Jubiläumsveranstaltung "Auf den Spuren unserer Demokratie – 50 Jahre Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten"

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 4. Mai 2023

Bundespräsident Steinmeier hat die Jubiläumsveranstaltung "Auf den Spuren unserer Demokratie – 50 Jahre Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten" am 4. Mai im Park von Schloss Bellevue mit einer Ansprache eröffnet: "Demokratische Bürgerinnen und Bürger müssen heute mehr denn je willens und in der Lage sein, sehr genau hinzusehen, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen und im offenen, vernünftigen Streit der Argumente ernsthaft nach Wahrheit zu suchen."

Bundespräsident Steinmeier und Elke Büdenbender gucken sich eine Broschüre an

Geschichte ist überall. Wo auch immer wir hinkommen, finden wir etwas vor, das Menschen zu früheren Zeiten geschaffen, geprägt und hinterlassen haben. Als ich hier ins Bellevue kam und das Amt des Bundespräsidenten übernahm, habe ich eine besonders wertvolle Institution vorgefunden: den Geschichtswettbewerb. Einen Wettbewerb, den Gustav Heinemann und Kurt Körber 1973 ins Leben riefen und der dann von allen meinen Amtsvorgängern fortgeführt worden ist.

Heute feiern wir gemeinsam den fünfzigsten Geburtstag dieses Wettbewerbs, ein halbes Jahrhundert Geschichte. Und wir alle wissen: Geschichte wird nicht nur von Präsidenten und Stiftern gemacht, nicht nur von Frauen und Männern an der Spitze von Staaten, Institutionen und Unternehmen. Dass der Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten zu einer Erfolgsgeschichte geworden ist, das ist vor allem Ihnen zu verdanken: der Körber-Stiftung und ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern; den beratenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, den Jurorinnen und Juroren, den Tutorinnen und Tutoren – und ganz besonders natürlich all jenen, die sich als Schülerinnen und Schüler auf Spurensuche begeben haben.

Unser Fest heute hier in diesem Park, liebe Gäste, ist nicht mein Fest, es Ihr Fest. Und ich freue mich sehr, dass wir an diesem wirklich unerwartet schönen Frühlingstag beisammen sein können. Fühlen Sie sich wie zu Hause bei uns – herzlich willkommen in Bellevue!

Seit 1973 hat sich viel verändert, natürlich auch der Geschichtswettbewerb. Aber die Grundidee, die ist eigentlich unverändert erhalten geblieben: Schülerinnen und Schüler sollen Geschichte selbst erforschen und entdecken; sie sollen in ihrer Familie, ihrer Gegend, ihrer Lebenswelt nach Spuren der Vergangenheit suchen, eigene Fragen stellen und direkt aus Quellen schöpfen.

Und es ist wirklich ganz, ganz großartig, was in den vergangenen fünfzig Jahren aus dieser Idee geworden ist! Mehr als 155.000 Kinder und Jugendliche haben Keller und Dachböden durchforstet; haben Archive von Gemeinden, Lokalzeitungen, Unternehmen und Vereinen besucht; haben die eigenen Großeltern oder Zeitzeugen aus der Nachbarschaft interviewt, alte Fotos und Plakate studiert, Briefe und Tagebücher entziffert, Akten und Karten gewälzt. Sie haben ihre Funde kritisch befragt, eingeordnet, erklärt, bewertet. Und sie haben das, was sich früher in ihrer Familie oder an ihrem Wohnort zugetragen hat, erzählt und in Szene gesetzt, in Texten, Comics, Theaterstücken, Filmen oder Podcasts.

Mehr als 36.000 Forschungsarbeiten sind auf diese Weise entstanden. Sie erzählen die Geschichten von Frauen und Männern, die im 19. Jahrhundert in ihrer Gegend für Freiheit und Menschenrechte eintraten; von Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma, Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern, die während des Nationalsozialismus in deutschen Städten unter aller Augen gedemütigt, eingesperrt, beraubt oder ausgebeutet wurden; sie erzählen von Menschen, die verfolgten Nachbarn halfen oder vor Ort Widerstand gegen Unterdrückung und Unrecht leisteten; sie erzählen Geschichten von Zugewanderten und Geflüchteten; von Oppositionellen und Unangepassten in der DDR; von Vorkämpferinnen der Frauen-, Friedens- und Umweltbewegung, von Schwulen und Lesben und vielen anderen mehr.

Diese Geschichten führen uns vor Augen, was Menschen zu verschiedenen Zeiten am jeweiligen Ort bewirkten oder auch verhinderten, was sie erlitten oder erduldeten, wie ihr Alltag aussah und wie sie ihn bewältigten. Sie lassen uns erfahren, wie sich technische Erfindungen, Umweltkatastrophen, wirtschaftliche und gesellschaftliche Umbrüche, nicht zuletzt politische Entscheidungen, die in Hauptstädten getroffen wurden, ganz konkret auf das Leben in Städten und Dörfern auswirkten. Es sind Geschichten, die viele Menschen in unserem Land besser haben verstehen lassen, wie sie selbst, ihre Familie oder ihre Gegend zu dem wurden, was sie heute sind.

Zukunft braucht Herkunft, hat der Philosoph Odo Marquard geschrieben. Ich finde, das ist ein sehr schönes Motto für unseren Geschichtswettbewerb. Denn wenn wir uns der Vergangenheit unseres eigenen Landes zuwenden, dann erfahren wir, wozu Menschen fähig sind, im Guten wie im Schlechten. Wir verstehen, dass wir die Erinnerung an die dunklen Kapitel unserer Geschichte wachhalten müssen, damit nie wieder geschieht, was nie wieder geschehen darf. Und es wird uns hoffentlich auch bewusst, dass wir erzählen müssen, was in unserer Geschichte gelungen ist, was wir bewahren, verteidigen oder erneuern wollen.

Viele junge Spurensucherinnen und Spurensucher haben Geschichten aus der Kolonialzeit, dem Nationalsozialismus oder der DDR-Diktatur zutage gefördert, die in ihrer Familie oder in ihrer Gegend verdrängt, beschwiegen, vielleicht auch zurechtgebogen oder einfach nur vergessen worden waren. Sie haben den Anstoß dafür gegeben, dass unterdrückte Konflikte in ihrem Ort nicht weiter vor sich hin schwelten, sondern endlich offen ausgetragen wurden. Und sie haben nicht zuletzt die lokale Erinnerungskultur belebt und vielfältiger gemacht.

Es ist und bleibt die historische Verantwortung unseres Landes, die Erinnerung an alle Opfer und Verbrechen der Nationalsozialisten, ihrer Komplizen und Kollaborateure wachzuhalten. Der Geschichtswettbewerb hat dazu beigetragen, dass wir dieser Verantwortung jedenfalls besser gerecht werden können. Vielen Schülerinnen und Schülern ist es gelungen, bis dato unbekannte Zeugnisse von Nazi-Gräueln ans Licht zu holen; viele haben Überlebende der Shoah interviewt, die inzwischen gestorben sind; viele haben dafür gesorgt, dass die Namen und Geschichten der ehemals Verfolgten und Erniedrigten heute einen festen Platz in unserem kollektiven Gedächtnis gefunden haben.

Der Geschichtswettbewerb hat in den vergangenen Jahrzehnten unser Selbstverständnis als Deutsche mitgeprägt. Es ist auch ihm zu verdanken, dass die Erinnerung an die Shoah und die Auseinandersetzung mit unserer historischen Schuld heute Teil unserer Identität sind. Und der Wettbewerb macht Hoffnung, dass das auch in Zukunft so bleiben wird.

Unser Land, Sie wissen das, ist ein Land mit Einwanderungsgeschichte. Gerade in den vergangenen Jahrzehnten sind unzählige Menschen mit ganz unterschiedlichen Herkunftsgeschichten nach Deutschland gekommen – Geflüchtete und Vertriebene aus Mittel- und Osteuropa; sogenannte "Gastarbeiter" aus Italien, Spanien, Griechenland oder der Türkei, "Vertragsarbeiter" aus Vietnam, Kuba oder Mosambik; Aussiedler aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion; Geflüchtete aus Afghanistan, Syrien, Iran, Irak, Georgien oder jetzt aus der Ukraine.

Ich bin überzeugt: Wir müssen uns unsere unterschiedlichen Geschichten erzählen, damit wir gemeinsam in eine gute Zukunft aufbrechen können. Zukunft braucht heute nicht nur Herkunft – Zukunft braucht Herkünfte. Das Miteinander der vielen verschiedenen Menschen in unserem Land und in Europa kann nur gelingen, wenn wir einander respektvoll zuhören und uns über die Unterschiede und die Gemeinsamkeiten verständigen.

Ich finde, da können, da müssen wir in unserem Land noch besser werden! Wir alle sollten das Gespräch über unsere Herkunftsgeschichten noch viel stärker suchen, in der Nachbarschaft, bei der Arbeit, in der Öffentlichkeit, an allen Orten und zwischen allen Menschen, die in Deutschland leben!

Der Geschichtswettbewerb hat dieses Gespräch immer wieder belebt. Er hat junge Deutsche, deren Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern aus anderen Ländern zu uns gekommen sind, dazu angeregt, sich mit ihrer Familiengeschichte erstmals oder noch einmal neu zu beschäftigen, mit Aufbruch und Ankunft, mit Heimat und Fremde, mit Abgrenzung und Anpassung. Die Spurensuche hat ihnen dabei geholfen, ihre ganz persönliche Heimat zu finden, sich unserem Land zugehörig zu fühlen, ohne ihre Herkunft zu verleugnen. Zugleich haben junge Forscherinnen und Forscher erfahren, dass in ihrer Region schon immer Menschen verschiedener Herkunft zusammengelebt haben, mal besser und mal schlechter. Und sie haben erfahren, wie viele Vorurteile, Klischees, Feindbilder es in früheren Zeiten gab, von denen manche bis heute lebendig geblieben sind.

Der Geschichtswettbewerb fügt unserer nationalen Erzählung viele verschiedene Herkunftsgeschichten hinzu. Er bereitet den Boden für ein gutes Miteinander in unserem Land, und gerade deshalb ist dieser Geschichtswettbewerb auch in Zukunft ganz und gar unverzichtbar.

Schülerinnen und Schüler bekommen bei ihrer Spurensuche oft auch einen Eindruck davon, dass Geschichte zu allen Zeiten instrumentalisiert und ideologisch missbraucht worden ist. Sie lernen, Quellen kritisch zu befragen, Fakten zu prüfen, sich ein eigenes Urteil zu bilden, den eigenen Standpunkt aber auch immer wieder zu überprüfen und notfalls auch zu korrigieren. Sie lernen, dass Geschichte sich aus vielen verschiedenen Geschichten zusammensetzt, dass es unterschiedliche Sichtweisen und widerstreitende Erinnerungen gibt, Grautöne, Ambivalenzen und Widersprüche, die sich nicht immer völlig auflösen lassen. Aber sie lernen eben auch, dass Geschichte nicht beliebig ist. Es gibt historische Fakten, die nicht zur Debatte stehen, und es gibt universelle Menschenrechte, die uns helfen, historisches Handeln seit der Aufklärung zu beurteilen!

Auch diese kritische Haltung brauchen wir heute dringender denn je. Denn wir erleben ja, wie autoritäre Regime Geschichte zur Waffe schmieden und Informationen fälschen, wie sie versuchen, mit modernster Technik Öffentlichkeiten zu täuschen und mit historischen Mythen Konflikte zu schüren und, ganz aktuell, auch Kriege zu rechtfertigen. Demokratische Bürgerinnen und Bürger müssen heute mehr denn je willens und in der Lage sein, sehr genau hinzusehen, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen und im offenen, vernünftigen Streit der Argumente ernsthaft nach Wahrheit zu suchen. Der Geschichtswettbewerb bereitet junge Menschen auf diese Rolle vor, und gerade deshalb, finde ich, ist der Wettbewerb so etwas wie ein Glücksfall für unsere Demokratie!

Vor fünfzig Jahren, als viele in unserem Land mehr Demokratie wagen wollten, ging es Gustav Heinemann darum, Bewusstsein für die deutsche Freiheitsgeschichte zu schaffen. Er wollte junge Menschen inspirieren, an freiheitliche Traditionen anzuknüpfen und als selbstbewusste Bürgerinnen und Bürger Verantwortung zu übernehmen, Verantwortung in der Demokratie und für die Demokratie. Ich bin überzeugt: Heute, in einer Zeit, in der freiheitliche Demokratien neuen Angriffen von innen und von außen ausgesetzt sind, ist dieses Anliegen dringender und drängender denn je.

Junge Spurensucherinnen und Spurensucher haben immer wieder – das weiß ich aus den letzten sechs Jahren, in denen ich den Geschichtswettbewerb begleite – den Blick auf mutige Frauen und Männer gelenkt, die in unserer Geschichte für Freiheit, Gleichberechtigung und Gerechtigkeit gekämpft haben. Ihre Geschichten machen uns bewusst: Demokratie ist eben nicht, wie manche fälschlicherweise glauben, vom Himmel gefallen. Sondern Demokratie musste in langen Kämpfen und unter vielen Opfern errungen werden. Und sie ist, auch das gehört zur Wahrheit, wenn sie einmal errungen ist, nie selbstverständlich und nie auf ewig garantiert.

Wir dürfen unsere liberale Demokratie nie wieder preisgeben, auch das ist eine Lehre aus unserer Geschichte. Es ist an uns, den Bürgerinnen und Bürgern, sie immer wieder neu zu beleben, zu schützen und gegen Angriffe zu verteidigen! Zukunft braucht Herkunft, weil historisches Bewusstsein unseren Blick für gegenwärtige und zukünftige Gefahren schärft – und weil es unsere Wehrhaftigkeit gegenüber den Verächtern der Demokratie stärkt.

Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine, der Kampf gegen den Klimawandel, der Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft, all das verlangt uns in diesen Tagen, in diesen Zeiten viel ab; manche fühlen sich verunsichert, mindestens beunruhigt. Ich bin überzeugt: Gerade in dieser Zeit, gerade heute brauchen wir die Erinnerung an die vielen Wegbereiterinnen und Wegbereiter unserer Demokratie; an all die Mutigen, die in früheren Zeiten gegen Unrecht und Unterdrückung aufbegehrt haben; die in Zeiten des Umbruchs entschlossen neue Wege beschritten; die trotz aller Widerstände und Niederlagen die Hoffnung auf eine bessere Zukunft nie aufgegeben haben. Sie alle können uns heute Vorbild sein. Aus ihren Geschichten können wir Kraft und Mut schöpfen für die Aufgaben, die vor uns liegen – und das eben nicht nur in der "großen Politik", sondern auch zu Hause und in unserer Nachbarschaft.

Die Beschäftigung mit ihrer Familien- oder Ortsgeschichte hat Spurensucherinnen und Spurensucher immer wieder motiviert, sich für eine gute, eine bessere Zukunft zu engagieren. Manche sind für Kinder von Aussiedlern oder Geflüchteten da, andere bringen Menschen aus Ost und West zusammen oder setzen sich für Umwelt- und Artenschutz ein. Sie alle sind das beste Beispiel dafür, dass Geschichte Menschen in Bewegung bringt.

Unsere Demokratie braucht den Geschichtswettbewerb, jetzt, in Zukunft und für die Zukunft. Einen großen Dank an alle, die diesen Wettbewerb möglich machen und junge Menschen immer wieder für Geschichte begeistern, nicht zuletzt den vielen engagierten Lehrerinnen und Lehrern! Ein riesengroßes Dankeschön an alle, die in den vergangenen fünfzig Jahren selbst am Wettbewerb teilgenommen haben! Einige von ihnen sind heute hier, und bei uns sind natürlich vor allem auch Schülerinnen und Schüler aus der aktuellen Runde. Sie alle haben Geschichte geschrieben, Sie schreiben mit an der Geschichte unserer Zukunft – und gerade deshalb freue ich mich auf die Begegnung nachher mit Ihnen. Herzlichen Dank fürs Kommen, nochmals herzlich willkommen, ich freue mich auf diesen Vormittag.