Besuch des Parlaments der Republik Nordmazedonien

Schwerpunktthema: Rede

Skopje/Nordmazedonien, , 29. November 2022

Der Bundespräsident hat am 29. November im Parlament von Nordmazedonien in Skopje gesprochen: "Ich bin mir bewusst, dass der Weg in die Europäische Union alles andere als einfach ist, dass Vertrauen und Geduld in mühseligen Verhandlungen strapaziert und vielleicht manchmal gar überstrapaziert worden sind. Aber meine Bitte an Sie, die Abgeordneten dieses Parlamentes, und an alle Bürgerinnen und Bürger Nordmazedoniens ist: Gehen Sie den Weg des Beitrittsprozesses entschlossen weiter. Machen Sie nicht auf den letzten Metern kehrt!"

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei einer Rede im Parlament der Republik Nordmazedonien in Skopje

Herzlichen Dank für Ihre Einladung ins Parlament der Republik Nordmazedonien – es ist mir eine Ehre, heute zu Ihnen sprechen zu dürfen. Denn es ist kein halbes Jahr her, dass Sie hier in diesem Saal Geschichte geschrieben haben: Als Sie am 16. Juli dieses Jahres die sicherlich für keine und keinen von Ihnen einfache Entscheidung getroffen haben, dem Protokoll mit Bulgarien zuzustimmen, um auf Nordmazedoniens Weg in die Europäische Union weiter voranzuschreiten. Das Bild, wie die mazedonische Flagge und die Flagge der EU hier in diesem Saal nach der Abstimmung geschwenkt wurden, dieses Bild haben wir in Deutschland mit Freude, mit Erleichterung und mit großer Hochachtung vor Ihnen allen und dem ganzen Land aufgenommen.

Selbstverständlich haben wir auch die anderen Bilder rund um die Abstimmung wahrgenommen: Die Plakate hier im Saal und vor diesem Parlament, die ein Nein! forderten, auch die Bilder von den Demonstrationen in Skopje und in weiteren Städten Ihres Landes.

Das Protokoll mit Bulgarien, die notwendige Verfassungsänderung: Diese Themen bewegen die Menschen in Ihrem Land, geht es doch um Fragen von nationaler Identität, von mazedonischer Geschichte, Sprache und Kultur. Es ist sicherlich richtig, diese Debatten mit Leidenschaft zu führen. Wichtige gesellschaftliche Debatten brauchen auch Leidenschaft.

Ich finde, Sie können diese Debatten selbstbewusst führen. Sie allein, die Menschen Nordmazedoniens, prägen und bestimmen, was Ihr Land ausmacht. Sie entscheiden, wie die mazedonische Identität heute aussieht und wie sie in Zukunft aussehen wird! So, wie sie es seit dreißig Jahren in Ihrem Land tun; so, wie es der mazedonische Schriftsteller Blaže Koneski formulierte: Die Sprache ist unsere Heimat. Ich hoffe sehr, dass die mazedonische Kultur bald die kulturelle Vielfalt in der Europäischen Union bereichert! Und ich bin in diesen Tagen hier, um noch mehr darüber zu lernen.

Ich bin mir bewusst, dass der Weg in die Europäische Union alles andere als einfach ist, dass Vertrauen und Geduld in mühseligen Verhandlungen strapaziert und vielleicht manchmal gar überstrapaziert worden sind. Aber meine Bitte an Sie, die Abgeordneten dieses Parlamentes, und an alle Bürgerinnen und Bürger Nordmazedoniens ist: Gehen Sie den Weg des Beitrittsprozesses entschlossen weiter. Machen Sie nicht auf den letzten Metern kehrt!

Hier, in diesem Saal, können Sie gemeinsam erneut Geschichte schreiben. Ich bin mir sicher, dass Sie wieder leidenschaftlich und selbstbewusst debattieren werden. Aber bei dieser Verfassungsänderung geht es um mehr als um einen Punktsieg in einer innenpolitischen Debatte, es geht um mehr als parteipolitische oder persönliche Profilierung. Jetzt ist nicht die Zeit, um in vereinfachende Formeln und nationalistische Anklänge zu verfallen. Meine Bitte ist: Verlieren Sie nicht das so lange verfolgte Ziel, den seit siebzehn Jahren angestrebten EU-Beitritt, aus den Augen. Ich bin sicher: Der Weg nach Europa, er lohnt auch den nächsten, schwierigen Schritt!

Mit meinem Blick aus Deutschland kann ich Ihnen versichern: Wir haben große Hochachtung vor Ihrem Land. Und diese Hochachtung haben wir nicht erst, seit die Fußballnationalmannschaft Nordmazedoniens im vergangenen Jahr in Duisburg bei der WM-Qualifikation triumphierte.

Unsere Hochachtung, meine Hochachtung, rührt von Ihrem durchaus steinigen Weg in die Europäische Union. Ihr Land hat immer wieder enormen politischen Mut bewiesen. Das Abkommen von Ohrid 2001, das Prespa-Abkommen mit Griechenland 2018/2019 zeigen, dass Ihr Land beherrscht, was vielleicht das schwierigste Geschäft der Demokratie überhaupt ist: schmerzhafte Debatten zu führen, Interessenkonflikte aufzulösen, Kompromisse einzugehen und so schwierige Probleme von nationaler Tragweite dauerhaft zu lösen. Dafür zolle ich Ihnen auch ganz persönlich meinen Respekt.

Ich beobachte und begleite den Weg der Staaten des westlichen Balkans in die EU bereits seit den neunziger Jahren. An vielen Weichenstellungen durfte ich in meiner Zeit als Außenminister beteiligt sein, insbesondere am Berlin-Prozess seit dem Jahre 2014.

Zwei Dinge sind in meinen Augen wichtig. Erstens: Ohne den Westbalkan und ohne Nordmazedonien ist die EU unvollständig. Aber zweitens muss zugleich gelten: Schon heute muss der Beitrittsprozess konkrete Verbesserungen für die Mazedonierinnen und Mazedonier, für die Menschen auf dem gesamten westlichen Balkan bringen.

Dafür braucht es politische und wirtschaftliche Reformen ebenso wie Reformen im Justizbereich – Reformen, von denen die Menschen im Alltag profitieren werden. Nordmazedonien ist auf einem sehr guten Weg, wie die erste EU-Beitrittskonferenz und auch der Länderbericht der EU-Kommission bewiesen haben. Auf dem kommenden Weg warten viele weitere Verbesserungen für die Bürgerinnen und Bürger Ihres Landes. Ich nenne nur die Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung und zur Modernisierung der öffentlichen Verwaltung.

Dass die Staaten des Westbalkans und Deutschland gerade jüngst, Anfang November, in Berlin viele weitere konkrete Projekte voranbringen konnten, das macht doch Mut – nicht nur uns, auch Ihnen! Bald kann man nur noch mit einem Personalausweis die Grenzen hier in der Region überqueren, bald kann man Arbeit und Ausbildung auch in einem anderen Westbalkanstaat aufnehmen, weil Bildungsabschlüsse untereinander anerkannt werden. Schon seit 2021 gibt es keine Roaminggebühren mehr auf dem Westbalkan und der Gemeinsame Regionale Markt wird alle Länder in der Region wirtschaftlich weiter voranbringen. All das vereinfacht, all das verbessert das Leben der Bürgerinnen und Bürger in Ihrem Land, und nicht nur in Ihrem Land, sondern auch in den anderen Westbalkanstaaten.

Der EU-Beitritt wird den Bürgerinnen und Bürgern von Nordmazedonien das Tor zum europäischen Binnenmarkt öffnen, zum größten Handelsblock der Welt, zur Freizügigkeit für die allermeisten Waren und Dienstleistungen. Und das Tor zu 450 Millionen Europäerinnen und Europäern, zum Arbeiten, zum Leben, zum Reisen auf unserem Kontinent. Wir freuen uns, Sie hier in Nordmazedonien durch dieses Tor gehen zu sehen!

Gerade jetzt, im Angesicht des Krieges in der Ukraine, ist es ungeheuer wichtig, dass wir in verlässlichen Partnerschaften in Europa zusammenstehen, dass wir uns gegenseitig stärken, dass wir uns gegenseitig unterstützen. Wir erleben, wie Russland gewaltsam Grenzen verschieben will, den ukrainischen Bürgerinnen und Bürgern seine Herrschaft aufzuzwingen versucht.

Der 24. Februar dieses Jahres war ein Epochenbruch. Er hat uns in eine andere Zeit, in eine eigentlich schon überwunden geglaubte Unsicherheit gestürzt: Eine Zeit, jetzt gezeichnet von Krieg, Gewalt und Flucht, von Sorge vor der Ausbreitung des Krieges zum Flächenbrand in Europa.

Gerade in diesen Zeiten leuchten doch die Errungenschaften der Europäischen Union besonders hell. Als Wertegemeinschaft stehen wir denen zur Seite, die angegriffen werden. Wir lassen nicht zu, dass ein großer Staat einen kleineren Nachbarn gewaltsam niederringen will. Die Europäische Union steht für die Herrschaft des Rechts, für Wohlstand und Freiheit, und sie bleibt das größte Friedensprojekt, nach innen wie nach außen. Vor fast genau zehn Jahren, am 10. Dezember 2012, hat die Europäische Union daher den Friedensnobelpreis erhalten, wegen ihres Beitrags zur Versöhnung zwischen ehemals verfeindeten Nachbarn, zwischen den Menschen in Europa.

Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine hat die Hoffnung auf eine zunehmend friedlichere Welt zerstört. Umso wichtiger ist es, dass die Staaten Europas zusammenstehen und sich in einer partnerschaftlichen Union gegenseitig Sicherheit bieten.

Und in der Tat: Putins Aggression hat Europa nicht gespalten, sondern eher noch enger zusammengeschweißt. Nordmazedonien spielt dabei eine wichtige Rolle: in den Vereinten Nationen, seit mehr als zwei Jahren als Partner in der NATO, und mit seiner festen Unterstützung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union, auch des erhöhten wirtschaftlichen Drucks auf Russland, auch mit Waffenlieferungen und auch mit Ihren offenen Armen für Flüchtlinge.

Ihr Land ist ein verlässlicher Partner für die Ukraine, aber nicht nur für die Ukraine, sondern für uns alle in Europa. Daher freue ich mich besonders, dass Nordmazedonien zum 1. Januar 2023 erstmals den Vorsitz in der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa übernimmt. Auch ich war 2016 Chairman in Office der OSZE und habe deshalb ganz besonders großen Respekt vor all den Aufgaben, die jetzt vor Ihnen liegen. Die ohnehin schwierige Arbeit in der OSZE ist mit dem 24. Februar dieses Jahres noch ungleich schwieriger geworden. Doch ich bin mir sicher: Wir alle werden von Ihrem politischen Mut, von Ihrem Verhandlungsgeschick, von Ihren Erfahrungen in regionaler Zusammenarbeit und Konfliktbewältigung profitieren können. Deshalb danke ich Ihnen für Ihre Bereitschaft zum Engagement, ich danke Ihnen für Ihren Willen, Führungsverantwortung zu übernehmen – und freue mich schon jetzt darauf, dass wir dies eines Tages auch in der Europäischen Union erleben können, unter der ersten mazedonischen EU-Ratspräsidentschaft!

Ich setze fest darauf, dass die intensiven bilateralen Beziehungen zwischen Nordmazedonien und Deutschland weiter Auftrieb erhalten. Schon heute ist Nordmazedonien ein geschätzter Wirtschaftsstandort bei über 200 Unternehmen mit deutschem Kapital, die zu den größten Arbeitgebern hier im Land gehören, etwa 20.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigen und vielen jungen Menschen hier in Nordmazedonien auch eine Ausbildung bieten. Mehr als 30 Prozent der Exporte Nordmazedoniens gehen nach Deutschland.

Mehr als 100.000 Ihrer Landsleute leben in Deutschland, sorgen als Netzwerk für enge menschliche Verbindungen zwischen unseren beiden Ländern. Das wirtschaftliche Engagement Deutschlands hier in Nordmazedonien wird, so hoffe ich, dazu führen, dass sich mehr und neue Perspektiven für die Menschen hier in Ihrem Land bieten, dass Ausbildungsangebote und Jobs mit guten Arbeitsbedingungen entstehen, hier in ihrer Heimat, in Nordmazedonien.

Von den guten wirtschaftlichen Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern darf ich mich morgen bei einem wichtigen Zukunftsprojekt überzeugen: In Bogdanci besichtige ich den ersten Windpark auf dem Westbalkan. In nur 18 Monaten mit deutscher Unterstützung gebaut, ist dieser Windpark ein wirklicher Meilenstein für eine zukünftige ökologischere Energieversorgung in Ihrem Land. Auch das größte derzeit geplante deutsche Investitionsprojekt ist ein Windpark, der Veteren Park Virovi, der in der Endstufe 290.000 Haushalte versorgen soll.

Die Windparks weisen uns den Weg: Wir müssen die wirtschaftlichen Chancen der ökologischen Transformation nutzen und gleichzeitig das Potenzial für Energiesicherheit heben! Das ist für Nordmazedonien wie für Deutschland eine Lehre aus dem russischen Angriffskrieg. Und es ist für uns alle eine Überlebensnotwendigkeit angesichts der immer dramatischeren Folgen des Klimawandels, den wir in Deutschland spüren, den Sie hier in Nordmazedonien spüren, und der in anderen Teilen der Welt, auf anderen Kontinenten der Welt, noch schlimmere Folgen hat.

Morgen darf ich mit Hatidže Muratova sprechen und mit anderen Filmschaffenden von Land des Honigs diskutieren. Wenn Muratova, eine der letzten Wildimkerinnen Europas, Waben und Honig entnimmt, sagt sie zu ihren Bienen: Eine Hälfte für mich und eine Hälfte für euch. Diese Botschaft dieses gleichermaßen ausdrucksstarken wie erfolgreichen mazedonischen Films ist um die Welt gegangen – wir kennen sie auch in Deutschland. Land des Honigs ist in meinen Augen zweierlei: Ausdruck der stolzen Kultur eines kleinen Landes und zugleich Überbringer einer größeren Botschaft, die weit über die Grenzen eines einzelnen Landes hinaus Geltung hat – wir dürfen die Gaben der Natur nicht völlig ausbeuten, unsere Umwelt nicht unwiederbringlich zerstören. Das ist die Aufgabe, die der Menschheit gestellt ist. Und bei dieser Aufgabe wollen wir, Deutschland und Nordmazedonien, zusammenarbeiten.

Vor Ihnen, vor uns allen liegen gewaltige Aufgaben: Der Kampf gegen den Klimawandel, die soziale und ökologische Transformation unserer Wirtschaft, die Folgen des brutalen russischen Angriffskrieges, das Zusammenstehen in Europa. Diese Herausforderungen lassen sich leichter gemeinsam, lassen sich leichter in verlässlichen Partnerschaften, in politischen Gemeinschaften bewältigen. Deutschland und die EU stehen an der Seite Nordmazedoniens. Wir setzen darauf, dass unser Weg weiterhin ein gemeinsamer Weg sein wird, ein Weg innerhalb der Europäischen Union!

Im Jahrhundertroman Quecke beschreibt Petre Andreevski eindrücklich das Schicksal der Mazedonier Jon und Velika zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Der Roman führt uns, bei allem Leid, vor Augen, dass es etwas gibt, das stärker und wichtiger ist als nationalistische Interessen und politische Streitigkeiten: die unbändige Sehnsucht nach dem friedlichen Leben, wie der Roman in seiner deutschen Übersetzung beworben wird.

Diese Sehnsucht, es gibt sie heute, es gibt sie überall in Europa, es gibt sie auch hier, über hundert Jahre später. Lassen Sie uns dieser unbändigen Sehnsucht nach Frieden und nach Freiheit eine gemeinsame Heimat geben: eine gemeinsame Heimat in Europa!