Verleihung des Deutschen Umweltpreises 2023

Schwerpunktthema: Rede

Lübeck, , 29. Oktober 2023

Bundespräsident Steinmeier hat am 29. Oktober in Lübeck die Unternehmerin Dagmar Fritz-Kramer und die Wissenschaftlerin Friederike Otto mit dem Deutschen Umweltpreis ausgezeichnet: "Der Kampf gegen den Klimawandel darf nicht von seinem Platz ganz oben auf der politischen Prioritätenliste verdrängt werden. Die nächsten Jahre werden eine enorme Kraftanstrengung bedeuten. Aber die gute Nachricht lautet: Wir haben es selber in der Hand, wir alle, jede und jeder Einzelne in unserem Alltag."

Bundespräsident Frank-Walter auf der Bühne mit den Ausgezeichneten bei der Verleihung des Deutschen Umweltpreises 2023

Heute wird es spannend. Und ungewöhnlich. Mit dem Deutschen Umweltpreis 2023 werden heute zwei außergewöhnliche Frauen ausgezeichnet, die auf den ersten Blick wenig zu verbinden scheint. Von der einen kann man sagen: Sie ist auf dem Holzweg – und genau darum erstaunlicherweise ziemlich erfolgreich. Und von der anderen heißt es, manchmal etwas geheimnisvoll, sie sei eine Art Profilerin, nach dem gewöhnlichen Verständnis also jemand, der bestimmte Taten bestimmten Tätern zuordnen kann.

Es handelt sich einerseits um eine Unternehmerin aus dem Allgäu, Frau Dagmar Fritz-Kramer, und andererseits um eine Wissenschaftlerin, die in London lebt und arbeitet, Frau Prof. Dr. Friederike Otto.

Beiden gemeinsam ist eine besondere Art von Eigensinn. Es ist nicht jener schlechte Eigensinn, der sich durch Unbelehrbarkeit auszeichnet, der einen in seiner eigenen Blase denken und leben lässt und in dem man sich um niemand anderen und erst recht nicht um Wissenschaft und Wirklichkeit kümmert.

Nein, es ist jener gute Eigensinn, mit dem man einer ursprünglichen Intuition folgt, sie beharrlich ausprobiert und austestet, sie mit den Wirklichkeiten des Lebens konfrontiert; ein Eigensinn, der im besten Sinn der Wissenschaft durch Ausprobieren und Erfahrung immer noch klüger macht, mit dem man seine Erkenntnisse der Allgemeinheit anbietet und andere einlädt, auf einem als richtig erkannten Weg mitzugehen. Kurz: ein Eigensinn, der sich dem Gemeinsinn nicht verschließt, sondern ihn stärkt, indem er ihm neue Wege und Richtungen weist.

Ich freue mich wirklich, zwei Frauen auszeichnen zu dürfen, die sich in Wort und Tat, mit Engagement und Überzeugung, jede auf ihre ganz besondere, unverwechselbare Weise, mit den Folgen des Klimawandels beschäftigen und diese Folgen, jede an ihrem Ort und jede mit aller Kraft, entschieden bekämpfen.

Beide erhalten den Deutschen Umweltpreis, das kann ich voller Überzeugung sagen, vollkommen zu Recht: diesen inzwischen hoch angesehenen und – das gehört auch dazu – hoch dotierten Preis.

Jede auf ihre Weise, habe ich gesagt. Beginnen wir mit der Unternehmerin, Dagmar Fritz-Kramer. Es passt auf besondere Weise, dass Sie gerade hier, in Lübeck, diesen Preis bekommen. Lübeck ist ja weltberühmt nicht nur durch Hanse und Handel, sondern auch durch die Buddenbrooks von Thomas Mann – wenn man so will: den Klassiker unter den Romanen über Familienunternehmen. Vergleichbar ist allerdings nur, dass Sie, liebe Frau Fritz-Kramer, auch in ein Familienunternehmen hineingeboren wurden. Alles andere ist anders. Bei den Buddenbrooks war es in der vierten Generation abwärts gegangen, bei Ihnen geht es in der vierten Generation, wenn ich das so sagen darf, steil aufwärts. Es geht aufwärts, weil gerade Sie so innovativ und so engagiert sind, und auch so sehr um das Wohlergehen Ihres Betriebes und aller seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bemüht. Auch dafür haben Sie schon Auszeichnungen erhalten.

Am wichtigsten ist aber, was und wie Sie produzieren. Bei Ihnen dreht sich alles um Holz, diesen wunderbaren – wie ich als Sohn eines Tischlers sagen darf, der mit dem Geruch von Holzleim in der Nase großgeworden ist –, diesen wunderbaren nachwachsenden Rohstoff.

Jeder kennt die Redewendung für etwas, von dem es anscheinend unendlich viel gibt: Das gibt es wie Sand am Meer! Nun, viele werden schon wissen: Wenn es inzwischen etwas gibt, das es eben gerade nicht mehr gibt wie Sand am Meer, dann ist es ausgerechnet: Sand. Durch den riesigen Verbrauch für Beton und andere Baumaterialien wird, auch wenn es sich für den einen oder anderen seltsam und fast wie erfunden anhört, der Sand knapp. Wir haben, in einem sehr doppelbödigen Sinn, unsere Behausungen und Städte auf Sand gebaut und können das nicht endlos fortsetzen. Nicht nur aus diesem Grund hat das Bauen mit Holz eine ganz neue Aktualität, ja Dringlichkeit bekommen.

Sie, liebe Frau Fritz-Kramer, setzen mit Ihrem Unternehmen diese Erkenntnis schon längst in die Praxis um. Sie und Ihre Firma zeigen mit ihren Ideen, wie viel mehr man mit dem Baustoff Holz anfangen kann, als viele lange Zeit geglaubt haben. Sie haben nicht nur vorgefertigte Häuser und Bausysteme entwickelt, die gleichzeitig ökologisch nachhaltig und ästhetisch attraktiv sind, Sie bieten auch als eines der wenigen Unternehmen in der Holzbaubranche ein Recycling an, das die komplette Zurücknahme der verwendeten Materialien umfasst: Kreislaufwirtschaft pur, sozusagen.

Und Sie haben, wie ich gelesen habe, ein äußerst praktisches System der Gebäudesanierung entwickelt, das nicht nur ökologisch vorbildlich ist, sondern so intelligent entwickelt wurde, dass die Bewohner während der Sanierung ihr Haus fast ohne Einschränkung nutzen können. Nicht zuletzt haben Sie erkannt und unter Beweis gestellt, wie praktisch, kostengünstig und vor allem ökologisch nachhaltig sich gerade die modulare Holzbauweise eignet für Verdichtung und Aufstockung vorhandener Bausubstanz, ein immer wichtiger werdendes Desiderat für Bestandsbauten und Baulücken sowohl im urbanen wie auch immer mehr im dörflichen Raum.

Ich selber kann übrigens aus eigener Anschauung nur positive Erfahrungen mit Holzbau berichten: Ein temporärer Bürobau, den wir neben dem Bundespräsidialamt errichtet haben, ist in kurzer Bauzeit errichtet worden, hat ein angenehmes Raumklima und ist bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ausgesprochen beliebt. Und ein Ausweichquartier, das der Bundespräsident und seine Mitarbeiter während der demnächst notwendigen Sanierung von Schloss Bellevue und des Bundespräsidialamtes übergangsweise als erste Nutzer beziehen werden, wird ebenfalls in Holzmodulbauweise errichtet.

Sie sehen: Inzwischen profitiert auch der Bundespräsident zumindest indirekt von der Pionierarbeit, die zu großem Teil von Frau Fritz-Kramer geleistet wurde. Umso lieber bin ich heute hier.

Eine entschiedene, einfallsreiche und vor allem auch öffentlichkeitswirksame Pionierin ist die andere Preisträgerin des Deutschen Umweltpreises 2023, Frau Prof. Dr. Friederike Otto.

Wenn ich sage, dass Sie vor allem eine Wissenschaftsdisziplin entscheidend weiterentwickelt haben, die man "Attributionsforschung" nennt, oder Zuordnungswissenschaft, dann kann man wohl nicht zwangsläufig mit besonders angespannter Aufmerksamkeit rechnen.

Wenn ich aber sage, dass es in Ihrer Arbeit ungefähr so zugeht wie in den beliebten True-crime-Serien, dann wird das vielleicht anders sein. Diese gehören, wenn man die Fülle des Angebots betrachtet, offenbar zu den sehr beliebten Sendungen. Es geht dort, Sie wissen es, um Verbrechen, die tatsächlich geschehen sind, die aber die Ermittler, darunter oft sogenannte Profiler, vor besonders schwierige Rätsel stellen. Es ist sehr kompliziert, den Tathergang aufzuklären, und erst recht, den oder die wirklichen Täter zu finden und zu überführen. Kriminalistik ist, in diesem Sinne, eine spezielle Form von Zuordnungswissenschaft.

Auch Sie, Friederike Otto, sind Tätern und Taten auf der Spur. Sie haben ein Verfahren entwickelt oder mitentwickelt, um herauszufinden, ob und wie weit es dem Klimawandel geschuldet ist, wenn sogenannte extreme Wetterereignisse wie ungewöhnlich starke Stürme, extreme Regenfälle, Hitzewellen, Kälteperioden oder Dürren auftreten. Sie können also, quasi als Klima-Profilerin, bestimmte Wetterverhältnisse den mutmaßlichen Folgen des Klimawandels zuordnen – oder im Einzelfall herausfinden, dass eine solche Zuordnung nicht gegeben ist.

Durch immer größere Netzwerke, durch immer mehr gesammelte Daten, immer genauere Klimamodelle und immer leistungsfähigere Möglichkeiten der Zuordnung ist es Friederike Otto und ihrem Team im Projekt "World Weather Attribution" möglich, immer schneller, manchmal noch während ein Extremwetter andauert, Aussagen darüber zu treffen, inwieweit der Klimawandel hier Einfluss hatte. Sie, Frau Otto, helfen, den häufig in die Welt gesetzten Fake News über aktuelle Wetterphänomene überprüfbare wissenschaftliche Fakten entgegenzusetzen. Je dominanter soziale Medien in unserem Alltag und in unserer Alltagskommunikation werden, je mehr sich dort regelmäßig unhaltbarer Unfug bis hin zu blanken Lügen verbreitet, umso wichtiger wird wahrnehmbare wissenschaftliche Information als Korrektiv.

Friederike Ottos Arbeit wirkt aber auch prospektiv. Auf Grundlage der Zuordnungen und Erfahrungen aus der Vergangenheit werden wesentliche Voraussagen darüber möglich, ob und in welchem Umfang der Klimawandel die Wahrscheinlichkeit bestimmter extremer Wetterereignisse an bestimmten Orten in der Zukunft verändert und verstärkt. Solche Voraussagen ermöglichen also Präventions- und Vorbeugungsmaßnahmen, die auch Menschenleben retten können. Hierzu braucht es umfangreichste Computersimulationen von Klimamodellen, es bedarf großer Datenmengen über das vorindustrielle und das heutige Klima. Man braucht also vor allem wissenschaftlich geprüfte und belastbare Klimamodelle und hohe Rechenkapazität.

Voraussagen sind das eine. Aber Friederike Otto ist tatsächlich auch Tätern auf der Spur. Sie macht mit ihren Veröffentlichungen auf Verursacher aufmerksam. Und sie nennt auch politische und ökonomische Zusammenhänge beim Namen, die den Klimawandel oder seine Folgen verstärken und besonders schwerwiegend machen: von Krieg oder Bürgerkrieg getroffene Länder, arme, vernachlässigte Regionen oder durch Korruption und Misswirtschaft betroffene Verhältnisse und Gesellschaften.

Wenn sie ihrem erfolgreichen Buch den Titel Wütendes Wetter gegeben hat, dann weiß sie natürlich auch selber, dass Wetter nicht wütend sein kann – sie gibt damit einem Zorn darüber Ausdruck, dass trotz so vieler gesicherter Erkenntnisse über Ursachen und Folgen des Klimawandels noch immer zu wenig Konsequenzen gezogen werden.

Zwei sehr unterschiedliche Frauen also, die heute den Deutschen Umweltpreis erhalten. Aber zwei Frauen, die eines eint: die Leidenschaft im Kampf gegen den Klimawandel und dessen Folgen.

Ich gratuliere Ihnen beiden aus ganzem Herzen zu diesem Preis. Diese Gratulation ist aber auch eine erneute Mahnung und Aufforderung an uns alle. Wir müssen noch vieles ändern, und wir müssen uns, unsere Gewohnheiten und unsere Lebensweise noch in vielem ändern, um der großen Herausforderung des Klimawandels gerecht zu werden. Und auch wenn neue Bedrohungen im Osten Europas oder im Nahen Osten hinzukommen: Der Kampf gegen den Klimawandel darf nicht von seinem Platz ganz oben auf der politischen Prioritätenliste verdrängt werden. Die nächsten Jahre werden eine enorme Kraftanstrengung bedeuten. Aber die gute Nachricht lautet: Wir haben es selber in der Hand, wir alle, jede und jeder Einzelne in unserem Alltag.

Und bei der 28. Weltklimaschutzkonferenz in Dubai Ende November stehen die Länder der Welt wiederum in der Pflicht, mit ambitionierten Maßnahmen alles Menschenmögliche zu unternehmen, um der menschliche Zivilisation auf diesem Planeten, inklusive Flora und Fauna, im besten Sinne des Wortes Luft zum Atmen zu verschaffen.