Richterinnenwechsel am Bundesverfassungsgericht – Entlassung und Ehrung von Gabriele Britz sowie Ernennung von Miriam Meßling

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 17. April 2023

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 17. April in Schloss Bellevue die scheidende Richterin des Bundesverfassungsgerichts Gabriele Britz mit dem Großen Verdienstkreuz mit Stern und Schulterband des Bundesverdienstordens ausgezeichnet und ihre Nachfolgerin Miriam Meßling vereidigt. Er sagte: "Auf eine Frau folgt eine Frau, und das ist gut, weil so das Kollegium des Verfassungsgerichts ausgeglichen bleibt."

Bundespräsident Steinmeier steht an einem Pult und hält eine Rede.

Es ist erst gut sechs Wochen her, dass wir in diesen Räumen beisammen waren, um Frau Baer zu verabschieden und Herrn Eifert zu ernennen. Heute verabschieden wir Frau Britz und begrüßen Frau Meßling. Es freut uns, dass Sie, liebe Frau Meßling, am 31. März im Bundesrat gewählt wurden, und es freut sich ganz sicher auch Frau Britz, dass sie nicht in eine weitere unwillkommene Verlängerung gehen muss.

Auf eine Frau folgt eine Frau, und das ist gut, weil so das Kollegium des Verfassungsgerichts ausgeglichen bleibt. Ich habe schon bei unserem letzten Zusammentreffen zur paritätischen Besetzung des Bundesverfassungsgerichts hier im Großen Saal gesagt: Nichts spricht dafür, das Rad der Geschichte an dieser Stelle noch einmal zurückzudrehen. Und ich bin sehr froh, dass es so gekommen ist.

Sehr geehrte Frau Britz, mir wurde erzählt, dass Ihre letzten Monate, Wochen und Tage im Verfassungsgericht überaus anstrengend waren. Ihr Ziel war es, einen möglichst leeren Schreibtisch zu hinterlassen. Und wie ich Sie kenne, haben Sie das auch geschafft. Nun werden Sie Ihr Wissen und Ihre Erfahrung an die Studierenden der Universität Gießen weitergeben. Vertiefung im Grundrechtsschutz lesen Sie dort seit dem 13. April – ein besonders spannendes Thema, wenn eine Verfassungsrichterin darüber spricht.

Dass Sie ohne Pause da weitermachen, wo Sie vor zwölf Jahren aufgehört haben, ist charakteristisch für Sie. Jedenfalls zeugt Ihre Biografie von einer wissenschaftlichen Blitzkarriere ohne erkennbare Brüche. Den Eindruck von Leichtigkeit, der sich für den Betrachter einstellt, den haben Sie selbst einmal relativiert: 2019 war das, als Sie in einem Interview über die Zeit nach der Habilitation sprachen. Die Ungewissheit, wie es weitergehen würde, habe Sie stark belastet, als Sie sich in Konkurrenz zu so vielen anderen frisch habilitierten Privatdozentinnen und Privatdozenten auf nahezu jede Stelle in dieser Republik bewarben. Mit Ihren Worten haben Sie wahrscheinlich vielen jüngeren, aufstrebenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus der Seele gesprochen, die genau diese Ungewissheit spüren. In jenem Interview vor vier Jahren sagten Sie aber auch: Im Nachhinein, da alles gut gegangen ist, bin ich […] auch froh um diese Erfahrung.

Liebe Frau Britz, die Rechtswissenschaften waren Ihnen keineswegs in die Wiege gelegt. Familiäre juristische Vorprägungen gab es nicht, und auch in Ihrem Freundeskreis – so haben Sie berichtet – gab es keine Juristen. Aber Sie hatten ein ausgeprägtes Interesse an Politik und Gesellschaft, und auch Sie bewegte damals die Frage nach der Gerechtigkeit, die ja zu dieser Zeit oft gestellt wurde. Die Erkenntnis, dass auch Recht mit Politik zu tun hat, führte Sie zur Rechtswissenschaft. Schon im Studium in Frankfurt am Main hat Sie das Öffentliche Recht besonders fasziniert, während das Zivilrecht zuweilen wohl eher Zweifel an der Studienwahl weckte – wie bekannt mir das vorkommt! Dass aber auch diese Materie hochinteressant und politisch umstritten sein kann, haben Sie später erfahren, wie wir noch sehen werden.

Nach dem ersten Staatsexamen 1992 wurden Sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Öffentliches Recht, Umweltrecht und Verwaltungswissenschaft an der Universität in Frankfurt am Main. Und schon ein Jahr später promovierten Sie über Die Bedeutung des europäischen Gemeinschaftsrechts für die örtliche Energieversorgung unter besonderer Berücksichtigung kommunaler Gestaltungsmöglichkeiten. Sie wurden dafür 1994 mit dem Baker-McKenzie-Preis für herausragende Schriften aus dem Bereich des Wirtschaftsrechts ausgezeichnet. Dem Energierecht sind Sie bis heute treu geblieben. Der von Ihnen mitverantwortete Kommentar zum Energiewirtschaftsgesetz erscheint in diesen Tagen in der vierten Auflage und gehört zu den Standardwerken.

Nach der Promotion ging es zügig weiter: Im Anschluss an einen Aufenthalt in Harvard an der John F. Kennedy School of Government folgte die Referendarzeit und 1997 das zweite Staatsexamen. Mit einem Habilitationsstipendium des Landes Hessen und einem weiteren Amerikaaufenthalt – 1999 an der Yale Law School – habilitierten Sie sich 2000. Für Ihre Arbeit mit dem Thema Kulturelle Rechte und Verfassung zeichnete Sie die Deutsche Forschungsgemeinschaft mit dem Heinz-Maier-Leibnitz-Preis aus. Das Thema zeigt Ihr großes Gespür für gewichtige und auch tiefgreifende Problemlagen, denn die Diskussion über den verfassungsrechtlichen Gehalt kultureller Identität ist grundlegend und bis heute für unsere Verfassung und unsere Gesellschaft aktuell und wird, wenn ich das richtig sehe, noch viele – auch verfassungsrechtliche – Streitfragen aufwerfen.

Mit 33 Jahren wurden Sie als eine der jüngsten Professorinnen des Öffentlichen Rechts berufen und übernahmen in Gießen einen Lehrstuhl, beheimatet im 1. Stock der Hein-Heckroth-Straße 3, den ich selbst in guter Erinnerung habe. Ihr breit gestreutes Interesse, Ihre Klugheit, Ihr Schwung führten Sie auf viele Forschungsfelder: Rechte religiöser und ethnischer Minderheiten als Kernproblem moderner Einwanderungsgesellschaften, elektronische Verwaltung, umweltrechtliche Probleme oder grundrechtliche Fragen wie das Recht auf Selbstdarstellung, um nur einige zu erwähnen. Daneben engagierten Sie sich in der Selbstverwaltung der Universität, etwa als Dekanin der rechtswissenschaftlichen Fakultät, aber auch außerhalb der Universität: 2001 und 2002 waren Sie Mitglied im Ausschuss der Vereinten Nationen für die Beseitigung der Rassendiskriminierung.

2011 folgte die Wahl zur Richterin des Bundesverfassungsgerichts. Mit 42 Jahren waren Sie auch hier die Jüngste, die bis dahin in dieses Amt gewählt wurde.

Im ersten Senat waren Sie zuständig für – Familienrecht. Es zählt nach unserem herkömmlichen dogmatischen Verständnis zum Zivilrecht, just jenem Rechtsgebiet, das Ihnen im Studium ja noch so besonders am Herzen gelegen hat. Dass Verfassungsrichter in Karlsruhe nicht regelmäßig für Materien zuständig werden, in denen sie bereits als Experten ausgewiesen sind, hat erkennbar seinen Grund: Persönliche Agenden sollen nicht in Karlsruhe umgesetzt werden. Und der unverstellte, frische Blick auf Rechtsprobleme ermöglicht auch ein neues Überdenken alter Fragen. Die familienrechtliche Zunft wurde mit einem solchen frischen Blick – Ihrem Blick – konfrontiert.

Sieben Jahre waren Sie in Karlsruhe für das Familienrecht zuständig. Als Berichterstatterin haben Sie viele grundlegende Entscheidungen vorgeprägt und so dazu beigetragen, dass sich das Familienrecht an die modernen gesellschaftlichen Gegebenheiten angepasst hat. Die Entscheidung zur Sukzessivadoption durch eingetragene Lebenspartnerschaften gehörte dazu. Das Urteil war, wie könnte es anders sein, in der Öffentlichkeit umstritten: Das Bundesverfassungsgericht, so konnte man damals lesen, maße sich gesetzgeberische Befugnisse an. Ähnlich kontrovers war die Debatte um die Entscheidung zum Dritten Geschlecht. Zu nennen sind auch die Verfahren zum Regressanspruch für Scheinväter und die Entscheidung zum isolierten Abstammungserklärungsanspruch. Wichtig waren Ihnen – so haben Sie selbst einmal berichtet – die bis dahin mehr als eintausend kindschaftsrechtlichen Verfahren, die im Wesentlichen als Kammerentscheidungen ergingen. Sie haben betont, dass diese Entscheidungen besonders schnell getroffen werden müssen, um die leidvolle Situation der Kinder in den Rechtsstreitigkeiten der Eltern nicht über Gebühr zu verlängern. Jede Verletzung von Grundrechten sei eine zu viel, sagten Sie einmal.

Dass viele Entscheidungen, die Sie vorbereitet haben, einstimmig ergingen, wird Ihrer exzellenten Expertise, Ihrem Charme und auch Ihrer Hartnäckigkeit zugeschrieben, ebenso Ihrer klaren Sprache und Ihrem strategischen Geschick.

Liebe Frau Britz, in den letzten fünf Jahren Ihrer Amtszeit waren Sie unter anderem dann für das Umweltrecht zuständig. Und auch auf diesem Feld haben Sie Geschichte geschrieben: Der Klimaschutzbeschluss ist unter den weit mehr als 5.200 Verfahren , die in Ihrem Dezernat erledigt wurden, wohl die Entscheidung, die auf Dauer mit Ihrem Namen verbunden bleiben wird. Der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen, verankert in Art. 20a GG, und der Grundrechtsschutz in einer intertemporalen Dimension sind die verfassungsrechtlichen Ansatzpunkte. Die überragende Bedeutung des Klimaschutzgebots des Art. 20a GG, gerade auch bei Entscheidungen des Gesetzgebers, haben Sie kürzlich noch einmal in Ihrem Beschluss zur – letztlich aus anderen Gründen gescheiterten – Verfassungsbeschwerde gegen das gesetzgeberische Unterlassen der Einführung eines allgemeinen Tempolimits auf Bundesautobahnen betonen können. Auch diese bahnbrechenden Beschlüsse zeigen die langen Linien, die Ihrer Beschäftigung mit den einschlägigen Rechtsfragen zugrunde liegen. Schon früh kamen Sie in Ihrer wissenschaftlichen Arbeit bei Rudolf Steinberg, der über den Ökologischen Verfassungsstaat schrieb und der Sie eigenem Bekunden nach stark geprägt hat, mit diesem Thema in Berührung. Die Klimaschutz-Entscheidung wird als große Geste, glänzender Moment, Verfassungsblitz beschrieben. Sie hat Diskussionen ausgelöst und Entwicklungen geprägt.

Ich stelle mir die Gespräche und Überlegungen im Richterkollegium sehr spannend vor, zumal Ihre Kolleginnen und Kollegen im Gericht, aber auch Ihre wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Ihre Lust am Disput und Ihre Offenheit rühmen. Sie ist eine Verfassungsrichterin zum Anfassen, sagte eine Mitarbeiterin über Sie, eine, die Freiräume gewährt, praktisch die Gleichberechtigung fördert, die das Gespräch sucht und fordert, die unvermittelt in der Tür steht für eine Unterhaltung über eine Rechtsfrage.

Ich tauge nicht als Role Model für junge Juristinnen, haben Sie einmal gesagt. Liebe Frau Britz: Das möchte ich bezweifeln! Meinem Eindruck nach suchen viele junge Frauen nach konkreten Vorbildern, wie sie anspruchsvolle berufliche und private Lebensperspektiven miteinander verbinden können. Sie haben das nach meinem Eindruck geschafft. Deshalb: Auch wenn Sie nicht Role Model sein wollen, Sie geben Beispiel für Jüngere, die nach Orientierung suchen. Und ich finde: ein gutes Beispiel!

Liebe Frau Britz, von heute an dürfen Sie wieder sagen, was sie wollen – so haben Sie die Perspektive für die Zeit nach dem Richteramt beschrieben. Das Gebot richterlicher Zurückhaltung gilt jetzt nur noch eingeschränkt. Auch deshalb werden wir, davon bin ich überzeugt, noch viele kluge Wortmeldungen zur juristischen und politischen Lage im Land von Ihnen hören.

Ich darf Sie nun zur Überreichung der Entlassungsurkunde nach vorne bitten.

Sie haben unserem Land herausragende Dienste erwiesen. Als sichtbare Anerkennung dafür darf ich Ihnen nun das Große Verdienstkreuz mit Stern und Schulterband des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland verleihen. Nochmals vielen Dank und herzlichen Glückwunsch!

Liebe Frau Meßling, der Bundesrat hat Sie am 31. März 2023 zur Richterin des Bundesverfassungsgerichts gewählt. Dazu gratuliere ich Ihnen von Herzen!

Sie kommen nach einer Karriere an das Bundesverfassungsgericht, die Sie als ganz ausgezeichnete Juristin ausweist. In Karlsruhe wird ohne Mühe Parität erreicht, weil wir exzellente Frauen in Justiz, Rechtspflege und Rechtswissenschaft haben, die sich durch herausragende Eignung, Leistung und Befähigung für die höchsten Ämter qualifizieren.

Liebe Frau Meßling, nach dem Studium in Trier und Münster promovierten Sie im Jahr 2001 zum Thema Lösung rechtsgeschäftlicher Bindungen im deutschen und italienischen Privatrecht, vielleicht eine Reminiszenz an Ihren Schulbesuch in Italien. Anschließend waren Sie schon einmal am Bundesverfassungsgericht, als wissenschaftliche Mitarbeiterin von Renate Jäger in den Jahren zwischen 2002 und 2005. In gewisser Weise treten Sie auch das Erbe von Frau Jäger an: Sie war ebenfalls vor ihrer Wahl Bundessozialrichterin.

In der baden-württembergischen Sozialgerichtsbarkeit waren Sie an den Sozialgerichten Karlsruhe und Freiburg tätig, mit Abordnungen an den Verwaltungsgerichtshof Mannheim und als Personalreferentin in das baden-württembergische Ministerium der Justiz. Nach der Berufung an das Landessozialgericht Baden-Württemberg im Jahr 2012 wurden sie 2016 zur Richterin am Bundessozialgericht gewählt. Dort wurden Sie 2021 Vorsitzende Richterin, im Januar 2022 Vizepräsidentin. Sie waren eigentlich für die Nachfolge von Präsident Schlegel designiert. Ihr bisheriger Präsident wird mit dem Satz zitiert: Sie war einfach die Beste.

2022 wählte Sie der Deutsche Sozialgerichtstag zu seiner Präsidentin – als ausgewiesene Sozialrechtlerin, die sich auch durch ihre wissenschaftlichen Publikationen im Bereich der Grundsicherung für Arbeitssuchende, des Sozialhilferechts, des Rechts der sozialen Pflegeversicherung, der gesetzlichen Krankenversicherung und zu den Besonderheiten der Corona-Gesetzgebung eine Namen gemacht hatte.

Auch wenn Sie in Ihrem neuen Amt wohl nicht für das Sozialrecht zuständig sein werden – das macht ja Herr Wolff –, so finde ich es wichtig, dass eine Richterin aus der Fachgerichtsbarkeit an das Bundesverfassungsgericht gewählt wurde. Wenn ich richtig gezählt habe, kamen erst drei Richter vom Bundesfinanzhof, zwei vom Bundesarbeitsgericht und vor Ihnen zwei vom Bundessozialgericht nach Karlsruhe.

Sie, liebe Frau Meßling, haben viele verschiedene berufliche Erfahrungen, in der Rechtsprechung wie in der Verwaltung. Aber Sie gelten nicht nur als leistungsstark, sondern gleichzeitig als Teamarbeiterin. Ich bin mir sicher, dass Sie mit all diesen Erfahrungen und Eigenschaften für das Bundesverfassungsgericht und Ihre Kolleginnen und Kollegen ein großer Gewinn sind.

Ich darf Sie nun, liebe Frau Meßling, zur Ernennung und zur Vereidigung nach vorne bitten. Für Ihr neues Amt wünsche ich Ihnen gutes Gelingen!