Statt Ihnen eine Videobotschaft zu senden, wäre ich heute lieber zu Ihnen nach Bremen gekommen, und das gleich aus zwei Gründen: Zum einen ist das 100. Jubiläum der Gründung Ihrer Vereinigung natürlich ein besonderer Anlass für den Bundespräsidenten, Ihre Tätigkeit zu würdigen – denn der Staat, seine Institutionen und sein Recht sind der Gegenstand, mit dem Sie sich wissenschaftlich und oft auch darüber hinaus in der Praxis auseinandersetzen. Zum anderen fühle ich mich Kraft meiner eigenen Biographie dem Staats- und Verfassungsrecht und der Verfassungsgeschichte in besonderer Weise verbunden.
Anlass für die Gründung Ihrer Vereinigung in Berlin im Jahre 1922 war der Wunsch nach einer – ich zitiere Ihren Gründer Carl Heinrich Triepel – in den Nöten der Gegenwart dringend erwünschten und trotz vielfacher Gegensätze in wissenschaftlicher Methode und politischer Anschauung möglichen Arbeitsgemeinschaft
. Die Initiatoren suchten – so würden wir modern formulieren – eine Plattform, auf der Vertreter unterschiedlicher Positionen möglichst rational und wissenschaftlich fundiert über alle aktuellen Fragen und Entwicklungen des Staatsrechts miteinander sprechen konnten. Diese Idee zündete! Auf den Tagungen in den Weimarer Jahren setzten sich die Staatsrechtslehrer mit Grundfragen auseinander, die für die junge Republik wesentlich waren. Bis heute ist es spannend, manche Referate und Diskussionen nachzulesen. Einige Themen haben ihre Aktualität bis heute nicht eingebüßt. Indes: Die Weimarer Republik scheiterte nicht zuletzt daran, dass es zu wenige Demokratinnen und Demokraten gab, und auch unter den Staatsrechtslehrern fanden sich zu wenige offensive Unterstützer der Weimarer Demokratie.
Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten fanden die Tagungen der Vereinigung nicht mehr statt. Manche ihrer Mitglieder wurden Opfer nationalsozialistischer Diskriminierung oder Verfolgung, andere arrangierten sich mit dem neuen Regime oder engagierten sich gar in unerhörtem Maße für die Diktatur. Auch wenn die Vereinigung als solche einer Verstrickung in den Nationalsozialismus entging, so wirkten nicht wenige ihrer Mitglieder am nationalsozialistischen Unrechtsregime mit. Sie haben sich mit diesem Kapitel Ihrer Geschichte und dem Handeln vieler Ihrer Mitglieder während der Zeit des Nationalsozialismus auf einer Tagung im Jahr 2000 deutlich kritisch auseinandergesetzt.
Unter dem Grundgesetz lebte die Vereinigung wieder auf. Trotz nicht weniger personeller Kontinuitäten zur NS-Zeit gab es einen Neuanfang. Anders als nach dem Ersten Weltkrieg gab es keine Anknüpfungspunkte an das Rechts- und Verfassungssystem des untergangenen politischen Systems, das sich vollständig delegitimiert hatte; und über die Verstrickungen mancher Mitglieder – so charakterisiert es Horst Dreier – wurde milde geschwiegen. Inhaltlich haben Sie sich auf Ihren Jahrestagungen von Anfang an vom Bonner Grundgesetz mit seinen freiheitlichen, rechts-, bundes- und sozialstaatlichen Grundprinzipien inspirieren lassen. Es ist Ihnen stets gelungen, drängende Fragen des Staatsrechts und des gesamten öffentlichen Rechts in den Berichten aufarbeiten zu lassen und abschließend zu diskutieren, und zwar durchaus kontrovers. Auch aktuelle politische Entwicklungen beschäftigen Sie, etwa in den Referaten nach der Wiedervereinigung auf der Sondertagung in Berlin im Jahre 1990 oder die Rolle von "Staat und Gesellschaft in der Pandemie" auf der Wiener Tagung im vergangenen Jahr.
Ihre Vereinigung ist von vormals 80 bis 100 Mitgliedern mittlerweile auf rund 800 Mitglieder angewachsen. Mir wurde berichtet, dass manch einer von Ihnen diese Größe bedauert, weil sich nicht mehr alle Mitglieder persönlich kennen würden; dass der Austausch nicht mehr so intensiv sei und zwangsläufig in den Diskussionen nicht mehr jeder Mann und jede Frau zu Wort kommen könne. Gleichwohl habe ich den Eindruck, dass Ihre jährliche Tagung im Herbst für den wissenschaftlichen Diskurs im öffentlichen Recht nach wie vor ein "muss" ist und deren Ergebnisse stets mit großem Interesse wahrgenommen werden. Dabei ist es auch für mich besonders bedeutsam, dass die Vereinigung nicht allein auf die Bundesrepublik beschränkt ist, sondern die Staats- und Verfassungsrechtlerinnen aus Österreich und der Schweiz aufnimmt. Denn Verfassungsrecht ist eine kulturelle Errungenschaft, und der deutsche Kulturraum ist nicht auf die Bundesrepublik beschränkt. So wie uns selbstverständlich Inszenierungen des Burgtheaters oder des Filmfests in Locarno interessiert, spielen etwa Diskussionen in der Schweiz über direkte Demokratie oder über das Verhältnis von Bund und Ländern des Föderalismus in Österreich auch hierzulande eine Rolle und werden intensiv verfolgt. Die von Ihrer Vereinigung ausgehenden Denkanstöße greifen damit weit über das bundesrepublikanische öffentliche Recht hinaus.
Hierzulande setzen Sie wichtige Impulse für das Staats- und Verwaltungsrecht und tragen insbesondere zur öffentlichen Reflexion bei. Dabei ist es sicher hilfreich, dass viele von Ihnen über den universitären Bereich hinaus das öffentliche Recht auch in der Praxis anwenden – als Richterinnen und Richter, in der Verwaltung oder auch in der Prozessvertretung.
Deshalb bin ich der festen Überzeugung, dass die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, der inzwischen ja auch deutlich mehr Staatsrechtslehrerinnen angehören als zu meiner Zeit an der Universität, ein besonders wichtiger und unverzichtbarer wissenschaftlicher Zusammenschluss ist.
Ich gratuliere Ihnen von Herzen zum 100-jährigen Bestehen, wünsche Ihnen für die nächsten 100 Jahre alles Gute – und für Ihre Tagung intensive Diskussionen, neue Erkenntnisse und einen fruchtbaren Gedankenaustausch.
Alles Gute, herzlichen Dank und viele Grüße nach Bremen!