Seit Urzeiten strebt der Mensch danach, Schmerz, Depression, Krankheit und Tod aus dieser Welt zu verbannen. Primum non nocere, secundum cavere, tertium sanare
– nicht schaden, vorsichtig sein, heilen! Dieser Leitgedanke der hippokratischen Tradition gilt für Ärzte aus aller Welt bis heute unverändert, auch nach 2.000 Jahren. Die Triebfeder für die medizinische Forschung und den Arztberuf ist also eine Art Urinstinkt, dem kein Aufwand zu groß und kein Mittel zu teuer ist. Und doch haben die menschenverachtenden Verbrechen vieler Kriege deutlich gemacht, dass es gerade auch in der Medizin eines internationalen und interkulturellen Wertegerüstes bedarf, das den Respekt vor dem menschlichen Leben als unverrückbare Grundlage festlegt.
Um diese Grundlage für die ärztliche Profession zu definieren, standen Fragen der Medizinethik im Vordergrund, als 1947 in Paris der Weltärztebund, WMA, und 1948 die Weltgesundheitsorganisation, WHO, gegründet wurden. Im gleichen Jahr wurde auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte
durch die Vereinten Nationen und das Genfer Gelöbnis
durch den Weltärztebund verkündet. Diesen Dokumenten der Zivilisation waren vor und während des Zweiten Weltkrieges barbarische Verbrechen vorausgegangen, die gerade auch von Ärzten aus Deutschland begangen worden waren. Ich bin dankbar und erleichtert, dass wir heute diese dunklen Zeiten unseres Landes weit hinter uns wissen und dass wir gemeinsam auf ein nunmehr 75 Jahre andauerndes medizinethisches Wirken des Weltärztebundes und der Bundesärztekammer in Deutschland zurückblicken können. Dass ich Sie heute in der deutschen Hauptstadt zur Generalversammlung des Weltärztebundes begrüßen darf und die deutsche Ärzteschaft bei Ihnen seit Jahrzehnten mitwirkt, war für unser Land in den Anfangsjahren Ihrer Organisation nicht vorgezeichnet. Es ist mir eine große Ehre, Sie hier zum mittlerweile vierten Mal in Deutschland zu begrüßen: Herzlich willkommen in Berlin!
Für die Bundesärztekammer danke ich stellvertretend Ihnen, Herr Präsident Dr. Reinhardt, und Ihnen, Herr Ehrenpräsident Dr. Montgomery, für die aufwändige Vorbereitung dieser Konferenz. Ich bin mir sicher, dass die Bundesärztekammer unser Land sehr gut repräsentieren wird und Ihnen, den Medizinerinnen und Medizinern aus nahezu allen Regionen der Erde, ein ansprechendes und anregendes Programm für Ihre Woche in dieser Stadt bieten kann; in der wir im Übrigen sehr stolz sind auf ein renommiertes Krankenhaus, das den Namen Charité, also Barmherzigkeit
, trägt und in der wir uns aktuell über die Etablierung eines WHO-Hubs für Pandemie- und Epidemieaufklärung freuen.
In dem Dreivierteljahrhundert seines Bestehens hat sich der Weltärztebund wesentlich des zivilisatorischen Fortschritts der ärztlichen Profession angenommen und Leitlinien entwickelt, die als internationale Standards große Akzeptanz in den medizinischen Berufsordnungen der einzelnen Staaten finden. Leitmotive waren dabei stets, den hippokratischen Imperativ Menschen heilen
in den Vordergrund zu stellen, das sensible Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient zu schützen oder den medizinischen Entdeckerdrang dort zu zügeln, wo etwa Menschenrechte von Probanden nicht gewährleistet sind.
Sie alle kennen diese konstitutiven Grundlagen der medizinischen Praxis als Genfer Gelöbnis
oder als Deklaration von Helsinki.
Während Ihrer WMA-Generalversammlung haben Sie sich vorgenommen, diesen medizinethischen Grundlagendokumenten eine Deklaration gegen Rassismus in der Medizin
hinzuzufügen, um der Gleichheit der Menschen sowohl auf Seiten der Patienten als auch auf Seiten der Ärzteschaft noch stärker zur Geltung zu verhelfen. Ein solches Ergebnis Ihrer Konferenz wäre ein bedeutsamer Schritt auf dem Weg zu einer weltweiten Verständigung über die Grundwerte eines friedlichen Zusammenlebens der Nationen, zu dem ich Sie nur ermutigen kann. Natürlich wünsche ich Ihnen auch für Ihre weiteren Vorhaben, wie beispielsweise den Internationalen Medizinethikkodex
, mit denen Sie sich den Erfordernissen der Zeit für den Arztberuf stellen und sich der Gleichheit und der Gerechtigkeit im Gesundheitswesen widmen, eine ertragreiche Debatte und gutes Gelingen.
Zugleich müssen wir aber auch feststellen, dass viele der medizinethischen Errungenschaften, die wir dem Wirken der WMA verdanken, und die wir bis vor Kurzem für selbstverständlich hielten, dies keineswegs sind. Doch mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine erleben wir in Europa einen Rückfall in auch medizinethisch vormoderne Zeiten. Ärztinnen und Ärzte müssen in den Kriegsgebieten ihr eigenes Leben aufs Spiel setzen, um Verletzten zu helfen. Als internationale Gemeinschaft müssen wir darauf drängen, humanitären Helfern endlich Zugang zu den Kampfgebieten zu ermöglichen.
Aber auch viele andere tiefgreifende Herausforderungen wie etwa weltweite Pandemien oder aber die Folgen des sich beschleunigenden Klimawandels stellen gerade auch die Ärzteschaft in dramatischer Weise auf die Probe. In der Covid-19-Pandemie haben viele Mediziner über die eigenen Belastungsgrenzen hinaus Menschenleben gerettet und in Therapie und Forschung alles dafür gegeben, dieses erstmals auf den Menschen übergesprungene Corona-Virus zu bekämpfen. Es bleibt ein Jahrhundertereignis, geradezu ein medizinisches Wunder, dass die Welt in einem arbeitsteiligen Zusammenwirken internationaler Forschungsnetzwerke in zuvor nie gekannter Geschwindigkeit Impfstoffe für eine akute Seuchenlage bereitstellen konnte. Wie keine andere Berufsgruppe zählen die Mediziner dabei zu denjenigen, die in der Pandemie mit aktuellen Informationen im vertraulichen Gespräch Unsicherheiten ihrer Patienten gemildert und Therapien entwickelt haben. Ihnen allen herzlichen Dank dafür!
Die Zielrichtung der Covax-Initiative ist angesichts einer ungleichen Impfstoffverteilung unverändert aktuell. Ich appelliere deshalb ausdrücklich an die Weltgemeinschaft, dass gerade den wirtschaftlich schwächeren Nationen bei der Impfstoffversorgung und den Gesundheitsinformationen substanziell geholfen wird. Nur wenn wir die Pandemie mit einem Geist der Zusammenarbeit überwinden, wird es uns gelingen, das Vertrauen als wertvollste Ressource des Miteinanders unter den Staaten zu erhalten.
Die aktuelle Pandemie hat manche Lerneffekte zur Verbesserung der Globalen Gesundheit beschleunigt und enorme Ressourcen aktiviert. Aber das allein reicht nicht. Wir werden auf den Geist der Zusammenarbeit und auf das Vertrauen der Staaten untereinander angewiesen bleiben, um die Resilienz der Weltgemeinschaft auch gegen künftige Pandemien und Gesundheitskrisen zu stärken. Bei der Globalen Gesundheit besser vorbereitet zu sein, bleibt deshalb das Gebot der Stunde. Denn auch der voranschreitende Klimawandel verändert menschliche Lebensräume und setzt die Gesundheitssysteme vielfältig unter Druck. Gerade Ihr Berufsstand wird in besonderer Weise mit den konkreten Auswirkungen der klimatischen Veränderungen im Alltag der Menschen konfrontiert. Zu den notwendigen Anpassungsmaßnahmen an den Klimawandel zählt daher auch die Stärkung der Globalen Gesundheit und der Therapie von Umwelterkrankungen.
75 Jahre Weltärztebund und 75 Jahre Bundesärztekammer sind ein würdiger Anlass, Ihnen stellvertretend für alle Ärztinnen und Ärzten für Ihren täglichen Dienst zu danken: in der Praxis, in der Klinik, auch in Forschung und Lehre. Sie begleiten das menschliche Leben vom Anfang bis zum Ende. Ihnen vertrauen sich die Menschen an, in guten und mehr noch in schweren Tagen. Sie wollen und werden gemeinsam weiterhin lernen und heilen und sich um Wissenschaft und Mitmenschlichkeit bemühen. In diesem Sinne: Herzlichen Dank! Ich wünsche Ihnen eine spannende Generalversammlung und einen anregenden Aufenthalt hier in Berlin!