Mittagessen mit dem Präsidenten der Republik Albanien

Schwerpunktthema: Rede

Tirana/Albanien, , 1. Dezember 2022

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat bei einem Mittagessen auf Einladung des Präsidenten der Republik Albanien Bajram Begaj am 1. Dezember in Tirana eine Ansprache gehalten: "wenn wir uns heute begegnen, dann ist dieses Treffen nicht von den Schatten der Vergangenheit geprägt, sondern von den großen Hoffnungen für die Zukunft. Von der Freude über den Beginn der Beitrittsverhandlungen Ihres Landes mit der Europäischen Union. Und der Vorfreude auf eine durch Albaniens Mitgliedschaft bereicherte EU. Das europäische Projekt ist unvollständig ohne den Beitritt Albaniens!"

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei einer Rede bei einem Mittagessen auf Einladung des Präsidenten der Republik Albanien, Bajram Begaj, im Brigadepalast in Tirana

Mikpritja – so lautet das albanische Wort für das, was ich heute hier erleben darf: Gastfreundschaft. Und ein albanisches Sprichwort sagt: Das Haus des Albaners gehört Gott und dem Gast.

Was Gastfreundschaft für die Albanerinnen und Albaner bedeutet, das erlebt man zum Beispiel als Tourist, wenn man Ihr Land bereist und selbst in den abgelegensten Dörfern spontan von den Menschen zum üppigen Essen eingeladen wird. Diese Tradition gab es, wie ich gehört habe, auch in den kommunistischen Zeiten, in den Zeiten der Abschottung. Man kann es heute noch nachlesen: Damals kamen organisierte Reisegruppen in Ihr Land, denen das Regime das offizielle Albanien zeigen wollte. Auch hier kam es – gegen den Willen der kommunistischen Aufpasser – zu spontanen Einladungen. Die Albanerinnen und Albaner interessierten sich, wenn sie Fremde trafen, nicht für die Verhaltensvorgaben des kommunistischen Regimes. Ihre Tradition war stärker. Ihr unbändiger Freiheitsgeist war stärker.

Aber die Tradition der albanischen Gastfreundschaft hat noch eine viel tiefere, eine existenzielle Bedeutung. Sie ist, wenn es darauf ankommt, ein Schutzversprechen, der albanische Begriff dafür lautet Besa. Das Wort steht auch im Zusammenhang mit der Rettung von etwa zweitausend Juden, die während des Zweiten Weltkrieges nach Albanien flüchteten und hier aufgenommen wurden. Für die Albanerinnen und Albaner, für die das Gastrecht über alles geht, gehörte es sich so, weil man es über Jahrhunderte genau so gehalten hatte, weil es Tradition war. Dieser Teil Ihrer Geschichte beeindruckt mich besonders, ja er berührt mich.

Ich musste auch an diesen Teil der albanischen Geschichte denken, als wir eben das Denkmal der Mutter Albanien besucht haben. Dieser Ort ist ein Symbol dafür, dass Albanien zu oft Spielball totalitärer Ideologien war. Aber Ihr Land hat sich immer seinen freiheitlichen Geist bewahrt – und dieser Geist trägt es nun in die Europäische Union.

Sehr verehrter Präsident Begaj, wenn wir uns heute begegnen, dann ist dieses Treffen nicht von den Schatten der Vergangenheit geprägt, sondern von den großen Hoffnungen für die Zukunft. Von der Freude über den Beginn der Beitrittsverhandlungen Ihres Landes mit der Europäischen Union. Und der Vorfreude auf eine durch Albaniens Mitgliedschaft bereicherte EU. Das europäische Projekt ist unvollständig ohne den Beitritt Albaniens!

Ich werde in diesen zwei Tagen Orte besuchen, die für den gemeinsamen Austausch, für Zusammenarbeit und Toleranz stehen, also für das, was die Europäische Union im Kern ausmacht. Besonders freue ich mich auf den Besuch einer Schule, in der im Rahmen des Regionalen Jugendwerkes RYCO Jugendliche aus den westlichen Balkanstaaten zusammen lernen. Auch der Besichtigung der Königsmoschee sehe ich mit Freude entgegen: Es ist ein historischer Schritt, wenn mit Albanien ein mehrheitlich muslimisches Land Mitglied der Europäischen Union sein wird.

Sehr verehrter Herr Präsident Begaj, im Namen der gesamten deutschen Delegation danke ich Ihnen für die Einladung. Sie stehen als Präsident auch ganz persönlich für die proeuropäische Ausrichtung Albaniens. Sie haben ein europäisches Albanien kurz nach Ihrer Wahl als Versprechen bezeichnet. Dieses Versprechen wird nun in der Zukunft eingelöst. Ich freue mich auf den Austausch mit Ihnen, einem albanischen Patrioten und überzeugten Europäer. Ich bin froh über die guten Beziehungen unserer beiden Länder. Ich freue mich auf viele interessante Begegnungen. Und ich erhebe mein Glas auf die Freundschaft, die unsere Länder verbindet, auf Albanien – und auf eine gute, gemeinsame gute Zukunft in der Europäischen Union!