Änderungen vorbehalten. Es gilt das gesprochene Wort.
Ich weiß nicht, ob schon einmal jemand darauf gekommen ist, Ilja Richter und Theodor W. Adorno in einem Atemzug zu nennen. Aber nach dem, was wir da gerade als kurzen Auftakt zu unserem Adventskonzert gehört und gesehen haben, liegt das doch sehr nahe.
Es ist ja eine sehr entschiedene Kulturkritik, vielleicht ein wenig altklug, die der elfjährige Ilja da 1963 im Fernsehen übt. Und es klingt wie die verständlich gemachte Version der Gedanken aus einem der wichtigsten kulturkritischen Bücher des 20. Jahrhunderts: aus Theodor W. Adornos "Minima Moralia". Dort heißt es Die Menschen verlernen das Schenken […] da und dort mustern selbst Kinder misstrauisch den Geber, als wäre das Geschenk nur ein Trick […] Noch das private Schenken ist auf eine soziale Funktion heruntergekommen […], die man mit […] skeptischer Abschätzung des anderen und mit möglichst geringer Anstrengung ausführt.
Adorno hat hier nicht direkt Weihnachten im Blick. Aber wenn es um die Frage geht: Können wir überhaupt noch schenken; können wir wenigstens manchmal selbstlos sein; gibt es noch Augenblicke, in denen wir uns der Logik des Tausches, der Logik aus ausbalanciertem Geben und Nehmen entziehen – dann ist die Antwort doch: Ja, an Weihnachten.
Kritik an bestimmten Arten, Weihnachten zu feiern, ist nichts Neues, sie war auch 1963 nicht neu. Heinrich Bölls berühmte Satire "Nicht nur zur Weihnachtszeit" erschien zum Beispiel schon 1952. Kritik und Satire gehören zu Weihnachten wie das Fest in der Familie und die Weihnachtslieder aus allen Lautsprechern. Dann gilt Weihnachten als zu kitschig oder zu vergangenheitsselig, zu wenig christlich oder zu konsumorientiert, als eine erpresste Versöhnung auf Zeit in unheilbar zerstrittenen Familien und vieles mehr.
Nun könnte man denken: So eine Wucht an Dauerkritik, die kann das stärkste Fest nicht überleben. Dann wäre das größte Wunder an Weihnachten, dass es Weihnachten überhaupt noch gibt.
Aber vielleicht ist dieses Wunder doch ganz einfach zu erklären: Wir brauchen Weihnachten. Wir brauchen zumindest so etwas wie Weihnachten, also: beschenkt zu werden, auch wenn wir ahnen, dass es manchmal unverdient ist; zu schenken, einfach um anderen eine Freude zu machen; die friedliche Stille, weil wir von aller Anstrengung, allen Sorgen, einmal eine Pause brauchen; die Lichter im Dunkeln, damit Trost und Zuversicht wachsen; einen Stern in der Nacht, damit wir uns wieder neu orientieren.
Und so denke ich, dass alle Kritik an Weihnachten eher ein Ausdruck von Traurigkeit darüber ist, dass es viel zu oft nicht richtig Weihnachten ist. Dass es schöner, inniger, bewegender sein könnte. Und dass der Friede, der eine so zentrale Botschaft des Weihnachtsgeschehens ist, dass der Friede auf Erden, von dem die Engel singen, an so vielen Orten der Welt so wenig Realität ist. Und ein Ausdruck dieser Traurigkeit ist ja auch Adornos Buch, das im Untertitel "Reflexionen aus dem beschädigten Leben" heißt.
Wir wissen: Dieses Weihnachten wird überschattet vom Krieg in der Ukraine. Auch in dieser Stunde leiden die Ukrainerinnen und Ukrainer unter der rücksichtslosen Gewalt des Angreifers, viele sind ohne Strom oder Heizung der Dunkelheit und Kälte des Winters ausgesetzt. Licht und Wärme fehlen ihnen nicht metaphorisch, sondern ganz real. Ich bin dankbar für die großzügige Hilfe, die vielen Spenden, die so viele Deutsche für die Menschen in der Ukraine gegeben haben. Wir stehen zusammen, um dem Unrecht die Stirn zu bieten, und das soll uns auch weiterhin Verpflichtung sein.
Der tiefste Wunsch an Weihnachten ist für die meisten von uns wohl, dass das Leben nicht beschädigt sein möge; dass es heil werden soll, wo Verletzungen sind; dass Heilung geschehen soll, wo Leid drückt. Keine andere Zeit ist mit solchen Sehnsüchten verbunden wie die Advents- und Weihnachtszeit. Das bringen die vielen Bräuche zum Ausdruck, die es bis heute gibt, wie auch die vielen Weihnachts- und Adventslieder.
Und schließlich haben gerade romantische Dichter uns ein bestimmtes, sehr anheimelndes Bild von weihnachtlicher Gestimmtheit überliefert. Bis heute ist es mehr oder weniger in uns allen lebendig: Markt und Straßen stehn verlassen, still erleuchtet jedes Haus, sinnend geh ich durch die Gassen, alles sieht so festlich aus
– schon mit dieser einen Strophe von Eichendorff wird vieles in unserem Inneren geweckt, was wir mit Weihnachten verbinden.
Ilja Richter führt uns heute Abend mit seiner kleinen Revue, die er selbst gestaltet hat, durch die verschiedensten Stimmungen: durch kritische und satirische, durch unbeschwert-fröhliche, durch nachdenkliche und innige, durch bewegende – und auch, davor sollte man gerade an Weihnachten gar keine Angst haben, durch sehr sentimentale Stimmungen. Ich freue mich sehr darauf – und ich freue mich sehr darüber, dass wir ihn und die wunderbare Sängerin und Schauspielerin Sona MacDonald für den heutigen Abend gewinnen konnten.
Ilja Richter hat neulich seinen 70. Geburtstag gefeiert. Er ist also inzwischen sicher jener Weisheit des Alters nähergekommen, die bereits aus dem Kind von 1963 sprach. Viele von uns hat er als Schauspieler, als Moderator, als Sprecher, als kritischer Kommentator mindestens durch Teile unseres Lebens begleitet. Als ich in jungen Jahren von Zeit zu Zeit sein inzwischen sprichwörtliches Licht aus! – Spot an!
in seiner Sendung "Disco" gehört und gesehen habe, habe ich mir beides nicht vorstellen können: Dass er einmal einen adventlichen Abend im Schloss Bellevue gestalten – und dass ich als Bundespräsident diesen Abend eröffnen würde.
Dieser adventliche Abend beim Bundespräsidenten hat schon eine lange Tradition. Ich habe daran aus Überzeugung festgehalten. Für mich ist es ein wichtiges Zeichen. Auch hier, am Sitz des Staatsoberhauptes, soll an einem Abend deutlich werden: Bei allen unseren politischen Bemühungen, bei allem demokratischen Streit um die richtigen Wege für unser Gemeinwesen, sollten wir immer im Auge behalten, dass es vorletzte und letzte Fragen gibt. Das ist eine wohltuende und wichtige Unterscheidung. Und Advent und Weihnachten erinnern uns daran.
Jeder hat seine eigenen Vorstellungen von einer richtigen, einer gelungenen, einer fröhlichen und gnadenbringenden Weihnachtszeit. Das hängt mit Kindheitserfahrungen zusammen, mit allen möglichen biographischen Prägungen, mit Liedern, die einem wichtig sind, mit Filmen, die man gesehen, mit Büchern, die man gelesen hat. Aber wie unterschiedlich auch immer jeder von uns sich sein schönstes Weihnachten ausmalen mag, eines ist uns doch sicher gemeinsam: Es hat etwas mit Schutz und Wärme zu tun, mit menschlicher Zuwendung und Nähe, mit Großzügigkeit, mit Schenken und Beschenktwerden, mit unverdienter Gnade, um es biblisch zu sagen.
Adorno schreibt am Ende seines Gedankenganges: Alle nicht entstellte Beziehung […] ist ein Schenken. Wer dazu […] unfähig wird, macht sich zum Ding und erfriert.
In diesem Sinne lassen wir uns diesen gemeinsamen Abend schenken. Meine Frau und ich wünschen Ihnen allen noch einen schönen Advent und gesegnete Weihnachten!