10 Jahre Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma Europas

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 24. Oktober 2022

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 24. Oktober beim Festakt zum 10. Jahrestag der Übergabe des Denkmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas im Berliner Tiergarten an die Öffentlichkeit eine Rede gehalten: "Mit diesem Gedenkort bekennt sich die Bundesrepublik Deutschland zu ihrer Verantwortung, die Erinnerung an den Völkermord an den europäischen Roma wachzuhalten. Dieser Ort ist ein ständiger Auftrag an Politik und Gesellschaft, an alle, die in unserem Land leben."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält am Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas in Berlin zum 10. Jahrestag der Übergabe des Denkmals an die Öffentlichkeit eine Rede

Jemand muss sagen, was sie mit den Sinti gemacht haben, damals, die Nazis. Das wissen viele heute immer noch nicht. Aber unsere Menschen sollen nicht vergessen werden! […] Ich will, dass die Welt erfährt, was mit den Sinti passiert ist. […] Ich will, dass sie wissen, wie das ist, weiterzumachen, wenn man alles verloren hat, was einem lieb war. In diesen Worten steckt eigentlich schon alles. Sie stammen von Zilli Schmidt, die uns ihre Geschichte erzählt hat, die Geschichte einer deutschen Sintezza.

Zilli Schmidt wurde 1924 als Cäcilie Reichmann geboren, in einem Dorf in Thüringen. Ihre Familie – eine glückliche Familie, wie sie immer betont hat – betrieb in der Weimarer Republik ein Wanderkino und handelte mit Geigen.

Zilli Schmidt war noch ein Kind, als die Nationalsozialisten an die Macht gelangten. Sie erlebte, wie ihre Familie auf der Straße beschimpft und in Geschäften nicht mehr bedient wurde, wie Verwandte plötzlich verschwanden und nicht mehr wiederkamen. Als junge Frau floh sie mit ihren Eltern und Geschwistern kreuz und quer durch Europa, wurde in Frankreich festgenommen, nach Tschechien verschleppt, in die sogenannten Zigeunerlager in Lety und Auschwitz-Birkenau gesperrt.

Am 2. August 1944, als sie zur Zwangsarbeit nach Ravensbrück transportiert wurde, ermordeten SS-Männer dreitausend Roma in den Gaskammern von Auschwitz, darunter Zilli Schmidts vierjährige Tochter Gretel, ihre Eltern, ihre Schwester und weitere Verwandte. Zilli Schmidt hat damals überlebt – ein großes Glück und eine schreckliche Bürde, wie sie gesagt hat. Ich bin dankbar, dass sie nach vielen, vielen Jahren die Kraft gefunden hat, ihre Geschichte öffentlich zu erzählen – ein großartiges Engagement gegen das Vergessen!

Zilli Schmidt ist am Freitag im Alter von 98 Jahren gestorben. Diese Nachricht macht mich und alle, die sie kannten, sehr traurig. Meine Gedanken sind bei ihren Angehörigen, ihren Freunden. Wir alle trauern um Zilli Schmidt. Wir werden sie nicht vergessen. Und hier im Berliner Tiergarten versprechen wir, ihr ein ehrendes Andenken zu bewahren.

Dieser Gedenkort, der heute vor zehn Jahren – endlich – eingeweiht wurde, ist ein Ort des Schmerzes und der Trauer, ein Ort des Erinnerns und der Anteilnahme, er ist aber auch ein Ort der Aufklärung und der Besinnung. Deshalb ist es schön, dass wir heute gemeinsam die neue Freiluftausstellung eröffnen können. Sie erweitert diesen Ort um neun biographische Porträts, um die Geschichten von Vinko Paul Franz, Matéo Maximoff, Adam Ujvary, Noncia Alfreda Markowska, Lidija Krylowa, Branko Branislav Acković, Elina Emílie Machálková, Zilli Schmidt und Zoni Weisz, der heute bei uns ist und gleich zu uns sprechen wird.

Neun Tafeln geben den verfolgten Roma Namen und Gesichter. Sie erzählen von ihrem Leid, aber auch von ihrer Kraft und ihrem Mut, von Widerstand und Neubeginn. Sie bringen uns ganz unterschiedliche Menschen nah und führen uns ihre Lebenswelten vor Augen.

Es ist traurig, dass Dani Karavan die Eröffnung dieser Ausstellung nicht mehr miterleben kann. Er hat sie selbst noch künstlerisch gestaltet, bevor er im vergangenen Jahr starb. Wir denken heute auch an ihn, den großen Künstler, dem dieser Gedenkort ganz besonders am Herzen lag.

Dieser Ort erinnert an die Geschichten von Roma und Romnja, von Jenischen und anderen Fahrenden aus ganz Europa, die von den Nationalsozialisten als sogenannte Zigeuner verfolgt wurden – zunächst in Deutschland, dann in Österreich und Tschechien, nach dem Beginn des deutschen Angriffskriegs auch in Polen und der Slowakei, in Frankreich, Belgien und den Niederlanden, in Italien, Serbien, Kroatien, Rumänien und Ungarn, in der Ukraine, in Russland und in anderen Ländern der damaligen Sowjetunion.

Es sind die Geschichten von Angehörigen der Sinti, Kalderasch, Lovara, Lalleri, Manouches und vieler anderer romanes- oder jenisch-sprachiger Gruppen. Geschichten von Männern, Frauen und Kindern, deren Familien seit ihrer Ankunft in Europa immer wieder als Fremde ausgegrenzt, schikaniert, kriminalisiert und polizeilich erfasst wurden; denen oft das Recht verwehrt wurde, sich in Städten und Gemeinden niederzulassen, Land zu erwerben, Berufe zu ergreifen; die trotzdem immer wieder ihren Platz in der Gesellschaft fanden und behaupteten.

Jede und jeder Einzelne von ihnen war eine einzigartige Persönlichkeit, ein Mensch mit besonderen Eigenschaften und Prägungen. Sie alle wurden von den Nationalsozialisten drangsaliert und verfolgt. Sie alle fielen dem menschenverachtenden Rassenwahn zum Opfer, dem ausdrücklichen Willen des Hitler-Regimes, Juden und Roma zu vernichten, weil sie angeblich artfremden Rassen angehörten.

Roma und Romnja, Jenische und andere Fahrende haben während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft unermessliches Leid erfahren, im Deutschen Reich, in den mit dem Hitler-Regime verbündeten Staaten, in den von den Nazis besetzten Ländern Europas. Sie wurden entrechtet und ausgegrenzt, vom Schulunterricht ausgeschlossen, von ihren Arbeitsplätzen vertrieben, zur Aufgabe ihrer Gewerbe gedrängt, mit Eheverboten belegt, zu Staatenlosen erklärt, vermessen und klassifiziert, festgenommen und eingesperrt, beraubt und enteignet, als Zwangsarbeiter ausgebeutet. Sie wurden verschleppt, misshandelt, gewaltsam sterilisiert und schließlich planmäßig ermordet.

Es waren Menschen, die sich bis zuletzt für ihre Familien einsetzten, die Kardinäle oder Bürgermeister um Hilfe baten, die nicht aufgaben, auch wenn sie abgewiesen wurden. Es waren Menschen, die als Partisanen oder in den Armeen ihrer Heimatländer gegen Hitler kämpften und in den Lagern oft verzweifelt Gegenwehr leisteten. Es waren Menschen, die leben wollten und selbst im Angesicht des Todes noch Stolz und Stärke zeigten.

Bis zu einer halben Million Roma aus ganz Europa fielen dem nationalsozialistischen Völkermord zum Opfer, in Sachsenhausen und Lackenbach, Chełmno und Łódź, in Babyn Jar, Aleksandrowka und an vielen anderen Orten. Sie verhungerten und erfroren in Lagern und Ghettos, starben an Seuchen und infolge von pseudomedizinischen Experimenten, wurden erschossen und in Gaskammern erstickt.

Es war ein Völkermord, vorbereitet und geplant von Nazi-Funktionären, Wissenschaftlern, Polizisten und Beamten hier in Berlin, vorangetrieben von Männern und Frauen an vielen Orten unseres Landes, ausgeführt von SS-Leuten und Wehrmachtssoldaten, ihren Komplizen und Kollaborateuren in ganz Europa.

Aber wir wissen heute auch: Ein Völkermord dieses Ausmaßes lässt sich nicht allein von einem Staatsapparat ins Werk setzen. Viele Deutsche aus allen Teilen der Gesellschaft waren an den Menschheitsverbrechen gegen die Roma beteiligt. Wissenschaftler betrieben rassistische Forschung, um ihre Karrieren voranzubringen; Beamte in Städten und Gemeinden entwickelten radikale Ideen, um sich den Herrschenden anzudienen; Nachbarn denunzierten Roma, weil sie schon lange Ressentiments gegen die Minderheit hegten.

Nach der Befreiung Europas vom Nationalsozialismus waren die Täterinnen und Täter, ihre Helfer und Mitläufer, aber auch die romafeindlichen Vorurteile und Klischees nicht einfach aus der deutschen Gesellschaft verschwunden. Das bekamen die Roma zu spüren, die die Verfolgung überlebt hatten, die von Todesmärschen, aus Lagern und Verstecken in ihre Heimat zurückkehrten, seelisch und körperlich schwer gezeichnet, ohne Hab und Gut und oft vor allem ohne ihre Liebsten.

Auf ihrem schweren Weg zurück ins Leben wurden sie von Politik, Verwaltung, Justiz und Gesellschaft in Westdeutschland kaum unterstützt. Im Gegenteil: Sie mussten erleben, wie die an ihnen und ihren Familien begangenen Verbrechen verschwiegen, verdrängt, verleugnet und sogar gerechtfertigt wurden.

Wissenschaftler, Ärzte und Polizisten, die während des Nationalsozialismus am Völkermord an den Roma mitgewirkt hatten, gelangten in der Bunderepublik wieder in Verantwortung, verbreiteten ihre rassistischen Anschauungen weiter, behaupteten, die Roma seien als Kriminelle und damit zu Recht verfolgt worden – eine Legende, die der Bundesgerichtshof in seinem skandalösen Urteil von 1956 bekräftigte, indem er bestritt, dass Zigeuner – wie es dort immer noch diskriminierend hieß – aus rassistischen Gründen verfolgt worden seien.

Den überlebenden Roma blieben damals Entschädigungen versagt. Täterinnen und Täter wurden nur selten angeklagt und fast nie verurteilt. Und schon bald wurden Roma, Jenische und Fahrende von Polizeibehörden wieder gesondert erfasst.

Viele Überlebende haben die Diskriminierung in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik als zweite Verfolgung empfunden. Und es stimmt: Es hat in unserem Land lange, viel zu lange gedauert, bis die an den Roma begangenen Verbrechen als Völkermord anerkannt wurden. Viele Roma und Romnja starben, bevor Deutschland die Verantwortung übernahm. Für viele kamen Entschädigungen zu spät.

Deshalb will ich wiederholen, was ich zum 40. Jahrestag der Gründung des Zentralrats gesagt habe: Im Namen unseres Landes bitte ich Sie um Vergebung – für das unermessliche Unrecht, das den Roma Europas in der Zeit des Nationalsozialismus von Deutschen angetan wurde, und für die Missachtung, die deutsche Sinti und Roma nach Kriegsende auch in der Bundesrepublik erfahren haben. Ich bitte Sie um Vergebung. Mangau tamen, prosaran man!

Dass der Völkermord an den europäischen Roma heute endlich einen Platz in der Erinnerungskultur unseres Landes hat, das haben wir nicht zuletzt den vielen engagierten Überlebenden, ihren Kindern und Enkeln zu verdanken, die sich europaweit zusammengeschlossen haben, um gegen das Vergessen und für ihre Rechte zu kämpfen. Menschen wie Mano Höllenreiner, Anita Awosusi oder Irina Spataru, die wir gleich noch hören werden, und Menschen wie Sie, lieber Romani Rose, als Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, der sich unermüdlich für dieses Denkmal hier in Berlin eingesetzt hat.

Mit diesem Gedenkort bekennt sich die Bundesrepublik Deutschland zu ihrer Verantwortung, die Erinnerung an den Völkermord an den europäischen Roma wachzuhalten. Dieser Ort ist ein ständiger Auftrag an Politik und Gesellschaft, an alle, die in unserem Land leben. Wir dürfen nicht vergessen, weil nie wieder geschehen darf, was geschehen ist!

Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass die Geschichten der Opfer lebendig bleiben, auch wenn es irgendwann keine Überlebenden mehr gibt, die sie uns erzählen können. Und wir müssen vor allen Dingen Wege finden, um junge Menschen entdecken zu lassen, was diese Geschichten mit ihnen und ihrer Lebenswelt heute zu tun haben. Wie das gelingen kann, davon werden uns gleich junge Roma und Romnja berichten.

In den zehn Jahren seit der Einweihung des Denkmals hat sich eine Menge getan. Dieser Gedenkort hat viele Menschen ermutigt, sich selbstbewusst als Roma zu erkennen zu geben. Das European Roma Institute for Arts and Culture macht die Kultur der Roma in all ihrer Vielfalt sichtbar. Mit dem RomArchive ist ein digitaler Raum entstanden, in der Roma ihre Musik, Kunst und Literatur endlich selbst präsentieren können. Und auch im Schloss Bellevue haben Roma, Sinti und Jenische 2019 gezeigt, wie sehr ihre Kultur unser Land und Europa bereichert.

Jahrhundertelang wurde in der europäischen Öffentlichkeit vor allem über die Roma gesprochen. Wissenschaftler, Politiker, Journalisten, Schriftsteller und Künstler betrachteten sie von außen und von oben herab, oft fasziniert und abschätzig zugleich. Sie vereinnahmten Roma für ihre Zwecke, erfanden Figuren, inszenierten Bilder, erneuerten Verallgemeinerungen Es sind diese Klischees, die bis heute dazu führen, dass Roma oft nicht in ihrer Individualität wahrgenommen werden.

Wir wissen: Klischees und Vorurteile lassen sich nur durch Aufklärung und Begegnung überwinden. Deshalb ist es so wichtig, dass Roma und Romnja selbst Gesicht zeigen, ihre Stimme erheben, ihre Geschichte und Kultur sichtbar und hörbar machen. Deshalb ist es so wichtig, dass Politik und Gesellschaft sie dabei weiterhin unterstützen. Und deshalb ist es so wichtig, dass es diesen Gedenkort gibt, an dem die unterschiedlichsten Menschen aus unserem Land, aus Europa und der ganzen Welt miteinander ins Gespräch kommen, hoffentlich offen und neugierig, und hoffentlich immer in gegenseitigem Respekt.

Denn obwohl sich so viel getan hat, obwohl es viele Gedenkorte, Selbstzeugnisse, engagierte Persönlichkeiten gibt, mangelt es in unserer Gesellschaft immer noch an Wissen über die lange Geschichte der Roma, der größten Minderheit Europas, deren Angehörige seit sechshundert Jahren in Deutschland und fast allen Teilen unseres Kontinents zuhause sind.

Es mangelt immer noch an Wertschätzung für den Beitrag, den Roma und Romnja seit ihrer Ankunft in Europa in Wirtschaft und Kultur, Gesellschaft und Politik geleistet haben, trotz der Hindernisse, Anfeindungen und Widerstände, auf die sie immer wieder stießen.

Und, meine Damen und Herren, Sie alle wissen aus eigener, bitterer Erfahrung: Die alten romafeindlichen Vorurteile halten sich immer noch hartnäckig in Teilen der Gesellschaft, und sie werden überall in Europa von rechtsradikalen oder nationalpopulistischen Kräften neu belebt.

Auch hier in Deutschland erfahren Roma in ihrem Alltag bis heute Diskriminierung – im öffentlichen Raum, in der Schule, auf dem Arbeitsmarkt, bei Behörden. Und wieder vermehrt werden sie heute zum Opfer von rassistisch motiviertem Hass und brutaler Gewalt, besonders in Ländern Ost- und Südosteuropas, aber auch bei uns – ich denke nur an den Mordanschlag in Hanau, bei dem 2020, kaum jemand weiß das, auch drei junge Roma starben.

Bis heute verheimlichen deutsche Roma ihre Herkunft, verbergen ihre Geschichte, ihre Sprache, ihre Kultur – aus Angst davor, gedemütigt, benachteiligt oder angefeindet zu werden. Das darf niemandem in unserem Land gleichgültig sein! Die alltägliche Diskriminierung von Roma und Romnja, die muss aufhören!

Gerade jetzt, in dieser Zeit des Krieges, der Krisen und Veränderungen müssen wir wachsam sein. Wir dürfen nicht zulassen, dass Ängste und Sorgen in der Gesellschaft dazu genutzt werden, Hass gegen Minderheiten zu schüren! Auch das gehört zur besonderen historischen Verantwortung unseres Landes.

Dieser Gedenkort ist auch ein Ort der Hoffnung auf eine bessere Zukunft in Deutschland und Europa. Eine Zukunft, in der kein Rom und keine Romni befürchten muss, benachteiligt zu werden, wenn er oder sie sich zur eigenen Herkunft bekennt. Eine Zukunft, in der wir als verschiedene Menschen gleichberechtigt und selbstbestimmt miteinander leben, in Frieden und in Freiheit.

Es fällt uns schwer, in diesen Wochen, in diesen Wochen des Krieges an eine solche Zukunft zu glauben. Aber ich bin überzeugt: Wir können im eigenen Land jeden Tag einen kleinen Beitrag leisten, um diesem Europa, dem Europa des Friedens, der Freiheit, der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung ein Stück näher zu kommen. Lassen Sie uns gemeinsam die Stimme erheben gegen Hass und Gewalt, gegen Roma- und Judenfeindlichkeit, gegen Menschenfeindlichkeit, von wem auch immer sie ausgeht und gegen wen auch immer sie sich richtet.

Barkrau man vono dschi. Herzlichen Dank!