Eröffnung des Kongresses Armut und Gesundheit

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 21. März 2023

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat bei der Eröffnung des Kongresses Armut und Gesundheit am 21. März in Berlin eine Ansprache gehalten: "Sozialpolitik ist Demokratiepolitik. Nur ein Gesellschaftsmodell, das Zusammenhalt unter immer wieder veränderten Bedingungen herzustellen versucht, ein Staat, der die Stimme der Ärmsten und Verwundbarsten nicht überhört, nur ein solcher Staat und eine solche Politik werden dauerhaft auf Akzeptanz stoßen."

Bundespräsident Steinmeier hält bei der Eröffnung des Kongresses Armut und Gesundheit eine Rede im Audimax der Freien Universität Berlin

Eigentlich haben wir Glück, wir Deutsche! Nach Jahren der Teilung leben wir wiedervereint in einem Land. In jedem Nachkriegsjahrzehnt ist die Kindersterblichkeit in unserem Land zurückgegangen. Das Lebensalter steigt in Deutschland weiter, und damit natürlich auch für uns alle die Chance, nach dem Arbeitsleben einen langen und aktiven Ruhestand zu erfahren. Die Arbeitslosigkeit ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten stark gesunken, die sozialversicherte Beschäftigung stark gestiegen, und gestiegen, mehrere Jahre nacheinander, sind auch Löhne und Renten. Ich könnte also sagen: Verglichen mit anderen Regionen der Welt geht es uns im Durchschnitt gut. Aber wenn ich sage im Durchschnitt, dann heißt das auch: bei Weitem nicht allen.

Ja, wir sind ein reiches Land. Vermutlich ging es in unserem Land noch nie einer Generation besser. Für viele ist vieles selbstverständlich: die eigenen vier Wände, für manche das eigene Haus, das Auto, der Urlaub, vielleicht auch der zweite, auch die Fernreise. Und die meisten haben sich all das durch ihre Arbeit verdient.

Ich selbst bin Mitte der 1950er Jahre geboren, in Verhältnissen aufgewachsen, die man früher einfache Verhältnisse nannte. Ich habe erlebt, wie in vielen Jahrzehnten Wohlstand gewachsen ist. Ich freue mich, dass es vielen in unserem Land gut geht und dass man das auch sieht.

Das Problem ist nicht das; das Problem ist, dass viele nicht sehen wollen, wie vielen es schlechter geht. Diese Armut, über die wir reden, ist sichtbar, und das nicht nur an Tafeln oder in Obdachloseneinrichtungen. Sie ist sichtbar in Regionen, die abgehängt sind, in vernachlässigten Stadtteilen und oft schon in Kindergärten und Grundschulen. Nicht nur Kleidung, auch Zahngesundheit gibt häufig Auskunft über soziale Herkunft. In sozial schwächeren Gegenden haben vierzig Prozent der Kinder im Kita-Alter schiefe Zähne, fortgeschrittene Karieserkrankung. In aller Regel sind das erste Anzeichen für die allgemeine Erkenntnis: Wer in Armut aufwächst, hat als Erwachsener eine schlechtere Gesundheit.

Dass es einen Zusammenhang zwischen sozialem Status und Gesundheit gibt, das bewegt sich schon lange nicht mehr im Bereich bloßer Vermutungen. Hier, vor diesem Publikum, bedarf das keiner detaillierten Nachweisführung. Aber der größeren Öffentlichkeit in Deutschland ist kaum bekannt, dass in Bevölkerungsgruppen, die besonders von Armut betroffen sind, das Schlaganfallrisiko zwei bis drei Mal höher liegt, die Sterblichkeit aufgrund von Krebs- und Lebererkrankungen signifikant über dem Stand der Durchschnittsbevölkerung liegt. Das Robert-Koch-Institut hat in einer Studie gezeigt, dass Personen mit niedrigem Einkommen, die einem Armutsrisiko ausgesetzt sind – die also weniger als sechzig Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung haben –, eine deutlich geringere Lebenserwartung haben: vier Jahre weniger bei Frauen, acht Jahre weniger bei Männern.

Die gesundheitliche Ungleichheit, die in diesen Zahlen zum Ausdruck kommt – das ist die Herausforderung für unseren Sozialstaat. Sie berührt nicht nur unser Gerechtigkeitsempfinden, sondern berührt den Zusammenhalt der Gesellschaft und damit das, was Grundlage und Voraussetzung von jeder gelingenden Demokratie ist.

Es ist gut, dass Public Health und Sozialmedizin dem individuellen Status von Menschen in Armut und den gesellschaftlichen Konsequenzen seit einiger Zeit deutlich mehr Aufmerksamkeit widmen und dafür auch Öffentlichkeit finden. Und diesem gesteigerten Interesse verdanken wir auch den Hinweis, dass die Unterscheidung von absoluter und relativer Armut keine Entwarnung geben kann. Das Einkommen ist eine nach wie vor zentrale Kategorie für die Beschreibung des sozialen Status einer Person. Aber in Wahrheit reden wir beim Zusammenhang von Armut und Gesundheit von einer vielschichtigen Unterversorgung, die natürlich Einkommen, aber nicht weniger wichtig: Wohnen, Bildung, Arbeitsbedingungen, technische und soziale Infrastruktur betrifft, alles das, was das Leben am Wohnort bestimmt. Und das Entscheidende ist: Bei den Armen unserer Gesellschaft kommt vieles davon gleichzeitig zusammen.

Im Ergebnis jedenfalls wissen wir, dass zum Beispiel Arbeitslose im Vergleich zu Erwerbstätigen sehr viel seltener an Vorsorgeuntersuchungen und kaum an Gesundheitsfördermaßnahmen teilnehmen. Wir wissen, dass Kinder aus sozial schwachen Familien deutlich weniger an regelmäßigen Untersuchungen über den Gesundheits- und Entwicklungsstand teilnehmen. Wie ich gelesen habe: Nur noch 29 Prozent der Kinder aus diesen armen Familien werden noch in der U9, das ist die Untersuchung unmittelbar vor Beginn der Grundschule, vorgestellt. Ich weiß, die Gründe mögen ganz unterschiedlich sein. Aber ganz offensichtlich ist, dass die vorhandenen Strukturen von der Familienberatung über die Jugendhilfe bis zu den Gesundheitsämtern bisher jedenfalls noch nicht in der Lage sind, daran Entscheidendes zu verändern. Wie hier eine bessere Verzahnung aller Stellen, die in Kontakt mit Familien sind, gelingen kann – ich bin mir sicher, auch darüber werden Sie auf diesem Kongress miteinander diskutieren.

Gehen wir einen Schritt weiter: Führt Armut schon generell zu einem höheren Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko, so wird aus dem Risiko im Falle des Verlusts der eigenen Wohnung fast mit Gewissheit eine Schädigung der Gesundheit. Wer den Schutz der eigenen Wohnung verliert, der wird nicht nur krank, sondern bleibt oft auch ohne Arzt. Gerhard Trabert wird dazu sicherlich gleich noch mehr berichten. Er zitiert aus wissenschaftlichen Studien, wonach neunzig Prozent der wohnungslosen Menschen nicht nur unzureichende medizinische Versorgung haben, sondern nach normalen Standards eigentlich auch dringend behandlungsbedürftig sind. Und die geringe Ärztedichte in den ärmeren Stadtteilen kann allein kein Grund sein, ist jedenfalls nicht der entscheidende Grund. Für viele wird die Schwelle, und das ist eher meine Vermutung, zur Inanspruchnahme öffentlicher und staatlicher Hilfe auf der sozialen Leiter nach unten immer höher. Für eine unbekannte, aber vermutlich hohe Zahl von wohnungslosen Menschen ist der Krankenversicherungsschutz verloren gegangen. Für die Menschen ohne Obdach, die tatsächlich auf der Straße und vielleicht gelegentlich in Obdachlosenunterkünften nächtigen, fehlt es an vielen Orten ganz grundsätzlich an Behandlungsmöglichkeiten.

Ich weiß und habe mir das häufiger angesehen, wie unendlich mühsam es ist, Menschen ohne Versicherungsschutz den Rückweg in die Krankenversicherung zu ebnen. Und Sie werden sich sicherlich auch darüber austauschen hier und heute, wie Lösungen für dieses nach wie vor eminent wichtige Problemaussehen können, wie man Hilfe zu denen bringt, die aus eigenem Antrieb um medizinische Behandlung nicht nachsuchen oder aber gar keine Möglichkeiten dazu haben. Wo die Stellschrauben in den Strukturen sind, wo zu Verbesserungen anzusetzen ist, dazu werden Sie, da bin ich sicher, Vorschläge unterbreiten.

Ich will jedenfalls heute, auch darum bin ich hier, die Gelegenheit nutzen, um all jenen zu danken, die sich hauptamtlich, aber ganz, ganz viele auch ehrenamtlich überall in unserem Land in der Gesundheitsversorgung für die Armen unserer Gesellschaft engagieren. Ich habe an verschiedenen Orten unterschiedlichste Modelle gesehen, in denen allgemeine Lebenshilfe, Schuldenberatung, ärztliche Versorgung und vieles andere mehr aus einer Hand angeboten werden, von der aufsuchenden Akutversorgung, wenn ich das so nennen darf, über Sondersprechstunden für Menschen ohne Versicherungsschutz bis hin zu ausgebauten Praxismodellen. Und für die allermeisten Modelle gilt, dass sie in aller Regel unter prekären Finanzierungsbedingungen arbeiten.

Ich vermute, Sie alle hier im Saal kümmern sich um die Gesundheit der ärmeren Menschen in unserer Gesellschaft; in Ämtern und Institutionen, in Wissenschaft und Forschung, in sozialen Projekten vor Ort. Sie kümmern sich um Kinder aus einkommensschwachen Familien, um Alleinerziehende, um Menschen ohne dauerhafte Wohnung, um Geflüchtete ohne Papiere und um viele andere mehr.

Sie schauen dort hin, wohin das Scheinwerferlicht selten fällt. Wo Menschen nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen. Und deshalb bin ich gern gekommen, um Ihre anspruchsvolle, schwierige, leider notwendige Arbeit sichtbarer zu machen – vor allem aber, um Danke zu sagen. Deshalb: Herzlichen Dank für Ihre Arbeit und Ihr Engagement!

Was Sie tun, das darf uns nicht aus dem Blick geraten in Zeiten, in denen der Krieg auch die politischen Prioritäten neu ordnet; in Zeiten, in denen Investitionen zum Schutz unseres Planeten immer drängender werden. Beides können und wollen wir nicht in Frage stellen, aber es gilt auch: Unser Sozialstaat, der muss stark und der muss leistungsfähig bleiben. Noch kürzer gesagt: Sozialpolitik ist Demokratiepolitik. Nur ein Gesellschaftsmodell, das Zusammenhalt unter immer wieder veränderten Bedingungen herzustellen versucht, ein Staat, der die Stimme der Ärmsten und Verwundbarsten nicht überhört, nur ein solcher Staat und eine solche Politik werden dauerhaft auf Akzeptanz stoßen.

Wir werden unser Land besser schützen müssen vor Gefahren von außen, wir werden den Weg zu klimaneutralem Wirtschaften beschleunigen müssen. Aber inmitten dieser Zeit großer Umbrüche bleibt auch an etwas zu erinnern, was ich vor einem Jahr in meiner Rede in der Bundesversammlung gesagt habe: Den notwendigen Wandel in der Gesellschaft werden wir nur bestehen, wenn auch die Schwächsten etwas zu gewinnen haben. Nur als soziales Land bleibt unsere Demokratie stabil.

Gibt es eigentlich Gründe für Zuversicht? Ich will nichts schönreden. Aber da ich über Kinder aus einkommensschwächeren Familien gesprochen habe, will ich zum Ende noch einmal darauf zurückkommen. Weil die Weichen nämlich sehr früh im Leben gestellt werden für ein gelingendes Leben, für den späteren sozialen, wirtschaftlichen und gesundheitlichen Status, deshalb dürfen wir am Anfang des Lebens keine Chancen auslassen. In den kommenden Jahren bis 2035 stehen dem Arbeitsmarkt möglicherweise mehr als sieben Millionen Menschen weniger zur Verfügung. Schon jetzt werden junge Leute in fast allen Ausbildungsberufen händeringend gesucht. Selten waren die Bedingungen für den Einstieg in eine berufliche Karriere, in der man sich eigenes Einkommen aus Arbeit sichern und damit Armut abwehren kann, eigentlich so gut wie jetzt.

Vor diesem Hintergrund ist es beunruhigend, besorgniserregend, aber vor allem nicht hinnehmbar, dass so viele der Jüngeren die Schule immer noch ohne Abschluss verlassen oder manchmal auch mit Abschluss die Voraussetzung für das Erlernen eines Berufes nicht mitbringen. Von den Startchancen für das Leben nach der Schule hängt so viel ab: Selbstwertgefühl, sozialer Status, Einkommen und, darum sind wir hier, auch Gesundheit.

Wer bessere Bedingungen für die Gesundheit für Einkommensschwächere will, der muss deshalb hier anfangen. Also: nach Verbesserungen suchen, damit möglichst alle Kinder von Beginn an und regelmäßig zu Früherkennungsuntersuchungen in der Kindermedizin vorgestellt werden. Wir brauchen Prävention, intensive Beratung und Begleitung erkennbarer Gesundheitsstörungen und Entwicklungsverzögerungen. Wir brauchen Investitionen in ein Bildungssystem, das kein Kind zurücklässt, niemanden ohne Abschluss ins Leben entlässt, und das reif macht für ein Leben aus eigener Kraft.

Ich gebe zu: Das sind keine ganz neuen Erkenntnisse. Rudolf Virchow hat schon vor 170 Jahren festgestellt: Bildung, Wohlstand und Freiheit sind die einzigen Garantien für die dauerhafte Gesundheit eines Volkes. Danach zu streben, sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein für den Sozialstaat des 21. Jahrhunderts.

Sozialpolitik ist Demokratiepolitik, habe ich gesagt. Und übrigens, deshalb haben auch unsere Sozialversicherungen ein demokratisches Element. An den Sozialwahlen, die in diesem Jahr wieder stattfinden in der Renten-, Kranken- und Unfallversicherung, nehmen hoffentlich viele teil und nehmen ihren Anspruch auf Mitgestaltung tatsächlich auch wahr. Mein Dank gilt all den Ehrenamtlichen, die diese Wahlen möglich machen und organisieren.

Ich wünsche Ihrem Kongress lebendige Debatten, fruchtbaren Austausch und vor allen Dingen öffentliche Wahrnehmung Ihrer Beratungen! In diesem Sinne: Gutes Gelingen und herzlichen Dank!