Videogrußwort beim 25. Internationalen WDR Europaforum 2023

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 6. Juni 2023

Der Bundespräsident hat am 6. Juni das 25. Internationale WDR Europaforum 2023: "Am Katzentisch der Weltpolitik? Europas Rolle nach der 'Zeitenwende'" in Berlin mit einem Videogrußwort eröffnet: "Dieses Europa ist nach wie vor für viele ein Sehnsuchtsort – weil wir für Sicherheit und Stabilität stehen; für Menschenrechte und Demokratie. Ich finde: Wir haben gute Gründe, selbstbewusst zu sein. Selbstbewusst, aber nicht überheblich. Problembewusst, aber nicht verzagt. Europa macht einen Unterschied – daran sollten wir denken, danach sollten wir handeln!"


Meine herzlichsten Grüße an alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer des 25. WDR Europaforums! Und meinen Glückwunsch zu diesem Jubiläum! 25 Jahre sind eine gute Gelegenheit, uns allen noch einmal bewusst zu machen, wo Europa gerade steht – und was im letzten Vierteljahrhundert geschah.

Der britische Historiker Timothy Garton Ash hat die Jahre nach 1990 die Nachmauerzeit genannt: Deutschland war wiedervereinigt, die sowjetischen Truppen waren friedlich abgezogen, und mit dem Ende der Blockkonfrontation wuchs auch Europa wieder zusammen. Es waren gute Jahre, und für die Mehrheit der Europäer, so Timothy Garton Ash ließ sich diese Zeit als Dreißigjähriger Frieden bezeichnen. Gerade wir Deutsche haben profitiert in dieser Zeit des Rückenwinds – und das prägte unseren Blick auf die Welt.

Und dann, und dann kam der 24. Februar 2022.

Dieser Tag markiert einen Epochenbruch. Der russische Angriff auf die Ukraine hat uns alle in eine überwunden geglaubte Zeit gestürzt, eine Zeit des Krieges, der Aggression und Gewalt. Es ist ein Angriff auf alle Lehren, die wir in Deutschland und in Europa aus zwei Weltkriegen und dem Kalten Krieg gezogen hatten.

Wir müssen also neu denken und neu handeln. Heute treffen wir Entscheidungen, die wir vor diesem Krieg noch für unvorstellbar gehalten hätten: Wir liefern Waffen in ein Kriegsgebiet und wir unterstützen die Ukraine in ihrem Freiheitskampf in einem militärisch nie dagewesenen Ausmaß. Putin mag darauf gesetzt haben, dass die Verbündeten der Ukraine, dass wir irgendwann abstumpfen und wegschauen werden – aber so ist es nicht gekommen. Europa ist in dieser Auseinandersetzung zusammengewachsen.

Aber, meine Damen und Herren: Der Epochenbruch, von dem ich spreche, er geht noch viel tiefer, und seine Folgen reichen weit über den Schrecken des Krieges in der Ukraine hinaus. Denn unsere Geschlossenheit in Europa – und auch unsere Entschlossenheit zum Handeln – werden in ganz vielen Bereichen auf die Probe gestellt: beim Umgang mit China etwa; beim gemeinsamen Kampf gegen den Klimawandel; auch bei der Frage, wie innovativ unsere Volkswirtschaften im weltweiten Wettbewerb überhaupt noch sind oder in Zukunft sein werden. Wir erleben eine Zeit des Umbruchs und der Veränderungen.

Wir müssen verhindern, politisch und wirtschaftlich verwundbar zu sein, indem wir einseitige Abhängigkeiten verringern. Und zwar nicht durch Abschottung, sondern durch Diversifizierung unserer Beziehungen, auch unserer Lieferketten. Viele Unternehmen sind bereits dabei, ihre Chancen, ihre Risiken auf mehrere Länder zu verteilen. Sie suchen neue Partner und neue Bündnisse – im globalen Süden etwa, vor allem im Indopazifik. Neu denken und neu handeln heißt: Europa muss die ganze Welt in den Blick nehmen.

Das gilt auch bei der größten globalen Herausforderung, dem Kampf gegen den Klimawandel. Deutschland wird diesen Kampf nicht alleine gewinnen. Auch Europa wird diesen Kampf nicht alleine gewinnen. Aber: Wir Europäer können weltweit Vorreiter sein, wenn wir uns auf unsere Stärken besinnen. Von Europa ging die erste industrielle Revolution aus, und auch heute sind es europäische Forscher, europäische Unternehmer, die den Umbau auf erneuerbare Energien vorantreiben. Wir können also zeigen, dass beides geht: Industriejobs zu erhalten und das Klima zu retten. Ja, das wird anstrengend werden. Und ja: Es erfordert unsere ganze Kraft. Aber ich bin überzeugt, dass wir auf dem Weg in die Klimaneutralität auch viele Wachstums- und Gründergeschichten sehen werden.

Meine Damen und Herren, Sie merken es vielleicht schon: Ich habe mich ein klein wenig gewundert, als ich den Titel des diesjährigen Europaforums zum ersten Mal gehört habe. Sitzen wir Europäerinnen und Europäer denn wirklich am Katzentisch der Weltpolitik?

Ich würde sagen: Die Antwort liegt auch in unserer Hand. Unser Kontinent mag flächenmäßig klein sein, aber hier leben eine halbe Milliarde Menschen ganz unterschiedlichster Kulturen. Das macht unsere Größe aus! Die EU ist reich an Vielfalt. Wir haben den größten Binnenmarkt weltweit. Wir sind stark bei Forschung und Innovationen. Und dieses Europa ist nach wie vor für viele ein Sehnsuchtsort – weil wir für Sicherheit und Stabilität stehen. Für Menschenrechte und Demokratie.

Ich finde: Wir haben gute Gründe, selbstbewusst zu sein. Selbstbewusst, aber nicht überheblich. Problembewusst, aber nicht verzagt. Europa macht einen Unterschied – daran sollten wir denken, danach sollten wir handeln!

Ich wünsche Ihnen heute spannende europäische Debatten und ein gutes 25. WDR-Europaforum.

Vielen Dank und gute Gespräche!