Verleihung des Großkreuzes des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland an die estnische Staatspräsidentin a.D. Kersti Kaljulaid

Schwerpunktthema: Rede

Tallinn/Estland, , 15. März 2023

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat die frühere estnische Staatspräsidentin Kersti Kaljulaid mit dem Großkreuz des Verdienstordens der Bunderepublik Deutschland geehrt. Bei der Verleihung am 15. März in Tallinn sagte er: "Mir ist es wichtig, Ihnen heute noch einmal ganz klar zu sagen: Deutschland nimmt seine Verantwortung an – in der NATO und in Europa. Darauf können sich unsere Verbündeten, kann sich auch Estland verlassen!"

Bundespräsident Steinmeier übergibt der estnischen Staatspräsidentin a.D., Kersti Kaljulaid, den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland

Ich freue mich, dass wir heute zu so einem feierlichen, einem so besonderen Anlass zusammenkommen. Zu den vielen schönen Aufgaben eines Bundespräsidenten gehört es ja, stellvertretend für Deutschland großen Dank auszusprechen – und als sichtbares Zeichen dieses Dankes einen Orden zu verleihen. Und es ist eine besonders schöne Aufgabe, wenn die Ordensträgerin meinem Land dann nicht nur politisch, sondern auch persönlich so eng verbunden ist, wie Sie es sind, liebe Kersti Kaljulaid.

Wir beide haben uns, nachdem Sie Präsidentin geworden waren, viele Male getroffen, auch in Berlin. Und natürlich erinnere ich mich an unsere erste Begegnung, bei meinem Besuch hier in Estland vor gut sechs Jahren, am Vorabend eines für unsere beiden Länder, ja für ganz Europa bedeutsamen Jahrestages.

Ich bin damals nach Tallinn gekommen, um gemeinsam mit Ihnen an den 23. August zu erinnern – einen Tag, der für einen der schrecklichsten, aber auch für einen der glücklichsten Momente in der jüngeren Geschichte unseres Kontinents steht. Am 23. August denken wir zum einen zurück an das Jahr 1939: an die Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Paktes, an den von meinem Land entfesselten Krieg und die Besatzung, und vor allem an die abscheulichen Verbrechen, die von Deutschen und in deutschem Namen verübt worden sind.

Wir denken aber auch – und gerade in den aktuellen Zeiten – an 1989: an die unbändige, die unbezwingbare Freiheitsliebe der Estinnen und Esten, der Menschen in Mittel- und Osteuropa, an ihren Widerstand gegen Fremdbestimmung und Unterjochung. Wir erinnern uns, wie Hunderttausende in den baltischen Staaten am 23. August jenes Jahres einander an den Händen fassten und gemeinsam eine Menschenkette bildeten, 600 Kilometer lang, von Vilnius in Litauen durch Riga in Lettland bis hierher nach Tallinn in Estland. Welch mutiges, welch befreiendes Zeichen diese singende Menschenkette damals war!

Ich bin voller Bewunderung für die große Freiheitsliebe der Esten, für ihre Leidenschaft für die europäische Sache. Ich bin dankbar für ihre Versöhnung mit meinem Land, mit uns Deutschen, und dafür, dass wir uns nun schon seit Langem gemeinsam für ein besseres Europa einsetzen. Und ich freue mich, dass wir beide zusammenarbeiten durften, liebe Kersti Kaljulaid, dass wir uns häufig getroffen und einander unterstützt haben – und über die Freundschaft, die über die Jahre zwischen uns beiden entstanden ist.

Unermüdlich haben Sie sich in Ihrer Amtszeit dafür eingesetzt, dass unsere Länder noch enger zusammengerückt sind. Ihrer Arbeit und Ihrem Engagement haben wir es zu verdanken, dass der Austausch zwischen Estland und Deutschland, zwischen den Unternehmen, den Universitäten, auch den Kultureinrichtungen unserer Länder sehr viel intensiver geworden ist. Ich weiß noch, wie Sie bei Ihren Besuchen in Deutschland immer für die Digitalisierung der Verwaltung geworben haben, wie Sie uns an den Fortschritten Estlands teilhaben ließen – und wie Sie mit einem Lächeln darüber hinwegsahen, dass wir Deutsche auf diesem Feld doch noch so viel aufzuholen haben.

Sie haben die Beziehungen unserer Länder besser gemacht. Und Sie haben Europa und die Europäische Union besser gemacht. Die Freiheit und Sicherheit im digitalen Raum waren Ihnen immer ein ganz besonderes Anliegen, und sehr früh haben Sie die Abwehr von Cyberangriffen und den Kampf gegen Fake News auf die politische Agenda gehoben. Europas liberale Demokratien müssen auch wehrhafte Demokratien sein, darauf haben Sie immer wieder hingewiesen – und für diese Wehrhaftigkeit und Widerstandskraft haben Sie sich mit aller Kraft eingesetzt. Dafür bin ich, dafür ist mein Land Ihnen sehr dankbar.

Als wir beide uns 2017 das erste Mal trafen, da waren wir voller Hoffnung, die blutige Logik des 23. August 1939, den Krieg und die Gewalt, überwunden zu haben. Aber nun ist der Krieg zurück in Europa. Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg findet mitten in Europa wieder ein Eroberungsfeldzug statt: Russland spricht der Ukraine das Existenzrecht ab, will die Ukraine als eigenständige Nation vernichten. Der russische Überfall auf die Ukraine hat die europäische Sicherheitsordnung in Schutt und Asche gelegt.

Wie Estland steht auch Deutschland fest an der Seite der Ukraine. Wir helfen den Angegriffenen, wir helfen den Ukrainerinnen und Ukrainern im Kampf für ihre Freiheit und Unabhängigkeit. Deutschland ist heute, auch militärisch, der größte Unterstützer der Ukraine auf dem europäischen Kontinent. Und wir leisten unseren Beitrag zur Bündnisverteidigung: Heute Morgen habe ich die deutschen Soldaten in Ämari besucht, die im Rahmen des Baltic Air Policing den Luftraum über dem Bündnisgebiet der NATO überwachen. Dabei konnte ich mich von der engen Zusammenarbeit der estnischen, britischen und deutschen Streitkräfte überzeugen. Gemeinsam schützen wir Estland, die baltischen Staaten und jeden Quadratzentimeter des Bündnisgebietes – das haben die erfolgreichen Einsätze der vergangenen Wochen gezeigt. Mir ist es wichtig, Ihnen heute noch einmal ganz klar zu sagen: Deutschland nimmt seine Verantwortung an – in der NATO und in Europa. Darauf können sich unsere Verbündeten, kann sich auch Estland verlassen!

Es ist mir ein ganz persönliches Anliegen gewesen, heute nach Tallinn zu kommen, um Ihnen, liebe Kersti Kaljulaid, den höchsten Orden zu überreichen, den die Bundesrepublik Deutschland zu vergeben hat. Sie waren die erste Frau an der Staatsspitze Ihres Landes, und Ihr unermüdliches Werben für Zusammenarbeit und Kompromiss, Ihre klare und auch sehr direkte Art, die Dinge anzusprechen, Ihre Herzlichkeit und Wärme, all das hat mich immer beeindruckt.

Ich weiß, dass Sie wenige Tage nach Ihrem Ausscheiden aus dem Amt ein Video auf Facebook veröffentlicht haben, in dem noch einmal alle möglichen Missgeschicke, Versprecher und witzigen Szenen zusammengeschnitten waren, eben all das, was einem als Staatsoberhaupt so passieren kann, wenn man sich auf eine Live-Zuschaltung oder eine Fernsehansprache vorbereitet. Herrlich selbstironisch war das, und ich denke, es kam auch deswegen bei vielen Menschen so gut an, weil da eine Spitzenpolitikerin zu sehen war, die sich – bei aller Ernsthaftigkeit der täglichen Arbeit – ihren Humor und ihre Lebensfreude bewahrt hat.

Was ich vor dieser Reise nicht wusste, denn darüber haben wir tatsächlich nie gesprochen: dass Sie als Staatspräsidentin immer mal wieder Ihren Amtssitz verlegt haben, raus aus Tallinn, in eine Region Ihres Landes. Das freut mich umso mehr, weil ich seit dem vergangenen Jahr das Gleiche mache. Mehrfach habe ich meinen Amtssitz aus der Hauptstadt in einen anderen Ort Deutschlands verlegt. Wir haben über diese Idee wie gesagt nie gesprochen, und dass wir beide sie unabhängig voneinander hatten, ist vielleicht auch ein gewisses Zeichen unserer Verbundenheit.

Diese Verbundenheit und unsere Freundschaft werden bleiben. Und ich freue mich auf unsere künftigen Begegnungen, in welcher Verantwortung auch immer Sie dann sein werden. Ihr Weg wird weitergehen, denn nicht die Kurzstrecke ist Ihre Disziplin, sondern der Marathonlauf. Und da kann auf die lange Strecke noch ganz viel kommen.

Liebe Kersti Kaljulaid, ich ehre Sie heute für Ihr großes, wirklich herausragendes Engagement für die deutsch-estnischen Beziehungen. Sie haben Spuren hinterlassen. Und so darf ich Sie nun zu mir bitten, damit ich Sie mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland auszeichnen kann. Dieser Applaus gilt Ihnen.