Dass ich auf meiner Reise durch Japan hier bei Ihnen in der Doshisha-Universität zu Gast sein darf, freut mich ganz besonders. Denn die Geschichte dieser Hochschule, der mutige Pioniergeist und der innige Bildungswunsch, mit dem hier alles begann, beeindrucken mich.
Mit acht Schülern und zwei Lehrern nahm der einstige Samurai Joseph Hardy Neesima hier vor fast 150 Jahren den Unterricht auf. Jahre zuvor hatte er seiner Heimat Adieu gesagt und war heimlich per Schiff nach Amerika gereist, beseelt von dem Wunsch, die westliche Welt und das Christentum zu erkunden. Neesima kam zurück und schuf hier mit viel Weitblick für das, was die Welt braucht, eine Bildungseinrichtung. Seine Prinzipien von Freiheit und Unabhängigkeit haben bis heute Bestand, sein klarer moralischer Kompass weist uns bis heute den Weg.
Inzwischen ist die Doshisha-Universität längst zu einer international bedeutenden Hochschule geworden, die weltweit Kooperationen mit anderen Hochschulen pflegt. Besonders enge Beziehungen bestehen zu unserer deutschen Exzellenz-Universität in Tübingen, die hier in Kyoto vor dreißig Jahren mit ihrem Zentrum für Japanstudien die damals erste Zweigstelle einer europäischen Universität eröffnete.
Ich freue mich sehr, dass heute auch deutsche Studierende hier im Saal sind, die ein Jahr im Rahmen ihres Japanologie-Studiums an der Doshisha verbringen.
Unser Austausch heute, so meine ich, folgt dem Geist Ihres Hochschulgründers. Seine Einschätzung gilt heute mehr denn je : Nichts braucht diese Welt dringender als gut gebildete junge Menschen, die sich mit ihrem Wissen und ihrem Engagement um unsere Welt und unser aller Zukunft kümmern.
Denn im Bestreben, unser aller Zukunft auf diesem Planeten zu sichern, ist hier in Kyoto vor ziemlich genau 25 Jahren Weltgeschichte geschrieben worden. Erstmals hat hier die internationale Staatengemeinschaft einen völkerrechtlich bindenden Vertrag geschlossen, um den Klimawandel aufzuhalten.
Hier in Kyoto kamen damals zehntausend Menschen zur Weltklimakonferenz COP3 zusammen – Politiker, NGOs, Wissenschaftler, Beobachter. Nach zehn Tagen war noch keine Einigung erzielt – die Uhr wurde angehalten. Nach dreißig Stunden Verhandlungen war der Knoten durchschlagen. Man hatte sich durchgerungen und es geschafft, ein klares Reduktionsziel für den Ausstoß von Treibhausgasen zu benennen.
Die Entscheidung damals stieß auf ein geteiltes Echo – die einen jubelten über den Meilenstein, die anderen sagten: too little, too late.
Trotzdem: Blickt man heute auf die ikonischen Fotografien aus dem futuristisch anmutenden Tagungssaal, dann fühlt man sich fast an ein Raumschiff aus einem Science-Fiction-Manga erinnert, in dem sich Helden versammeln, um das Universum zu retten. Die Assoziation liegt, wie wir inzwischen alle angesichts der Zeichen des Klimawandels spüren, gar nicht so fern. Noch schneller als befürchtet schreiten Klimawandel und der Verlust von Biodiversität voran.
Nur wenn es uns in einer gemeinsamen Anstrengung aller Länder – und mit Forschung und Innovationsideen der klügsten Köpfe – gelingt, den weltweiten Klimawandel zu verlangsamen, können wir die Welt, in der wir leben, erhalten. Nur mit dem Austausch von Wissen, mit einem geteilten Verständnis von den Grenzen des Wachstums und mit Einigkeit darüber, dass wir gegenüber denjenigen in der Pflicht sind, die der Klimawandel früher und härter treffen wird, haben wir eine Chance, diese Menschheitsaufgabe zu bewältigen.
All das wäre Herausforderung genug. Nun aber leben wir seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine am 24. Februar in einer dramatisch veränderten Welt. Es ist, entgegen all dem, was Japan und Deutschland gemeinsam mit ihren Partnern beabsichtigt und angestrebt haben, eine schlechtere Welt geworden.
Der von Russlands Präsident Wladimir Putin begonnene brutale Krieg, der seit nunmehr acht Monaten Tod und Leid über die Ukraine bringt, ist eine Katastrophe, er ist ein Epochenbruch. Um als Weltgemeinschaft handlungsfähig zu bleiben, ist es wichtig, diesen Bruch nüchtern zu erkennen und daraus Schlussfolgerungen zu ziehen. Weltweit steigen die Preise, in vielen Ländern gerät die Energieversorgung unter Druck, wachsen Hunger- und Armutsrisiken.
Und für uns alle bedeutet dieser Krieg auch, dass der global drängende und entscheidende Kampf gegen den Klimawandel von zwei weiteren Problemen beeinträchtigt wird: In einer Welt, in der viele Länder unter dem Eindruck des Krieges stehen und versuchen, die wirtschaftlichen Folgen zu bewältigen, ist weniger Raum für andere Themen. Und in dieser Welt wächst zudem die Angst. Niemand kann derzeit mit Sicherheit vorhersagen, welche Folgen es für die Weltgemeinschaft haben wird, dass Russland sich entschlossen hat, die gemeinsame Rechts- und Werteordnung zu zerstören.
Unsicherheit und Angst aber sind keine guten Voraussetzungen, um Innovationen auszuprobieren und global neue Wege zu gehen. Die Welt ist also unter Druck, sie ist herausgefordert – noch mehr, als wir es bis vor kurzem ahnten.
Wir Europäer sind zutiefst dankbar, in dieser Situation einen so wichtigen und verlässlichen Partner wie Japan an unserer Seite zu haben. Denn in dieser gefährlichen, unsicheren und ungewissen Weltlage kommt es noch mehr als sonst darauf an, dass wir uns untereinander abstimmen und gemeinsam handeln. Nur gemeinsame Festigkeit bringt uns unseren Zielen näher.
Dieser Krieg muss enden! Und er kann nicht enden, ohne dass sich Russland aus der Ukraine zurückzieht. Es darf zugleich nicht passieren, dass der Krieg in Europa den Kampf gegen den Klimawandel entscheidend verlangsamt. Es liegt in unserer Hand, diese für uns überlebenswichtige Aufgabe weiter zu verfolgen. Der Klimawandel macht keine Ukraine-Pause. Und deswegen dürfen wir auch in unseren Anstrengungen nicht nachlassen!
Und auch wenn in dieser Zeit die globalen Vorzeichen auf Konfrontation stehen, so ist es doch unsere Verantwortung – auch unsere deutsche Verantwortung –, dafür zu sorgen, dass ein Mindestmaß an internationaler Kooperation erhalten bleibt – das heißt: auch Kooperation über politische Gegensätze hinweg. Denn ohne Kooperation werden wir die Menschheitsaufgabe Klimawandel niemals bewältigen können.
Als enge Partner und führende Industrienationen arbeiten Japan und Deutschland schon heute gemeinsam, um ihre Volkswirtschaften klimaneutral zu machen. So wie schon auf dem Feld der Kreislaufwirtschaft, für das unter der deutschen G-7-Präsidentschaft die Berlin Roadmap
verabschiedet wurde, könnten wir auch bei anderen Themen gemeinsam vorankommen.
Ein solches Thema ist die verheerende Vermüllung unserer Ozeane mit Plastik. Unvorstellbare Zwölf Millionen Tonnen an Plastikabfällen gelangen jedes Jahr ins Meer. Sie bedrohen ganze Ökosysteme existenziell. Blauwale nehmen mit ihrer Nahrung jeden Tag bis zu zehn Millionen Mikroplastikteile auf, wie eine gerade erschienene Studie zeigt. Die Zeit drängt. Jeder Tag zählt, um weitere irreparable Schäden zu verhindern, vor denen Wissenschaftler schon so lange warnen. Es ist entscheidend, dass unsere Nationen hier bei den anstehenden Verhandlungen für das Plastikmüll-Abkommen gemeinsam vorankommen.
Der Geist von Kyoto muss weiterleben – wir dürfen trotz aller Krisen nicht dahinter zurückfallen, im Gegenteil: Wir müssen noch darüber hinaus! Hoffen wir gemeinsam, dass die in wenigen Tagen beginnende Klimakonferenz in Sharm El Sheikh den Ehrgeiz aufbringt, die Verabredungen von Paris und Glasgow nun konsequent umzusetzen.
Die Vorreiter im Klimaschutz hatten jahrzehntelang damit zu kämpfen, dass viele Menschen auf der ganzen Welt nicht verstanden – oder nicht verstehen wollten –, wie existenziell eine entschlossene Politik gegen die Erderwärmung ist. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wie die Nobelpreisträger Klaus Hasselmann und Syukuro Manabe haben lange vor dem Vertrag von Kyoto mit ihren Forschungen, Messungen und Modellierungen – und auch mit manchem Appell – beharrlich klargemacht, wie entscheidend die globale Zukunft von unser aller Handeln in der Gegenwart abhängt. Das ist Warnung und Ermutigung zugleich. Wir haben es in der Hand. Lassen wir uns nicht lähmen von der Angst – gehen wir jetzt die Schritte hin zum notwendigen Umbau unserer Gesellschaften! Nicht in Schockstarre, nicht mit wütendem Protest werden wir Erfolg haben. Sondern im mühsamen Abarbeiten der Aufgaben, die jetzt vor uns liegen.
Orte wie dieser machen mir hierfür Mut. Vor genau einhundert Jahren hat ein anderer deutscher Physiker – Sie werden ihn kennen: Albert Einstein – hier in Kyoto die Entstehungsgeschichte seiner Relativitätstheorie erläutert. Aus seinen Erkenntnissen haben Geo- und Quantenforscher neue Methoden entwickelt, die heute bei der Klimaforschung helfen.
Diese Geschichte ist eine Ermutigung: Sie erzählt von der Kontinuität des kühnen wissenschaftlichen Denkens, in der immer wieder Großes geleistet worden ist und wird. Ja, wir stecken mitten in einer Menschheitsaufgabe – aber wir haben Grund zu Zuversicht, sie zu bewältigen. Dafür braucht die Welt Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wie Sie: Wir hoffen auf Ihren Geist, Ihr Wissen, Ihre Ideen für den Schutz der weltweiten Biodiversität, für die Verlangsamung der Erderwärmung, für innovative Unternehmen, die klimaneutral und zukunftsträchtig sind. Wir alle setzen auf Sie.
Ich freue mich sehr auf die Diskussion. Herzlichen Dank.