Gedenkveranstaltung für die Opfer des Brandanschlags vom 29. Mai 1993

Schwerpunktthema: Rede

Solingen, , 29. Mai 2023

Der Bundespräsident hat am 29. Mai der Opfer des Brandanschlags vor 30 Jahren in Solingen mit einer Rede gedacht: "Wer dieses Land wirklich liebt, der wird seine Mitmenschen nicht hassen. Auch 30 Jahre nach der grausamen Tat von Solingen sind wir noch immer fassungslos, zornig, traurig. Aber: Wir sind nicht eingeschüchtert, nicht hilflos, nicht tatenlos. Wir teilen die Hoffnung und das Engagement von Mevlüde Genç. Und die Erinnerung an Gürsün İnce, Hatice Genç, Gülüstan Öztürk, Hülya und Saime Genç soll uns darin weiter bestärken."

Bundespräsident Steinmeier hält im Theater und Konzerthaus Solingen eine Gedenkrede für die Opfer des Brandschlags vor 30 Jahren

[…] ich gehe einkaufen und stehe im feuer ich bringe meine enkeltochter am morgen zur schule und stehe im feuer ich sitze beim frühstück und rieche das feuer ich liege im bett und spüre die hitze des feuers in meinem gesicht […]

In diesen Worten aus Ihrem Roman, liebe Frau Dündar, höre ich Mevlüde Genç sprechen. Was Sie schreiben und wie Sie das Leid und die Trauer der Familie Genç beschreiben, zerreißt einem das Herz, führt uns zurück in jene Nacht vor dreißig Jahren.

Liebe Familie Genç, wir saßen vorhin, vor Beginn dieser Gedenkveranstaltung, zusammen, und ich durfte gemeinsam mit Ihnen trauern. Sie haben mir erzählt, wie der Schmerz, wie die Erinnerung Ihr Leben bestimmen. Sie, die solches Leid erfahren haben, Sie brauchen eigentlich keinen Jahrestag zum Erinnern. Ihr Schmerz ist allgegenwärtig, und ich kann mir vorstellen: Ihr Schmerz ist auch nach 30 Jahren nicht weniger geworden. Er wird niemals vergehen.

Ich bin heute hier, um der fünf Toten, der jungen Frauen und Mädchen, zu gedenken, die am 29. Mai 1993 ermordet wurden. Heute halten wir miteinander inne und trauern um Gürsün İnce, um Hatice Genç, um Gülüstan Öztürk, um Hülya Genç, um Saime Genç. Und natürlich um Mevlüde Genç, die uns im vergangenen Herbst verlassen hat.

Vor dreißig Jahren, da wollten Sie, liebe Familie Genç, den höchsten islamischen Feiertag, das Kurban Bayrami, feiern. Sie hatten schon die Geschenke und die schönen Kleider bereit gelegt. Die kleine Saime hatte besonderen Grund zum Feiern: Sie war stolz darauf, bald in den Kindergarten zu gehen. Stattdessen: Flammen und Rauch, Schmerz und Tod.

Liebe Hatice Genç, Sie sprechen auch heute oft in der Gegenwartsform, wenn Sie über den Anschlag erzählen, bei dem Sie Ihre zwei Töchter verloren. Dieser 29. Mai 1993, der geht nicht vorbei für die Familien Genç, Duran, Saygın, İnce und Öztürk. Albträume, Erinnerungen, Angst begleiten Ihr Leben.

Mevlüde Genç hat nach der schrecklichen Tat aus ihrem Schmerz und ihrer Trauer kein Geheimnis gemacht. In der Öffentlichkeit wurde sie vor allem als Versöhnerin geschätzt. Als diejenige, die selbst in den unruhigen Tagen nach dem Brandanschlag dazu aufrief, Gewalt nicht mit Gegengewalt zu beantworten. Als diejenige, die für Nächstenliebe und Menschlichkeit einstand, für die Nächstenliebe stärker war als der Hass.

Aber Mevlüde Genç hat auch harte Strafen für die Täter angemahnt, und sie forderte immer wieder, wie sie es selbst sagte, den Dingen auf den Grund zu gehen. Mevlüde Genç trat nicht nur für Versöhnung ein, sondern auch dafür, dass unsere gesamte Gesellschaft hart gegen Rechtsextremismus, Hass und Gewalt vorgeht – allen voran die staatlichen Institutionen.

Und in diesem Sinne von Mevlüde Genç geht es mir heute auch um Hoyerswerda, Saarlouis, Rostock-Lichtenhagen, Mölln – und leider auch um viele Orte mehr. Es geht mir um jene rechtsextremen Taten, die sich in das kollektive Gedächtnis unseres Landes eingegraben haben – und auch um solche, von denen heute nicht mehr gesprochen wird. Um Taten lange vor dem Brandanschlag von Solingen, wie das Oktoberfest-Attentat 1980, und um Taten heute, wie die in Halle und Hanau. Und es geht auch um die Morde des NSU und die Taten vor und nach Solingen.

Als Bundespräsident kann ich nicht dazu schweigen, in welchem Klima diese Anschläge gediehen sind. Ich kann heute nicht zu Ihnen sprechen, ohne den braunen Nährboden des Solinger Brandanschlages und der vielen weiteren Taten zu benennen.

Viel zu lange saß unser Land der durch nichts gestützten, aber ständig wiederholten Behauptung auf, es seien verblendete Einzeltäter, die ihr Unwesen treiben. Aber die Täter kommen nicht aus dem Nichts, sagte Bundespräsident von Weizsäcker bei der Trauerfeier am 3. Juni 1993. Wahr ist: das gesellschaftliche Umfeld, die Strukturen der Tätergruppen, die Ideologie der Täterinnen und Täter wurden lange übersehen, ignoriert, auch verdrängt. Ich spreche von Rechtsextremismus, von Rassismus, von Menschenfeindlichkeit.

Die Angriffe von Rechtsextremen galten und gelten all jenen, die vermeintlich anders sind: Die dunkle Haare haben, einen sogenannten ausländischen Namen tragen, andere Religionen haben. Sie galten und gelten Flüchtlingen, Obdachlosen, Menschen mit Behinderung – und auch denen, die, wie zum Beispiel Walter Lübcke, offen für eine tolerante Gesellschaft eintreten.

Rechtsextreme und Rassisten entmenschlichen den Einzelnen, um ihn zu hassen – und verbreiten damit Angst und Schrecken unter all jenen, die zu Opfern werden könnten. Ich nenne das: Terror. Dieser rechte Terror ist verantwortlich für die Toten hier in Solingen. Diesen rechten Terror gab es vor Solingen, und es gibt ihn nach Solingen. Es gibt eine Kontinuität von rechtsextremer Gewalt in unserem Land.

1992 wurde die Hip-Hop-Band Advanced Chemistry mit einem Song bekannt, der angesichts der rechten Gewalt entstanden war: Fremd im eigenen Land hieß er. Die Musiker rappten: […] ich bin kein Einzelfall, sondern einer von vielen / Nicht anerkannt, fremd im eigenen Land / Kein Ausländer und doch ein Fremder […]

Und genau so fühlten damals sehr viele, die nach Deutschland gekommen waren, um hier zu arbeiten, hier zu leben. Die dieses Land nach und nach als ihr Land ansahen, und es als solches ansehen wollten. Nun aber breitete sich unter ihnen die Angst aus: Wir werden kollektiv angegriffen, wir sind ausgegrenzt und bedroht – und es kann jeden von uns treffen. Das war ein beherrschendes Gefühl bei vielen in dieser Zeit Anfang der 1990er Jahre.

Unmittelbar nach dem Brandanschlag waren hier, wie ich gelesen habe, in Solingen alle Strickleitern ausverkauft. Die Menschen hatten Angst, sich im Notfall sonst nicht mehr aus dem oberen Stockwerk ihres Hauses retten zu können. In den Wohnungen standen damals Wassereimer bereit, um bei einem Feuer schnell löschen zu können. An den Klingelschildern und Briefkästen wurden alle fremd klingenden Namen abmontiert.

Stellen Sie sich das einmal vor, meine Damen und Herren, alle die Sie nicht betroffen sind – wie es sein muss, eine Strickleiter zu kaufen, aus Angst vor dem Feuer.

Oft habe ich gehört, dass gerade der Brandanschlag von Solingen einen Bruch dargestellt hat. Einen Bruch in der Frage, ob Deutschland Heimat ist, Heimat sein soll. Dinçer Güçyeter, jüngst mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet, beschreibt in seinem Roman Unser Deutschlandmärchen, wie seine Mutter, Ende der 1960er Jahre nach Deutschland gekommen, das Jahr 1993 erlebt hat: Du denkst, alles hat seinen Weg gefunden, die Erde auf dem Boden hat sich festgetreten. Aber dann weht wieder ein neuer Wind, […], reißt Türen und Fenster aus deinem Haus. Du glaubst, weil deine Kinder hier geboren sind, werden sie hier bleiben, denkst, die brauchen nicht mehr dieses gespaltene Gefühl, die haben einen festen Ort, und dann brennt es auf dem Bildschirm.

Sie, lieber Herr Genç, und Ihre Frau haben damals ganz bewusst gesagt: Wir bleiben hier. Wir nehmen die deutsche Staatsbürgerschaft an. Wir gehören hierher. Ich und wir sind Ihnen sehr dankbar, dass Sie diesen Weg genommen haben.

Und ich bin dankbar, dass so viele weitere Menschen – wie auch Sie stellvertretend, Herr Minister Özdemir – sich damals entschieden haben: Dieses Land ist nicht nur unser Land, sondern wir gestalten es mit. Solingen war auch in dieser Hinsicht ein Wendepunkt für viele Menschen in Deutschland mit Zuwanderungsgeschichte: Laut und deutlich zu sagen und zu zeigen, dass man dazugehört, dass man ein verdammtes Recht darauf hat, nach vielen Jahren harter Arbeit als zugehörig anerkannt zu werden. Nicht mehr zwischen zwei Stühlen zu sitzen, sondern auf zwei Stühlen!

Wie also schaffen wir das, was Mevlüde Genç unter dem großen Wort der Versöhnung eingefordert und proklamiert hat? Wie kann unser Land weiter zusammenwachsen? Wie stärken wir das, was uns verbindet?

Ich meine: Dafür braucht es zuallererst einen wehrhaften, einen wachsamen und einen aufrichtigen Staat. Jeder Mensch muss in unserem gemeinsamen Land in Sicherheit und Frieden leben können, und der Staat muss besonders diejenigen schützen, die ein höheres Risiko haben, zum Opfer zu werden. Dafür muss er alles, dafür muss er noch mehr tun. Ich bin fassungslos, wenn ich höre, dass einzelne Angehörige von Sicherheitsbehörden, die rechtsextreme Anschläge verhindern sollen, sich in rechten Chatgruppen organisieren. Das können und das dürfen wir nicht dulden. Wenn ich von einer wehrhaften Demokratie spreche, dann heißt das für mich: stark zu sein gegen die, die Hetze und Gewalt verbreiten; stark gegen jene, die die Vielfalt unseres Landes schlicht und einfach nicht wahrhaben wollen.

Und da geht es auch um die Sprache und die Worte, die wir benutzen. Mit Worten kann man das Gewaltpotenzial einer Gesellschaft aktivieren. Und wir haben allzu oft erlebt, dass Worte zu Taten wurden. Wenn Politiker glauben, verbal um den rechten Rand buhlen zu müssen; wenn auch Politiker die Grenzen zwischen dem Sagbaren und dem Unsäglichen verschieben, dann befeuern sie damit auch die Gewalt. Der Brandanschlag von Solingen, der in der Zeit der polarisierten und hasserfüllt geführten Debatte um die Asylpolitik geschah, führt uns das drastisch vor Augen.

Aber auch jede Bürgerin und jeder Bürger hat eine Verantwortung. Ich wünsche mir Mitmenschen, die an einer Bushaltestelle eingreifen, wenn ein Mädchen rassistisch beschimpft oder attackiert wird. Die es nicht dulden, wenn an einer Schule Hakenkreuze an die Wände geschmiert werden. Die widersprechen, wenn Lügen, Hass und Hetze am Arbeitsplatz oder in sozialen Netzwerken, im Hausflur oder am Stammtisch verbreitet werden. Schweigen und Gleichgültigkeit werden viel zu oft als stumme Zustimmung gedeutet. Was wir stattdessen brauchen sind Zivilcourage und Mut!

Ich will daher an dieser Stelle nicht nur über Gewalt sprechen, sondern auch über Vorurteile und Diskriminierungen im Alltag. Denn die beiden Worte Ressentiment und Rassismus teilen sich nicht nur viele Buchstaben: Der alltägliche Rassismus bei der Jobsuche, bei der Wohnungssuche, bei der Fahrkartenkontrolle gründet vielmehr auf tiefsitzende Ressentiments.

Ich selbst, als weißer Mann mit erkennbar deutschem Namen, muss nicht erfahren, wie es sich anfühlt, im Alltag ausgegrenzt zu werden. Aber ich bin Bundespräsident aller Menschen in unserem Land. Ich höre ganz besonders genau hin, wenn mir erzählt wird, wie zermürbend, wie verletzend es ist, im eigenen Land als Fremder behandelt zu werden. Und ich sage bewusst: im eigenen Land. Denn dieses Land, unsere gemeinsame Heimat, ist heute ein vielfältiges und friedliches Zuhause für viele.

Für mich ist klar: Wer dieses Land wirklich liebt, der wird seine Mitmenschen nicht hassen.

Auch 30 Jahre nach der grausamen Tat von Solingen sind wir noch immer fassungslos, zornig, traurig. Aber: Wir sind nicht eingeschüchtert, nicht hilflos, nicht tatenlos.

Wir teilen die Hoffnung und das Engagement von Mevlüde Genç. Und die Erinnerung an Gürsün İnce, Hatice Genç, Gülüstan Öztürk, Hülya und Saime Genç soll uns darin weiter bestärken.