Festakt zur Übergabe der UNESCO-Welterbe-Urkunde für die SchUM-Stätten in Speyer, Worms und Mainz

Schwerpunktthema: Rede

Mainz, , 1. Februar 2023

Bundespräsident Steinmeier hat beim Festakt zur Übergabe der UNESCO-Welterbe-Urkunde für die SchUM-Stätten in Speyer, Worms und Mainz am 1. Februar in Mainz eine Rede gehalten: "Um jüdisches Leben in Gegenwart und Zukunft zu schützen, müssen wir die Erinnerung an seine Geschichte wachhalten. Und wir müssen dabei Brüche und Widersprüche, helle und dunkle Seiten in den Blick nehmen. Im Erinnern an die Shoah dürfen wir niemals nachlassen."

Der Bundespräsident redet beim Festakt zur Übergabe der UNESCO-Welterbe-Urkunde für die SchUM-Stätten in Speyer, Worms und Mainz.

Jetzt ist es beglaubigt und beurkundet: die SchUM-Stätten in Speyer, Worms und Mainz gehören zum Welterbe der Menschheit. Das ist eine bedeutende, eine wirklich historische Auszeichnung. Ein großer Moment für die jüdischen Gemeinden hier am Oberrhein, für Jüdinnen und Juden in Deutschland und Israel, in Europa und weltweit. Ein bewegender Moment für die drei Städte, das Land Rheinland-Pfalz und die gesamte Bundesrepublik.

Vor dem 27. Juli 2021 gab es in unserem Land 49 Welterbestätten, vom römischen Trier bis zu den alten Hansestädten Stralsund und Wismar, vom Aachener Dom bis zur Wartburg bei Eisenach. Die Liste spiegelte die Vielfalt von Kultur und Natur, aber sie wies eine große Leerstelle auf: Jüdische Kulturdenkmäler kamen nicht vor.

Seit dem 27. Juli 2021 ist das anders. An diesem Tag hat die UNESCO die mittelalterlichen jüdischen Bauwerke und Friedhöfe in Speyer, Worms und Mainz zu unschätzbaren und unersetzlichen Gütern von universellem Wert erklärt – und damit zum ersten Mal jüdische Kulturdenkmäler in Deutschland als Welterbe anerkannt.

Liebe Frau Azoulay, ich weiß, es lag Ihnen persönlich sehr am Herzen, diese besondere Welterbe-Urkunde persönlich zu überbringen. Vor anderthalb Jahren war das leider nicht möglich, die Pandemie ließ es damals nicht zu. Umso mehr freue ich mich, dass Sie jetzt aus Paris angereist sind, um die Auszeichnung gemeinsam mit uns zu feiern, hier in dieser so symbolkräftigen Neuen Synagoge in Mainz. Ich danke Ihnen für Ihre Worte. Und ich danke Ihnen für die Aufnahme der SchUM-Stätten in das Weltkulturerbe. Meinen herzlichen Dank, im Namen der Bundesrepublik Deutschland und im Namen von uns allen hier im Saal!

Die Auszeichnung der SchUM-Stätten war 2021 der Glanzpunkt eines wunderbaren Festjahres, in dem wir 1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland gefeiert haben. Hunderttausende Menschen konnten damals an unzähligen Orten erfahren, wie Jüdinnen und Juden deutsche Geschichte mitgeschrieben und mitgeprägt haben, wie sie die Kultur unseres Landes haben leuchten lassen, wie jüdisches Leben unsere Gesellschaft heute wieder bereichert, und das in all seiner Vielfalt.

Zugleich ist uns in jenem Jubiläumsjahr aber noch einmal bewusst geworden, wie bedroht jüdisches Leben in unserem Land immer war, wie wenig selbstverständlich es heute immer noch ist. Jüdinnen und Juden wurden in Deutschland jahrhundertelang als Fremde, als Andere gesehen. Sie wurden immer wieder gedemütigt, ausgegrenzt, ihrer Rechte beraubt, verfolgt, ermordet – noch ehe die Nationalsozialisten und ihre willigen Vollstrecker das jüdische Leben in Deutschland und Europa fast völlig ausgelöscht haben.

Wie nah Licht und Schatten beieinanderlagen, daran erinnert das Ensemble der SchUM-Stätten wie kaum ein anderer Ort. Die Monumente und Grabsteine in Speyer, Worms und Mainz erzählen in einzigartiger Dichte von der tiefen Verwurzelung der Jüdinnen und Juden in unserem Land, vom Aufblühen ihrer Kultur, von Selbstbehauptung und Emanzipation, von Zeiten des friedlichen Zusammenlebens mit der christlichen Mehrheit. Aber eben nicht nur das. Sie erzählen auch von Antisemitismus und Judenhass, von Zerstörung und Verfolgung, bis hin zum Zivilisationsbruch der Shoah. Und sie erzählen vom großen Mut zum Neubeginn, den Jüdinnen und Juden in Deutschland immer wieder aufbrachten, allen Rückschlägen und Enttäuschungen, allem Schmerz und allem Leid zum Trotz.

Wie viel es hier in Ihren Städten zu entdecken und wiederzuentdecken gibt, davon habe ich heute Vormittag einen ersten Eindruck bekommen. Ich habe in Worms einen Spaziergang auf dem Heiligen Sand gemacht, dem ältesten erhaltenen jüdischen Friedhof Europas, und einen Stein auf das Grab von Rabbi Meir von Rothenburg gelegt. Ich habe, wie einst Martin Buber, über die Grabsteine hinweg auf den Dom geblickt und mir staunend bewusst gemacht, dass Worms im Mittelalter beides zugleich war: Bischofsstadt und das Jerusalem am Rhein.

Ich konnte auch die Wormser Synagoge besuchen, die seit dem Mittelalter so oft beschädigt und wiederhergestellt worden ist. Und im Keller des Raschi-Hauses habe ich die jahrhundertealte Westwand des einstigen Gemeindehauses bewundern dürfen. Was für großartige Zeugnisse jüdischen Lebens in Deutschland! Ich bin unendlich dankbar, dass so vieles die Jahrhunderte überdauert hat.

Die Bauwerke, Mauerreste und Grabsteine der SchUM-Stätten erzählen die faszinierende Geschichte dreier jüdischer Gemeinden, die sich im zwölften Jahrhundert zu einem Verbund zusammenschlossen, eine gemeinsame Rechtsordnung schufen, einen neuen Baustil entwarfen – und zum Zentrum des Judentums in Europa wurden.

Sie erzählen von großen Rabbinern und Gelehrten wie Schlomo ben Jizchak und Gerschom ben Jehuda, der Leuchte des Exils, die alle damals in Speyer, Worms und Mainz lebten und wirkten und weit über diese Region hinaus verehrt wurden. Nach ihren Bräuchen und Lebensregeln, den Regeln, die hier entworfen wurden, richteten sich jüdische Gemeinden in ganz Mittel- und Osteuropa; ihre liturgischen Texte, religiösen Dichtungen, Tora- und Talmud-Auslegungen leben bis heute im jüdischen Gedächtnis fort.

Die SchUM-Stätten erzählen von gebildeten Frauen, die hier schon im Mittelalter hoch geachtete Gemeindemitglieder waren, einen eigenen Raum zum Beten hatten, als Kopistinnen, Kauffrauen, sogar als Kantorinnen arbeiteten.

Sie erzählen vom engen Zusammenleben der jüdischen und christlichen Bewohner in den drei Kathedralstädten, von vielfältigen Alltagskontakten und Geschäftsbeziehungen, von Austausch und von Annäherung.

Die SchUM-Stätten zeigen aber auch von die dunklen Seiten dieser Geschichte. Jüdinnen und Juden wurden in Speyer, Mainz und Worms immer wieder verfolgt, ihre Wohnviertel verwüstet, ihre Gemeinden zerstört. Die Pest-Pogrome Mitte des 14. Jahrhunderts beendeten die hohe Zeit der SchUM-Kultur. Und dieser Ort hier, an dem einst die alte Mainzer Synagoge stand, erinnert uns an die Novemberpogrome des Jahres 1938, als die Synagogen in allen drei Städten in Brand gesteckt wurden. Viele jüdische Bürgerinnen und Bürger aus Speyer, Worms und Mainz wanderten während des Nationalsozialismus aus; von denen, die in ihrer Heimat blieben, wurden fast alle verschleppt und ermordet.

Dass nach dem Menschheitsverbrechen der Shoah jemals wieder Jüdinnen und Juden in Deutschland leben würden, das war in der Nachkriegszeit nicht nur für den großen Leo Baeck unvorstellbar. Aber es kam anders, die Epoche der Juden in Deutschland war nicht ein für alle Mal vorbei, jüdisches Leben kehrte zurück. Was ist das für ein wunderbares Geschenk für unser Land!

Wie schwer, wie wenig selbstverständlich die Rückkehr der Überlebenden war, auch daran erinnert uns die Geschichte von SchUM. Es waren nur wenige Jüdinnen und Juden, die nach der Befreiung aus Lagern, Ghettos und Verstecken in ihre Heimatstädte am Oberrhein zurückkamen – und hier oft ein Leben auf gepackten Koffern führten, weil das Gefühl der Unsicherheit sie nicht mehr losließ. Vorhin in Worms habe ich gehört, dass die Synagoge dort wiederaufgebaut und 1961 auch eingeweiht wurde, bevor überhaupt genügend Jüdinnen und Juden da waren, um die Gemeinde wiederzugründen.

Es dauerte viele Jahrzehnte, bis die jüdischen Gemeinden in den SchUM-Städten wieder neu auflebten, auch dank der Jüdinnen und Juden, die seit 1990 aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland kamen. Heute wird in Speyer, Worms und Mainz ebenso wie an vielen Orten unseres Landes wieder jüdischer Alltag gelebt, in Kitas und Schulen, in Synagogen, Gemeindesälen, Rabbinerseminaren. Jüdisches Leben in Deutschland ist so vielfältig, lebendig, schöpferisch und kraftvoll wie lange nicht. Dafür sind wir alle zutiefst dankbar, und mich erfüllt es mit großer Freude!

Aber wir wissen auch: Jüdisches Leben in Deutschland ist immer noch bedroht, oder ich sollte sagen, inzwischen wieder stärker bedroht. Antisemitismus zeigt sich heute wieder viel offener, auf Straßen und Plätzen, auf Schulhöfen, auf so genannten Spaziergängen und ganz besonders im Netz. Jüdinnen und Juden werden diffamiert, beleidigt, bedroht, sogar angegriffen.

Das ist unendlich schmerzhaft, es ist unerträglich, es ist nicht hinnehmbar. Judenfeindlichkeit darf keinen Platz haben in unserem Land – egal, wo sie auftritt, wie sie sich äußert und von wem sie ausgeht. Unser Rechtsstaat muss antisemitische Straftaten mit aller Härte ahnden. Wir alle, Bürgerinnen und Bürger, müssen uns jeder Form von Antisemitismus entschieden entgegenstellen. Und wir alle in Staat, Politik und Gesellschaft müssen gemeinsam dafür sorgen, dass Jüdinnen und Juden sich in Deutschland vollkommen zu Hause fühlen können. Unsere Verantwortung kennt keinen Schlussstrich. Das ist die Lehre aus unserer Geschichte, wie sie uns hier gerade in den SchUM-Städten so eindringlich vor Augen steht.

Ich bin überzeugt: Um jüdisches Leben in Gegenwart und Zukunft zu schützen, müssen wir die Erinnerung an seine Geschichte wachhalten. Und wir müssen dabei Brüche und Widersprüche, helle und dunkle Seiten in den Blick nehmen. Im Erinnern an die Shoah dürfen wir niemals nachlassen. Wir brauchen lebendige Orte des Gedenkens, um vor allem jungen Menschen verständlich zu machen, was damals geschah und wie es geschehen konnte. Und wir brauchen zugleich Orte der Bildung und Aufklärung, an denen wir die Geschichte jüdischen Lebens erlebbar machen. Orte, an denen Wissen und Wertschätzung, Toleranz und Respekt wachsen können.

Die SchUM-Stätten sind solche Orte. Auch deshalb ist es ein großes Glück, dass es sie gibt. Und auch deshalb ist es so wichtig, dass sie nun Welterbe sind. Die Auszeichnung wirft ein helles Licht auf die jüdischen Monumente und Grabsteine, sie macht sie weit über Speyer, Worms und Mainz hinaus sichtbar. Ich wünsche mir, dass die SchUM-Stätten einen festen Platz auf der Landkarte unserer Erinnerung erhalten. Und ich wünsche mir, dass sie noch mehr Menschen anziehen – Menschen aus aller Welt, aus allen Religionsgemeinschaften, Gläubige und Nichtgläubige. SchUM als Begegnungsstätte, als lebendiges Symbol für ein friedliches Miteinander, ich glaube, das hätte auch den alten Rabbis gefallen!

Welterbe verpflichtet, und jüdisches Welterbe verpflichtet uns in Deutschland erst recht. Das gilt für Bund und Land, für die drei Städte und für die Gesellschaft als Ganzes. Mein besonderer Dank gilt heute den Menschen, die sich hier in der Region und in Rheinland-Pfalz seit vielen Jahren unermüdlich für die SchUM-Stätten einsetzen: all den Frauen und Männern, die Mauern und Steine pflegen und vor dem Verfall bewahren; die uralte Quellen immer wieder aufs Neue befragen, um mehr über die mittelalterlichen Gemeinden zu erfahren; die Wissen anschaulich vermitteln und junge Menschen für die Geschichte jüdischen Lebens begeistern; die im Land und in den drei Städten, in den jüdischen Gemeinden und an den Universitäten mitgeholfen haben, die SchUM-Gemeinden auf die Welterbeliste zu setzen.

Diese Urkunde, die wir beide gleich weiterreichen dürfen an die Ministerpräsidentin, ist auch Ihr aller Verdienst, meine Damen und Herren. Ihnen allen meinen herzlichen Dank!

Die SchUM-Stätten sind ein Wahrzeichen jüdischen Lebens in Deutschland. Uralte Mauern, windschiefe Grabsteine, verwitterte Inschriften, Patina aus Moosen und Flechten, all das macht uns bewusst: Das Judentum ist in Deutschland tief verwurzelt, es hat hier einen angestammten Platz. Und nicht zuletzt dieser Ort, die Neue Synagoge in Mainz, führt uns eindrucksvoll vor Augen, wie jüdisches Leben heute wieder wächst, gedeiht und in Blüte steht. Schützen und bewahren wir es!