Videogrußwort beim Jubiläumssymposium „70 Jahre Bundesverwaltungsgericht“

Schwerpunktthema: Rede

Leipzig, , 8. Juni 2023

Bundespräsident Steinmeier hat am 8. Juni zum Jubiläumssymposium "70 Jahre Bundesverwaltungsgericht" in Leipzig ein Videogrußwort übermittelt: "Die Rechtsweggarantie ist eine zentrale Wertentscheidung der Verfassung. Gepaart mit der richterlichen Unabhängigkeit ist sie ein Grundpfeiler des Rechtsstaates. Sie garantiert nicht nur, dass die öffentliche Hand an Recht und Gesetz gebunden ist. Sie gibt dem Einzelnen auch einen Anspruch darauf, dass unabhängige Gerichte diese Bindung an Recht und Gesetz überprüfen."


Als das Bundesverwaltungsgericht vor 70 Jahren seine Tätigkeit aufnahm, da waren Demokratie und Rechtsstaat noch sehr jung. Erst wenige Jahre zuvor war die dunkelste Epoche der deutschen Geschichte zu Ende gegangen. Eine Epoche, in der der totalitäre Unrechtsstaat und die ungezügelte Herrschaft des Schreckens Freiheit und Recht verdrängt hatten. Mit der Errichtung unabhängiger Verwaltungsgerichte in den Ländern und schließlich des Bundesverwaltungsgerichtes vollendete sich ein zentrales Versprechen des neu errichteten Rechtsstaates. In Art. 19 des Grundgesetzes heißt es ganz nüchtern: Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen. Wie viel Kraft in diesem Satz steckt, darüber nachzudenken gab schon die Eröffnung des Bundesverwaltungsgerichtes vor siebzig Jahren willkommenen Anlass.

Die Rechtsweggarantie ist eine zentrale Wertentscheidung der Verfassung. Gepaart mit der richterlichen Unabhängigkeit ist sie ein Grundpfeiler des Rechtsstaates. Sie garantiert nicht nur, dass die öffentliche Hand an Recht und Gesetz gebunden ist. Sie gibt dem Einzelnen auch einen Anspruch darauf, dass unabhängige Gerichte diese Bindung an Recht und Gesetz überprüfen. Sie ist damit Ausdruck der Gewaltenteilung und unerlässlich für die Entfaltung der Freiheit jedes Einzelnen. Das ist die Grundlage unserer liberalen Demokratie. Nur wenn die rechtsprechende Gewalt der Verwaltung Grenzen setzen kann, kann sie ihrer Aufgabe gerecht werden, den Einzelnen vor unverhältnismäßigen Eingriffen des Staates zu schützen.

Neben der Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit, meine sehr verehrten Damen und Herren, wurde noch etwas vor siebzig Jahren bei den Feierlichkeiten zur Eröffnung des Bundesverwaltungsgerichtes betont: die Bedeutung Berlins. Nach langer Diskussion und trotz teilweise lauter Kritik hatte man sich entschieden, dass das Bundesverwaltungsgericht seinen Sitz in Berlin haben sollte, in unmittelbarer Nachbarschaft zur damaligen sowjetischen Besatzungszone. Ein Zeichen sollte gesetzt werden für unabhängige Gerichte, die keiner politischen Einflussnahme unterworfen sind. Der erste Präsident des Bundesverwaltungsgerichtes Ludwig Frege formulierte es so: Berlin habe eine freiheitliche Mission […] für die freie Welt zu erfüllen.

Für Deutschland vollendete sich diese Mission mit der Wiedervereinigung. Eine Konsequenz hieraus war die Verlegung des Sitzes des Bundesverwaltungsgerichtes nach Leipzig. Auch diese Entscheidung war natürlich nicht unumstritten. Aber Leipzig war nicht nur der Standort des ehemaligen Reichsgerichtes. Es war auch einer der wichtigsten Schauplätze der Friedlichen Revolution. Erst sie ermöglichte auf dem Gebiet der ehemaligen DDR, was uns heute – mehr als dreißig Jahre später – allzu oft selbstverständlich erscheint: den freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat, in dem die öffentliche Gewalt an Recht und Gesetz gebunden ist.

70 Jahre Bundesverwaltungsgericht: Das ist auch der Moment, um sich der Weiterentwicklung des Gerichtes bewusst zu werden. Und in diesen siebzig Jahren hat sich einiges getan. Die Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichtes füllen inzwischen 175 Bände in der amtlichen Sammlung. Sichtbarer Ausdruck, in welchem Maß das Gericht das Verwaltungsrecht geformt und auch ausbuchstabiert hat. Einige dieser Entscheidungen haben Aufmerksamkeit über die Fachöffentlichkeit hinaus erlangt. Ich denke zum Beispiel an Urteile zu den Dieselfahrverboten, zu Planungsverfahren mit überregionaler Bedeutung oder zur Treuhandverwaltung von Unternehmen, die zur kritischen Infrastruktur gehören. Ja, die Entscheidungen des Gerichtes sind ein Spiegel der Gegenwart: Klimawandel, Pandemie oder der verbrecherische Angriffskrieg auf die Ukraine sind Themen, die auch das Gericht beschäftigen. Und noch einen anderen Aspekt möchte ich hervorheben: Bei seiner Gründung arbeiteten 18 Richter, aber nur eine Richterin bei dem Gericht. Heute sind es 35 Richter und 20 Richterinnen, und ich bin sicher: Der Weg wird so weitergehen.

Auch die Rolle des Bundesverwaltungsgerichtes hat sich gewandelt. Es nimmt seine Aufgabe nicht mehr nur als Bundesgericht wahr, sondern ist gleichzeitig funktioneller Teil der Unionsgerichtsbarkeit. Dies zeigt sich nicht zuletzt an der steigenden Anzahl an Vorlagen an den Gerichtshof der Europäischen Union, etwa im Asylrecht. Diese Vorlagen leisten einen bedeutenden Beitrag zur unionsweit einheitlichen Rechtspraxis. Umgekehrt wirkt das Unionsrecht weit in unser deutsches Recht hinein und damit zugleich in die Entscheidungen des Gerichtes. Etwa dann, wenn es den Individualrechtsschutz von Verbänden oder Einzelpersonen im Umweltrecht ausweitet.

Damit sind auch die Herausforderungen für das Bundesverwaltungsgericht gewachsen. Damals wie heute sollen Entscheidungen nicht nur gerecht, gut begründet, sachlich richtig sein. Sie sollen auch innerhalb eines vertretbaren Zeitraums ergehen. Die gerichtlichen Entscheidungen sollen – ganz der richterlichen Unabhängigkeit folgend – Mut zur Unbequemlichkeit haben, aber nicht polarisieren. Individuelle Rechte sollen geschützt und gleichzeitig der Handlungsspielraum der Verwaltung gewahrt werden. Mit einer weiteren Herausforderung werden Sie sich in einem Ihrer Podien befassen: Die erstinstanzliche Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichtes. Sie soll zur Beschleunigung wichtiger Infrastrukturvorhaben beitragen, ohne die rechtsstaatliche Kontrolle übermäßig zu verkürzen. Und schließlich ist die Digitalisierung der Justiz kein abstraktes Projekt in weiter Ferne mehr. Wurden bei der Eröffnung des Gerichtes noch mediale Präsenz und technische Rationalisierungsprozesse beklagt , so lässt sich heute feststellen: Elektronischer Rechtsverkehr, elektronische Gerichtsakte und Videoverhandlung sind nicht nur Teil der Prozessordnungen. Sie sind eine Herausforderung, der sich das Bundesverwaltungsgericht mit Erfolg angenommen hat. Dabei sollte nicht in Vergessenheit geraten, dass es sich bei technischen Mitteln eben um solche handelt: Hilfsmittel, die den Arbeitsablauf vereinfachen sollen. Und bei allen Erwartungen und Befürchtungen in Bezug auf künstliche Intelligenz: Die Rechtsprechung bleibt die oberste Aufgabe von Ihnen, den Richterinnen und Richtern – so wie es das Grundgesetz vorsieht.

Sehr verehrte Damen und Herren, sehr geehrte Richterinnen und Richter, ich weiß, dass Sie diese Aufgabe auch in Zukunft mit Leidenschaft und Augenmaß wahrnehmen werden: gerechte Entscheidungen zu treffen, die den Geist des abstrakten Gesetzes und die Gerechtigkeit im Einzelfall miteinander vereinen – mit, und damit bin ich wieder bei Ludwig Frege, Weisheit, Besonnenheit und Tapferkeit. Ich wünsche Ihnen dabei weiterhin viel Erfolg und für Ihr Jubiläumssymposium anregende Diskussionen.