schwerpunktthema: Rede

Höxter, , 25. September 2022

Bundespräsident Steinmeier hat am 25. September bei einem Festakt zum 1.200-jährigen Gründungsjubiläum des Klosters Corvey in Höxter eine Rede gehalten: "Orte wie Corvey helfen vielen verschiedenen Menschen vielleicht auf der Suche nach Antworten. Christen und Nicht-Christen, Gläubigen und Atheisten wird an Orten des Glaubens und der Geschichte ein in diesen so komplizierten und polarisierenden Zeiten kostbares Gut geschenkt: die Erfahrung der gemeinsamen Tradition mit denen, die weit vor uns lebten."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache beim Festakt zum 1200. Gründungsjubiläum des Klosters Corvey in Schloss Corvey in Höxter

Ich bedanke mich zuallererst ganz herzlich für die Einladung hierher nach Corvey. Andererseits: Wo sollte ein Bundespräsident heute sein, wenn nicht hier! 1.200 Jahre Geschichte des Klosters Corvey spiegeln eben 1.200 Jahre deutscher und europäischer Geschichte wider, mit allen ihren Höhen und Tiefen. Wir denken beim Namen Corvey an den Höhepunkt klösterlicher Kultur in Nordwesteuropa im 9. und 10 Jahrhundert. Wir denken an die Karolinger und die ihnen folgten. An die Jahrhunderte währenden Konflikte zwischen Kaiser und Papst. Corvey war Gegenstand monarchischer Erbfolgen und Machtkonflikten, berührt von den Konfessionskriegen, von Reformation und Gegenreformation.

Auch die Säkularisation und der Reichsdeputationshauptschluss bedeuteten nicht etwa das Ende dieses Ortes. Hier wirkte ab 1860 ein Bibliothekar, der 1841 auf Helgoland das Lied der Deutschen geschrieben hatte, dessen dritte Strophe bei allen großen und wichtigen Veranstaltungen gespielt oder gesungen wird: Unsere Nationalhymne, mit der der Bundespräsident in jedem Land, das er besucht, begrüßt wird, so wie ich in der vergangenen Woche in Mexiko.

Die Erinnerung an Hoffmann von Fallersleben bleibt wach. Hier in Corvey hat er bis zu seinem Tod gewirkt. Seine letzte Ruhestätte befindet sich auf dem alten Friedhof hinter der Abteikirche.

Wenn wir uns an Corvey wegen seiner Geschichte, seiner Architektur und wegen der Menschen, die hier wirkten, erinnern, dann ist diese Erinnerung heute längst keine rein deutsche Angelegenheit mehr. Seit 2014 sind große Teile der Klosteranlage und der Civitas Corvey wegen ihrer Einzigartigkeit, Authentizität und Universalität von der UNESCO als Weltkulturerbe anerkannt.

Also noch einmal: Wo sollte ein Bundespräsident heute sein, wenn ein solch monumentaler Ort deutscher Geschichte sein 1.200-jähriges Jubiläum feiert, wenn nicht hier?

Ich erinnere mich noch gut, wie ich in früherer Funktion den Antrag von der Aufnahme in die sogenannte Tentativliste bis zur endgültigen Aufnahme in die Welterbeliste 15 Jahre später begleiten durfte. Aber noch besser erinnere ich mich an den 26. Mai 2015, als wir hier an demselben Ort das Ergebnis ihrer 15-jährigen Arbeit mit der Enthüllung der Plakette an der Mauer der ehemaligen Abteikirche feiern durften.

Ich bin und bleibe diesem Ort verbunden. Und das hat weniger mit meiner Herkunft zu tun – in der Tat bin ich ja nur wenige Kilometer von hier entfernt aufgewachsen, und die Grafschaft Schwalenberg stand – wie Sie wissen – im 17. und 18. Jahrhundert sogar unter der Oberlehnsherrschaft Corveys. Nein, es ist dieses einzigartige Denkmal der Kirchen- und Kulturgeschichte, das mich von Jugend an fasziniert hat und das, darüber können wir glücklich sein, heute noch zahlreiche Besucher in seinen Bann zieht.

Viele, die in diesen Tagen rund um den Geburtstag kommen, fragen sich vielleicht: Was hat die Mönche vor 1.200 Jahren gerade an diesen Ort gebracht?

Die Mönche, die sich damals hier niederließen, kamen aus dem Solling, ein paar Kilometer östlich von hier. Sie hatten sich auf den Weg gemacht, weil sich der bisherige Standort ihres Klosters als ungeeignet erwiesen hatte. Das Land war zu bergig, die Böden zu karg, da half auch kein benediktinisches ora et labora.

Im August vor 1.200 Jahren erreichten diese Mönche einen Ort nahe der Villa Uxeri, den wir heute Höxter nennen. Sie knieten zum Gebet nieder, sangen Psalmen, schlugen hier am Weserbogen Pflöcke ein und begannen schon bald mit der Abmessung für die neue Kirche. Am 25. September 822 zogen sie endgültig an diesen Ort. Der Beginn eines Weges, der bis ins heute führt.

Als geistlicher und geistiger Ort wies Corvey schon immer über das eigentliche Areal hinaus, das die Anlage umfasst. Viele derer, die hier gelebt, gearbeitet und studiert hatten, wirkten später als Bischöfe in Hamburg oder Prag oder missionierten in ganz Nordeuropa. Die mittelalterliche Klosterbibliothek hatte bis zu ihrer Zerstörung einen legendären Ruf. Sie erhielt als kaiserliche Stiftung wertvolle Bücher aus dem Schwesterkloster Corbie. Die Mönche sammelten das Wissen der Zeit, sie vervielfältigten es, indem sie es mit der Hand abschrieben. Die in Corvey hergestellten kultur- und geistesgeschichtlichen Handschriften gehörten zu den Meisterwerken karolingischer Buchkunst und trugen so zum überragenden Ruf Corveys in Europa bei.

Vergil, Sallust, Plinius, Boethius – die wichtigste antike Literatur war hier präsent, wurde studiert, kopiert und weiterverbreitet: als Corveys Beitrag zur Sicherung der abendländischen Kultur und ihrer Wissensquellen. Mit den Regeln der Weiterverbreitung haben es nicht alle damals offensichtlich ganz genau genommen. Jedenfalls ist die von den Corveyer Mönchen erstellte Handschrift des Tacitus-Codex, wie wir hören, auf etwas undurchsichtige Weise in den Besitz von Papst Leo X. gelangt. Der Verlust ging damals als berühmtester Buchraub der Bibliotheksgeschichte in die Annalen ein. Schmerzlich für Corvey, aber gleichzeitig doch ein Beleg für das Können und die hervorragende Reputation der Corveyer Mönche.

Von Corvey gingen die Mönche im 9. Jahrhundert hinaus in eine Welt politischer Wirren, aber sie taten es selbstbewusst, ihrer Grundlagen sicher, des Ortes gewiss, der ihr Ausgangpunkt war und der ihnen inneren Halt gab. Corvey war eben nicht nur Ort im geografischen Sinne, es stand auch für einen Geist und einen Wertekanon, den die Mönche in verschiedene Teile Europas trugen.

Auch heute, das dürfen wir so sagen, ist Corvey mehr als eine Touristenattraktion, mehr als ein Ort, an dem wir ein längst abgeschlossenes Kapitel der Geschichte einfach nur fasziniert betrachten. Corvey ist die Brücke zu einer Vergangenheit, die uns heute noch etwas zu sagen hat. Das ist der Grund dafür, dass die weit sichtbaren Kirchtürme die Menschen nach wie vor anziehen.

Corvey ist noch immer ein christlicher Ort – aber es ist längst viel mehr als das: Menschen kommen in die Kirche zum Gottesdienst, machen sich von hier aus auf den Jakobsweg, treffen sich aber auch zu Konferenzen und Literaturfestivals oder kommen einfach hierher, um sich diesen besonderen Ort anzusehen. Viele von ihnen suchen in Corvey Trost oder finden Selbstvergewisserung oder nutzen den Austausch mit anderen und wissen um das gute Gefühl, zu einer Gemeinschaft zu gehören, in der sie als unterschiedliche Individuen anerkannt und respektiert werden.

Ich bin überzeugt: Gerade jetzt, in dieser Zeit des Krieges, der Krisen, der Veränderungen und Verunsicherungen, gerade jetzt brauchen wir solche Orte, an denen wir uns als Verschiedene begegnen und verständigen können.

Die Pandemie hat uns als Menschen noch stärker vereinzelt. Sie hat Mauern im Inneren unserer Gesellschaft zwischen verschiedenen Gruppen und unterschiedlichen Lebenswelten weiter wachsen lassen. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, die steigenden Preise und Energiekosten, nicht zuletzt die Erfahrung des Klimawandels auch in unserem Land, die Gewissheit, dass wir vor einem fundamentalen Umbau unserer Gesellschaft stehen – all das löst Fragen, Sorgen und Ängste aus, es führt, davon sind Sie alle Zeugen, zu hitzigen öffentlichen Debatten und schlägt nicht selten um in Zorn, Hass und bei wenigen auch in Gewalt.

Viele Menschen fragen sich: Was bleibt, wenn so vieles unsicher ist? Was gibt uns Halt, worauf können wir bauen?

Natürlich kann Corvey nicht auf alles eine Antwort geben. Aber: Orte wie Corvey helfen vielen verschiedenen Menschen vielleicht auf der Suche nach Antworten. Christen und Nicht-Christen, Gläubigen und Atheisten wird an Orten des Glaubens und der Geschichte ein in diesen so komplizierten und polarisierenden Zeiten kostbares Gut geschenkt: die Erfahrung der gemeinsamen Tradition mit denen, die weit vor uns lebten. Deshalb bewahren und pflegen wir diesen Ort und das erzeugt ein Bewusstsein von Zusammengehörigkeit, das unsere Gesellschaft, davon bin ich überzeugt, heute so dringend braucht.

Ob es der Glauben ist oder die Sehnsucht nach Begegnung und Zusammenhalt oder die Suche nach Verortung in der Geschichte: All das stärkt uns und gibt uns Kraft, die Herausforderungen des Alltags zu bestehen. All das ist Corvey, eine geistige und kulturelle Kraftquelle.

Sie, liebe Mitglieder der Gemeinde St. Stephanus und Vitus Corvey, haben diese Verbindung von Geist und Alltag in diesem wunderbaren Satz, der hier vorne steht, ausgedrückt. Er lautet: 1.200 Jahre Corvey – wo der Himmel die Erde berührt.

Lassen wir uns also berühren, von Kultur, von Begegnung, von Glauben, von Ideen, die so viel älter sind als wir selbst. Feiern wir 1.200 Jahre Corvey und freuen uns, dass dieser Ort den Menschen auch heute noch so viel geben kann.