Eröffnung der Konferenz "Lithuania and Germany in Europe: View from the Perspective of 700 years"

Schwerpunktthema: Rede

Vilnius/Litauen, , 30. Mai 2023

Am 30. Mai hat Bundespräsident Steinmeier die Konferenz "Lithuania and Germany in Europe: View from the Perspective of 700 Years" in Vilnius mit einer Rede eröffnet: "Die Europäische Union steht für jene Werte, um die Litauerinnen und Litauer über Jahrhunderte gekämpft haben. Europa, das ist dort, wo die Menschen seine Werte lieben und leben, und das ist Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmung!"

Ansprache zur Eröffnung der Internationalen Konferenz "Lithuania and Germany in Europe: View from the Perspective of 700 Years"

Ich freue mich wirklich sehr, heute hier zu sein, wortwörtlich: mitten in Europa. Jedenfalls sagen das französische Wissenschaftler, die vor mehr als dreißig Jahren berechnet haben, dass nur wenige Kilometer von hier entfernt Europas geographische Mitte liegt. Sicher, Sie wissen das, es gibt auch andere Berechnungsarten anderer Institute, nach denen man wahlweise in Polen, Tschechien, Ungarn, Estland oder auch in Sachsen, in Deutschland, in der Mitte Europas landet.

Aber die Litauerinnen und Litauer waren so begeistert, dass sie dem errechneten Mittelpunkt gleich einen Skulpturenpark, den Europos Parkas, gewidmet haben. Sie sahen sich bestätigt in etwas, was die Menschen hier schon immer fühlten: Litauen gehört mitten hinein nach Europa, mitten hinein in den Kreis der Europäerinnen und Europäer.

Dieses Gefühl, diese europäische Identität, ist so alt wie Litauen selbst. Man kann es herauslesen aus den Briefen, die der litauische Großfürst Gediminas vor 700 Jahren verschickte. Ich freue mich sehr, dass drei dieser Briefe von heute an in der Universitätsbibliothek in einer Ausstellung zu sehen sind. Eine Abschrift dieser Briefe, ein Transsumpt auf Pergament, wurde dafür aus dem Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin hierher nach Vilnius gebracht.

Damals – vor 700 Jahren – gingen die Briefe an die Regierenden, an Räte und Bürger, an Kaufleute und Handwerker in Hanse- und Handelsstädten in ganz Europa. Nach Lübeck, Rostock, Stettin, Riga, Magdeburg, Köln – sogar nach Rom. Gediminas lud die Empfänger dieser Briefe ein, sich in Vilnius niederzulassen. Er versprach ihnen Privilegien, religiöse Toleranz und Vielfalt. Diese Briefe waren weit mehr als ein Anwerbeversuch für ausländische Fachkräfte: Gediminas suchte Beziehungen zu deutschen Fürsten und Anschluss an die christlichen Herrscher Europas. Seine Botschaft war schon damals: Litauen ist wahrhaft europäisch.

Nirgends spürt man diese Offenheit so sehr wie hier, in Vilnius, dem Rom des Ostens, dem Jerusalem des Nordens. Oder wie Tomas Venclova es einst nannte: dem Surrogat des Westens. Osten, Norden, Westen – Sie sehen schon: geographisch geht es wild durcheinander. Und ich bin wirklich froh, dass ich heute vor Historikern und nicht vor Geographinnen und Geographen spreche.

Seit mehr als 700 Jahren leben in Vilnius verschiedene Kulturen und Ethnien zusammen, meist miteinander, manchmal nebeneinander, aber, das ist das Entscheidende: nur selten gegeneinander. An wenigen Orten ist Europa so allgegenwärtig wie hier. Aber auch die Brüche der litauischen und der europäischen Geschichte sind in dieser Stadt zu spüren. Man kann den Spuren nachgehen.

Bevor Sie, die Expertinnen und Experten, sich gleich über diese wechselvolle Geschichte Litauens austauschen werden, möchte ich gern über eine große Konstante in der litauischen Historie sprechen: den unbändigen Freiheitswillen der Litauerinnen und Litauer.

Exemplarisch greife ich die Zeit Mitte des 19. Jahrhunderts heraus, als Litauen Teil des russischen Zarenreiches war. Jene Zeit also, als vom Memelgebiet aus der Widerstand der Litauerinnen und Litauer gegen die Russifizierung organisiert wurde. Gegen den Verlust ihrer Kultur, ihrer Sprache, ihrer Identität.

Als Zar Alexander II. im Jahr 1866 die Verbreitung und den Druck litauischer Werke in lateinischer Schrift verbot, da begann ein für Europa ganz ungewöhnlicher Widerstandskampf. Dreieinhalb Millionen Bücher und Zeitschriften wurden zwischen 1866 und 1904 nach Litauen geschmuggelt – mit Hilfe der Menschen westlich der Memel. Im damaligen Ostpreußen, besonders in Tilsit, entstanden extra zu diesem Zweck Druckereien. Die Knygnešiai, die Bücherträger, werden bei Ihnen bis heute als Volkshelden im Kampf für die Presse- und Meinungsfreiheit verehrt. Sie riskierten ihr Leben – riskierten es für Vaterland und für Muttersprache. Viele starben, für ein paar Seiten bedruckten Papiers. Der Kampf um die eigene Schrift, er wurde zum Symbol des Existenzkampfes des litauischen Volkes.

Von da an erlaubten die Litauerinnen und Litauer niemandem mehr, ihnen ihre Worte, ihre Identität zu nehmen. Die Forderung nach Autonomie und kultureller Eigenständigkeit wurde immer lauter. Sie verstummte auch nicht während der wohl dunkelsten Zeit in der Geschichte Litauens. Mit dem Hitler-Stalin-Pakt 1939 brachten Nazideutschland und die Sowjetunion Tod und Terror über das Land. Die Litauerinnen und Litauer wurden der sowjetischen Besatzung ausgeliefert. Massenverhaftungen, Folter und Deportationen waren an der Tagesordnung. Alles, was national-litauisch war, wurde verboten. Litauen sollte von der Landkarte verschwinden.

Als die Sowjets längst in Vilnius eingezogen waren und der Zweite Weltkrieg schon in Europa tobte, war die Stadt, war Vilnius immer noch ein Ort der Zuflucht, vor allem für polnische Jüdinnen und Juden. Noch am 3. Januar 1940 notierte Emanuel Ringelblum, der weltberühmte Chronist des Warschauer Ghettoarchivs, in sein Tagebuch:

Die Schriftsteller hörten vom Gan Eden in Vilnius […]. Sie zogen dorthin, als Warschau sie nicht mehr so schützen konnte.

Vilnius mit seinen Verlagen, jüdischen Gewerkschaften und Hilfswerken, mit seinen Bildungs- und Forschungseinrichtungen, wie dem 1925 gegründeten Yivo Institut, schien vielen Jüdinnen und Juden damals noch, 1940, wie ein sicherer Hafen. Es wurde ihr Todesurteil. Während der Besatzung 1941 bis 1944 ermordeten die Deutschen fast alle in Litauen lebenden Jüdinnen und Juden.

Die Vokiečių gatvė, die Deutsche Straße, die bereits zu Zeiten Gediminas Kaufleute und Handwerker aus den Hansestädten beherbergte, die über Jahrhunderte Handelszentrum war, sie trennte während dieser dunklen Jahre das große und das kleine Ghetto in Vilnius. Einst Symbol für Offenheit und ethnische Vielfalt, stand sie nun für Rassenwahn, für Verbrechen, Leid und Tod.

Vor sechs Jahren stand ich im Wald von Paneriai, an der Gedenkstätte, nur wenige Kilometer von hier entfernt. Dieser Ort wurde während der deutschen Besatzung zu einem besonderen Ort des Grauens und schlimmster Verbrechen. Zehntausende Jüdinnen und Juden, vor allem aus Vilnius, wurden dort von Deutschen ermordet. Es war das Ende des europäischen Jerusalem.

Auch mit dem 8. Mai 1945, dem Tag, als im Westen Europas die bedingungslose Kapitulation Nazideutschlands gefeiert wurde, endete für Litauen der Terror nicht. Wieder waren die Litauerinnen und Litauer einer sowjetischen Besatzungsmacht ausgeliefert. Sie haben sich nie damit abgefunden. In der Diaspora organisierten sie sich in der Litauischen Weltgemeinschaft – um möglichst viel von ihrer Identität zu bewahren. So lange, bis sie endlich wieder unabhängig sein würden.

Wir alle, meine Generation jedenfalls noch, erinnern uns an die Bilder vom 23. August 1989: zwei Millionen Menschen standen Seite an Seite, Hand in Hand vom estnischen Tallinn über das lettische Riga bis hierher, nach Vilnius – und sie sangen. Eine mehr als 600 Kilometer lange Menschenkette schlängelte sich quer durch das Baltikum. Mich haben diese Bilder damals zutiefst bewegt. Drei Monate vor dem Fall der Berliner Mauer erlebte Europa hier eine singende, klingende, eine wahrhaft friedliche Revolution. Und deshalb sage ich: Dass Deutschland in Freiheit wieder vereint werden konnte, dass das möglich war, das verdanken wir auch dem unbändigen Freiheitswillen der Litauerinnen und Litauer und ihrem Widerstand gegen Fremdbestimmung und Unterjochung.

Heute ist Litauen endlich frei, und als freies Land eingebunden in die Europäische Union. Die Unabhängigkeit brachte Wohlstand und Fortschritt. Vilnius ist heute eine Zukunftsstadt mit einer boomenden IT-Branche, die europaweit ihresgleichen sucht, in einem Land der kurzen Wege, das dank seiner entwickelten Infrastruktur noch immer enger zusammenrückt.

Ganz Litauen atmet diesen Geist der Modernisierung. Aber geblieben sind die Werte: Toleranz, Weltoffenheit und vor allem der unbändige Freiheitswille. Gerade auch hier, in Vilnius.

Tomas Venclova schrieb einst über seine Stadt: Städte können verfallen, aber sie gehen nicht unter. Keiner Macht ist es gelungen, Vilnius ganz in die Knie zu zwingen und seine Aura zu vernichten.

Trotz all der Brüche in der Geschichte haben die Litauerinnen und Litauer etwas bewahrt: ihren Glauben an Europa.

Als Litauen gemeinsam mit neun weiteren Kandidaten den Beitrittsvertrag zur Europäischen Union unterschrieb, wurde Europa nicht einfach nur erweitert. Sondern es wurde gewissermaßen repariert, oder ich könnte auch sagen: Europa wurde wiederhergestellt.

Heute ist Litauen nicht nur Mitglied der Europäischen Union, sondern auch Bündnispartner in der NATO. Und darum ist es mir wichtig, auch an dieser Stelle noch einmal ganz deutlich zu sagen: Wir stehen Seite an Seite! Ihre Sicherheit ist auch unsere Sicherheit!

Der brutale Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine erschüttert nicht nur die Menschen in Litauen und Deutschland, er erschüttert ganz Europa. Doch gerade bei den Menschen hier, an der Ostflanke der NATO, hat er schlimmste Erinnerungen wieder aufleben lassen.

Putin träumt von alter Größe, er will zurück zu den Grenzen vor 1989. Die Freiheit und Unabhängigkeit der nichtrussischen Völker in Osteuropa ist für Putin ein historischer Irrtum, den er mit allen Mitteln zu korrigieren versucht. Deshalb spricht er der Ukraine das Existenzrecht ab, deshalb will er ihre Eigenständigkeit, ja sogar eine eigene ukrainische Identität auslöschen. Dabei setzt Putin auf Methoden, die so brutal sind, dass sie an die dunkelsten Zeiten auf unserem Kontinent erinnern. Plündernd und mordend ziehen seine Truppen durch die Ukraine. Sie foltern, töten Zivilisten, vergewaltigen, entführen, verschleppen Kinder. Jeden einzelnen Tag, seit fast 66 Wochen. Putins Ziel ist die Unterjochung ehemaliger sowjetischer Gebiete.

Sie hier in Litauen wissen, was es heißt, wenn Freiheit bedroht ist, wenn Fremdherrschaft die eigene Identität bedroht. Und darum steht Litauen der Ukraine besonders bei. Auch Deutschland unterstützt die Ukraine, militärisch, finanziell, humanitär. Gemeinsam helfen wir den Ukrainerinnen und Ukrainern in ihrem Kampf für Freiheit und Unabhängigkeit. Nie wieder soll ein Land über das Schicksal eines anderen Landes bestimmen. Das sind unsere gemeinsamen Lehren aus der Vergangenheit.

Deutschland nimmt seine Verantwortung an – in der NATO und in Europa. Dafür stehen auch die deutschen Soldatinnen und Soldaten, die hier stationiert sind und die wir heute, jedenfalls einen Teil davon, noch besuchen werden. Gemeinsam mit unseren Partnern schützen wir Litauen, die NATO-Ostflanke und jeden Quadratzentimeter des Bündnisgebietes der NATO. Das ist auch die Botschaft, die der NATO-Gipfel in Vilnius im Juli ganz sicher senden wird.

Die Geschichte Litauens hat gezeigt: Man kann voller Stolz auf die nationale Identität seine Unabhängigkeit bewahren und gleichzeitig stärkere Bündnisse suchen. Man kann mit vollem Herzen Litauer und gleichzeitig glühender Europäer sein.

Die Litauerinnen und Litauer wussten immer, wohin sie gehörten: in Europas Mitte. Und das eben nicht wegen der Geographie. Sondern: Die Europäische Union steht für jene Werte, um die Litauerinnen und Litauer über Jahrhunderte gekämpft haben. Europa, das ist dort, wo die Menschen seine Werte lieben und leben, und das ist Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmung!

Leben wir sie, leben wir diese Werte gemeinsam. Sehen wir sie als Einladung aneinander, vielleicht auch als Forderung aneinander, manchmal auch als Zumutung aneinander, vor allen Dingen aber als gemeinsame Chance.

Ich wünsche Ihnen eine spannende Konferenz – herzlichen Glückwunsch, Vilnius, und auf die nächsten 700 Jahre!