Tagung "Wie erinnern wir den 9. November? Ein Tag zwischen Pogrom und demokratischen Aufbrüchen"

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 9. November 2022

Der Bundespräsident hat die gemeinsam mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland veranstaltete Tagung "Wie erinnern wir den 9. November? Ein Tag zwischen Pogrom und demokratischen Aufbrüchen" am 9. November in Schloss Bellevue mit einer Rede eröffnet: "Wie können wir der unterschiedlichen historischen Ereignisse, derer von 1918, 1938 und 1989, so gedenken, dass nicht eines dem historischen Vergessen anheimfällt? Das ist keine nebensächliche Frage, sondern sie gehört in das Zentrum unseres Selbstverständnisses."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei einer Ansprache zur Eröffnung der Tagung 'Wie erinnern wir den 9. November? Ein Tag zwischen Pogrom und demokratischen Aufbrüchen' im Großen Saal in Schloss Bellevue

Ich darf Sie alle ganz herzlich willkommen heißen hier in Schloss Bellevue zu einer Diskussion über den 9. November, zu der ich gemeinsam mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland eingeladen habe. Und deshalb vielen Dank stellvertretend an Sie, lieber Herr Dr. Schuster, für diese Kooperation. Ich danke allen, die sich bereitgefunden haben, nachher auf dem Podium mit dabei zu sein und uns an ihrem Wissen, ihren Erfahrungen und ihren Einschätzungen teilhaben zu lassen. Und danke Ihnen allen, liebe Gäste, die Sie nicht nur gekommen sind, um heute Morgen und im weiteren Verlauf des Tages zuzuhören, sondern die sich entschlossen haben, sich auch kräftig einzumischen in diese Debatte im Laufe des Tages.

Der 9. November stellt uns in jedem Jahr neu vor die Aufgabe: Wie können wir der unterschiedlichen historischen Ereignisse, derer von 1918, 1938 und 1989, so gedenken, dass nicht eines dem historischen Vergessen anheimfällt? Das ist keine nebensächliche Frage, sondern sie gehört in das Zentrum unseres Selbstverständnisses, wie ich im letzten Jahr gesagt habe. An der Art und Weise, wie wir Deutsche unseren 9. November – oder unsere verschiedenen 9. November – in Erinnerung halten, wie wir ihrer würdig und angemessen gedenken, entscheidet sich unsere Identität.

An diesem Tag wird uns ja, wenn wir uns alle seine Aspekte wirklich wahrhaftig vor Augen führen, immer wieder deutlich, zu welch großartigen Möglichkeiten und demokratischen Aufbrüchen einerseits und zu welchen Abgründen, zu welchen entsetzlichen Verbrechen andererseits wir hier in Deutschland fähig waren. Und es wird uns immer wieder neu an diesem Tag die Frage danach gestellt, wie wir heute und morgen, jetzt und in Zukunft gemeinsam leben wollen, worauf wir uns in diesem Land gemeinsam verpflichten, wonach wir in diesem unseren gemeinsamen Land miteinander streben wollen.

Wenn man so will, fragt uns der 9. November wie kein anderer Tag, ob wir die drei großen Ziele aus unserer Nationalhymne wirklich ernst nehmen: Freiheit, Recht, Einigkeit.

Der 9. November 1918 stellt uns die Frage: Wollen wir in Freiheit leben, wollen wir unser Leben und unser Gemeinwesen selbstbestimmt und demokratisch in die eigenen Hände nehmen? Wollen wir die Institutionen unserer Demokratie respektieren, wollen wir uns autoritären Versuchungen, medialen Manipulationen entschieden verweigern?

Der 9. November 1938 fragt uns eindringlich: Wollen wir die Herrschaft des Rechts immer und für alle in unserem Land anerkennen? Das Recht auf Leben, auf Freiheit, auf Gleichheit, das Recht auf die eigenen Überzeugungen, Lebensweisen und Glaubensbekenntnisse? Wollen wir uns dem Unrecht, der Diskriminierung, der Missachtung jeden Andersseins und wollen wir uns vor allem dem Antisemitismus entschieden entgegenstellen?

Und der 9. November 1989 schließlich stellt uns die Frage: Wollen wir in unserem Land Einigkeit leben? Keine Mauern akzeptieren, weder physische noch mentale? Nicht als genormte Einheitstypen, sondern in der Einigkeit der Verschiedenen in ihrer jeweiligen Besonderheit: Einigkeit von West und Ost, von Stadt und Land, von Frau und Mann, von Jung und Alt, von hier Geborenen und später Dazugekommenen?

Genau vor einem Jahr – viele erinnern sich – haben wir es genau an dieser Stelle hier unternommen, den 9. November in all seinen Facetten, den dunklen wie den hellen, den freudigen und den traurigen und den noch immer belastenden zu erinnern.

Vor einem Jahr waren hier im Schloss Bellevue die Spitzen der Verfassungsorgane, die Bundeskanzlerin, die Bundestagspräsidentin, der Bundesratspräsident, der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, dazu der Präsident des Europäischen Rates, eine ganze Reihe von Abgeordneten und Vertretern der Religionsgemeinschaften zu Gast. Mit Texten und Liedern haben wir erinnert an die Ausrufung der ersten deutschen Republik nach dem Ersten Weltkrieg 1918, an die Pogromnacht von 1938 und auch an den Freiheitsjubel der Nacht des 9. November 1989.

Zu uns hat vor einem Jahr Margot Friedländer gesprochen, die gerade einhundert Jahre alt geworden war, Augenzeugin und Überlebende der Shoah. Zu uns gesprochen hat auch die jüngste Abgeordnete des 20. Deutschen Bundestages, Emilia Fester, über Erinnerung und Verpflichtung aus 1918. Und schließlich hat der Bürgerrechtler und ehemalige Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Roland Jahn, unseren Blick auf die Ereignisse und die Folgen des November 1989 gelenkt. Den Beteiligten und den Gästen der Veranstaltung vor einem Jahr war klar, dass das ein Experiment war – ein längst fälliges, wie einige meinten, ein zu gewagtes, wie andere befürchtet haben. Ja, es war ein Experiment, in einer knapp zweistündigen Zusammenkunft das zusammenzuführen und dessen gemeinsam zu gedenken, was doch so schwer miteinander zu verbinden ist.

Diese Veranstaltung vor einem Jahr hat Zuspruch gefunden. Der 9. November – oder die verschiedenen 9. November – wurden in ihrer jeweiligen Besonderheit, aber auch in ihrem historischen Bezug aufeinander deutlich. Wir konnten zeigen: Es ist möglich, der hellsten und der dunkelsten Stunden deutscher Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts, so sperrig sie sich auch gegeneinander stellen, gemeinsam zu gedenken und sie in ihrer jeweiligen Bedeutung für die Gegenwart ins Gedächtnis zu rufen und vor allen Dingen zu behalten.

Eine solche Gedenkstunde in Berlin mit den Spitzen des Staates und vor den Augen von Kameras ist wichtig, aber, und deshalb sind wir heute hier, es reicht natürlich nicht aus. Meine Frage ist deshalb: Wie gelingt es, ein solches Nachdenken am und über den 9. November in all seinen Facetten noch stärker in unserem ganzen Land zu verankern? In der ganzen Gesellschaft? In Schulen und Kommunen, in Ost und West?

Um eines ganz deutlich zu sagen: Es geht mir nicht darum, die alte Debatte über unseren Nationalfeiertag und das richtige Datum dafür aufzuwärmen; das bringt uns nicht weiter, glaube ich. Aber es gibt andere Formen und Formate, mit denen wir Gedenktage und Erinnerungstage lebendig und für die Gegenwart bedeutsam machen können. Und nach solchen müssen wir immer neu suchen.

Viel mehr möchte ich von hier aus auf dem Podium selbst gar nicht sagen. Denn wir sind ja hier, um aus unterschiedlichsten Perspektiven zu erfahren, wie der 9. November in unserem Land schon begangen wird oder was er für die Gegenwart und für die Zukunft bedeuten könnte. Es ist gut und sinnvoll, dass wir uns heute, an dem Tag selbst, die Gelegenheit nehmen, gemeinsam darüber nachzudenken und Anregungen aus den verschiedensten Blickwinkeln zu bekommen. Und ich bleibe dabei – das, was ich im letzten Jahr schon gesagt habe: Die Ambivalenz auszuhalten, das gehört wohl dazu, wenn man Deutscher ist.

Ich freue mich, und sage es noch einmal, besonders darüber, dass ich diese Veranstaltung heute gemeinsam mit dem Zentralrat der Juden ausrichten kann. Das war mir sehr wichtig. Es kann keinen Zweifel darüber geben, dass der 9. November für immer ein schmerzlicher Gedenktag bleiben wird, der uns mit der jüdischen Gemeinschaft unseres Landes besonders verbindet. Der 9. November 1938 – nein, war nicht der Beginn der Verfolgung. Aber was an diesem Tag der offenen Gewalt geschah, war der für alle sichtbare Vorschein der dann folgenden, genau geplanten und mit brutaler Konsequenz durchgeführten Entrechtung, Verschleppung und schließlich Vernichtung der Juden Deutschlands und Europas.

Eines ist gewiss: In unserem Land wird niemals wahrhaftig des 9. Novembers gedacht werden können, ohne den Zivilisationsbruch des Holocausts zu erinnern. Immer wird uns der 9. November zum Kampf gegen den Antisemitismus auffordern. Dass wir heute in einer gemeinsam mit dem Zentralrat der Juden konzipierten Veranstaltung überlegen, wie wir die Zukunft der so verschiedenen 9. November unserer Geschichte gedenken können, ist mir und war mir besonders wichtig.

Ich wünsche uns allen, dass wir heute viel Stoff zum Nachdenken bekommen, viele Anregungen und Hinweise für ein zukünftiges und angemessenes Gedenken des 9. November. Nochmals: Ich danke Ihnen allen, dass Sie hier sind. Ein herzliches Willkommen Ihnen allen.