Feierstunde „100 Jahre Rudolf Augstein“

Schwerpunktthema: Rede

Hamburg, , 3. November 2023

Bundespräsident Steinmeier hat am 3. November bei einer Feierstunde zum hundertsten Geburtstag des Spiegel-Herausgebers Rudolf Augstein in Hamburg die Festrede gehalten. Er bezeichnete guten, seriösen, gründlichen Journalismus als unverzichtbar für die Demokratie und forderte das journalistische Publikum auf: "Üben Sie Ihre Wächterfunktion in unserer Demokratie kritisch und unbestechlich aus – aber seien Sie sich Ihrer Verantwortung für die Demokratie bewusst!"

Der Bundespräsident hält bei der Feierstunde "100 Jahre Rudolf Augstein" eine Rede

Das Brot dürfte höchstens 50 Milliarden kosten, schrieb die Vossische Zeitung am 5. November vor 100 Jahren. Am Tag, an dem Rudolf Augstein geboren wurde, erreichte die Hyperinflation in Deutschland Rekordwerte. Täglich las man in den Zeitungen über die Vorbereitungen für einen Umsturzversuch. Antidemokratische Bestrebungen mit politischen Heilsversprechen jeder Art hatten Konjunktur.

Die Zeiten waren aufgeheizt, und die Zeitungen waren schnell und scharf: Schon in den Abendausgaben konnte man lesen, wen der Reichspräsident am Mittag getroffen hatte.

In Hannover, Augsteins Geburtsort, kritisierte der örtliche "Kurier" am gleichen Tag, manche Blätter würden bekanntlich nur dem Zweck des Straßenverkaufs dienen und deshalb ihre Wirkung durch möglichst dicke und sensationelle Überschriften zu erzielen suchen. Es lasse sich, so heißt es weiter, klar erkennen, dass manche Meldungen sehr stark aufgebauscht seien.

Wir sehen also, schon damals, in der ersten deutschen Demokratie, waren Skandalisierung, Desinformation, Destabilisierung ein Thema. Meinungs- und Pressefreiheit galt auch damals als hohes Gut, festgeschrieben in der Weimarer Verfassung. Die Presselandschaft war zwar stark parteipolitisch geprägt, aber es gab doch ein gemeinsames Verständnis davon, dass die Medien in der Demokratie eine zentrale Rolle spielen. Dass sie die Lieferanten von Informationen zu sein haben, die Bürgerinnen und Bürgern politische Orientierung ermöglichen. Und dass Politik und Medien in einem Spannungsfeld von Kritik und Kontrolle stehen, das unbequem sein mag, aber in dieser Staatsform – in der Demokratie - nicht nur erwünscht, sondern notwendig, ja unverzichtbar ist.

Als Rudolf Augstein knapp 17 Jahre nach diesen Schlagzeilen zum ersten Mal Interesse am Journalismus zeigte, da war die Welt eine andere geworden. Das nationalsozialistische Deutschland hatte dieser Welt den Krieg erklärt. Die Kräfte, die bereits in Augsteins Geburtsjahr die Demokratie angegriffen hatten, hatten gewonnen. Die Presse war gleichgeschaltet, die Massenmedien waren zum Propagandainstrument geworden. Die Wahrheit konnte man aus den Zeitungen nicht erfahren. Sie war lebensgefährlich geworden. Die Sprache der Zeitungen troff vor Pathos, Aggression und völkischem Wahn.

Augstein, ein an Kultur und Politik interessierter Schüler, ein Junge, der im Nationalsozialismus aufwuchs und durchaus Kind seiner Zeit war, fand Gefallen am Schreiben. Er schrieb Leserbriefe und Theaterkritiken und begann ein Zeitungsvolontariat. Was aus seiner Zeit als Soldat an Gedanken und Texten von ihm erhalten ist, das haben Sie alle in den vergangenen Jahren gründlich erforscht und veröffentlicht, und es zeigt Rudolf Augstein als jungen Mann mit einer anfangs durchaus ambivalenten Haltung zur Diktatur – wie es auch im Nachkriegsdeutschland so häufig vorkam.

Er kam zurück in ein Land, das in Trümmern lag und keine Medienlandschaft mehr hatte. Für die Alliierten – sie waren es, die uns befreit haben – waren Presse und Rundfunk die wichtigsten Mittel für einen Neuanfang, für die "Reeducation" der Deutschen. Sie begannen schon im Herbst 1945, Lizenzen für Medien zu vergeben.

Ein gutes Jahr später kam der "Spiegel". Das klingt so selbstverständlich. Als sei es völlig klar, dass Nachrichtenmagazine nun mal zu einer liberalen Demokratie gehören. Man möchte sich gerne vorstellen, wie damals, kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, eine Gruppe junger Journalisten zusammensaß und einen Aufbruch wagte. Wie sie sich die Köpfe heißredeten über einen ganz neuen Journalismus nach den dunklen Jahren der NS-Diktatur. Über Aufklärung und Aufarbeitung, über Pressefreiheit und die vierte Gewalt, über knallharte Recherche und glasklare Kommentierungen.

Aber Sie alle hier wissen: Es war anders. Es gab solche Runden, so wie wir es uns heute vorstellen, damals nicht. Der Spiegel war, so hat es Klaus Harpprecht einmal beschrieben, das Kind der guten Laune eines britischen Presseoffiziers. Dieser war es, der in dem gerade gegründeten Land Niedersachsen ein Nachrichtenmagazin entwickelte, nach angelsächsischem Vorbild. Und dafür suchte er Mitstreiter. Und er kannte den jungen Kriegsheimkehrer Augstein, der in diesen Wochen seinen journalistischen Blick auf das nationalsozialistische Deutschland richtete, indem er über den Kriegsverbrecherprozess um das Konzentrationslager Bergen-Belsen schrieb.

Im November 1946 erschien die erste Ausgabe der "Woche". Daraus wurde sechs Wochen und einige Verwicklungen später der "Spiegel". Herausgeber: Rudolf Augstein. Er selbst hat diese turbulente Zeit einmal mit dem wunderbar lakonischen Satz beschrieben: So wurden wir angefangen.

In diesen Tagen also begann Rudolf Augstein, seine Antwort auf die Frage zu geben, wie sich die vierte Gewalt in der jungen Bundesrepublik definiert.

Diese Republik lag, wenn man so will, in dieser Zeit da wie ein weißes Blatt Papier – Bonn war klein, die Drähte waren kurz, die Konkurrenz überschaubar, die Privatsphäre eine Privatsphäre. Das Grundgesetz garantierte die Pressefreiheit, aber welche Kraft die Medien haben würden, das alles war noch zu verhandeln. Derjenige, der gegen den Stachel löckte, der die Kräfteverhältnisse nicht nur vermaß, sondern veränderte, das war Rudolf Augstein. Einen Luxus leistete er sich dabei nie: keine Meinung zu haben.

Er wurde damit nicht nur Geburtshelfer für eine freie Presse, sondern auch Akteur im Machtgefüge der Republik. In der Spiegel-Affäre zeigte sich, was er unter vierter Gewalt verstand. Bis heute sehen viele, auch der Ihnen allen gut bekannte Peter Merseburger, darin die entscheidende politische Leistung Augsteins: Dass die Pressefreiheit siegte und Franz-Josef Strauß als Verteidigungsminister zurücktreten musste, das veränderte die Bundesrepublik dauerhaft. Ohne Augstein und den Spiegel hätte es die Demokratie in Deutschland nach dem Krieg schwerer gehabt, so hat es der frühere Zeit-Herausgeber Michael Naumann zum Tod des Spiegel-Herausgebers vor 21 Jahren gesagt.

Ich denke, Rudolf Augstein mit seinem besonderen Sinn für Ironie hätte sich auch über die Umkehrung dieses Satzes gefreut: Mit ihm und seinem Nachrichtenmagazin hatte es die Demokratie auch nicht immer leicht. Aber das, meine Damen und Herren, das war gut so.

Ich möchte den Blick auf ein Verdienst Ihres Herausgebers lenken, welches man, wenn man es ernst meint mit der Demokratie, gar nicht hoch genug schätzen kann.

Augstein hat immer dafür gesorgt, dass Sie, die Journalistinnen und Journalisten, die Dokumentarinnen und Dokumentare die denkbar besten Bedingungen für Ihre Aufgabe hatten. Denn er hat eine Sache sehr, sehr genau verstanden: Für jedes Medium, das dauerhaft erfolgreich sein will, ist die Glaubwürdigkeit die Lebensversicherung. Nur wer glaubwürdig ist, ist auch relevant, dessen Stimme wird gehört und ernst genommen. Nur wer relevant ist, der kann erfolgreich investigativ arbeiten, der hat die Sicherheit und die Mittel, sich mit den Mächtigen anzulegen.

Und dafür braucht es gute Journalistinnen und Journalisten, die jeden Tag ihre Arbeit machen. Es ist keine KI und kein Algorithmus – es sind Journalisten, die Tag und Nacht recherchieren, schreiben, senden, aufbereiten. Sie sind diejenigen, die sich oft wenig glamourös durch komplizierte Sachverhalte wühlen und den Fehler im System suchen. Sie sind diejenigen, die die politischen Debatten nachzeichnen und analysieren und Zusammenhänge erklären. Sie sind diejenigen, die jetzt in Saporischja und Sderot sitzen.

Dabei ist das, was Rudolf Augstein getan hat und was auch Sie, meine Damen und Herren, tun, mehr als ein Beruf – Journalismus ist auch eine demokratische Aufgabe. Diese demokratische Aufgabe besteht darin, Informationen, Fakten, Ereignisse und Aussagen zu sammeln, zu prüfen, zu gewichten, einzuordnen und zu bewerten – und das möglichst genau in dieser Reihenfolge.

Sie alle stehen heute vor enormen Herausforderungen und unter riesigem Druck, das ist mir sehr bewusst. Elektronische Medien und erst recht die sozialen Netzwerke haben nicht nur zu einer Beschleunigung des Nachrichtengeschäfts geführt, die Rudolf Augstein und seine Generation von Journalisten wohl im Bereich von Science Fiction verortet hätten. Sie haben auch die Grundlagen, das Geschäftsmodell des Journalismus verändert. Heute ermöglicht die Technik es, eine beliebige Menge an Nachrichten einfach und in Echtzeit zu verbreiten. Wir sind nahezu live dabei, wenn sich in entfernten Weltgegenden Naturkatastrophen ereignen oder wenn Terroristen brutale Anschläge verüben. Aber der technologische Wandel reicht noch viel weiter. Jede und jeder ist heute in der Lage, Nachrichten zu empfangen – und selbst zum Sender zu werden.

Welche Nachrichten verbreitet werden, ist heute oft genug nicht eine Frage des Inhalts, sondern das entscheidet sich über die Reichweite des Absenders und nicht zuletzt über Algorithmen. Einerseits eröffnet uns das Internet immer mehr Möglichkeiten, das enorme Potenzial in der Demokratisierung von Wissen zu nutzen. Andererseits ist das Maß an Aufmerksamkeit für ein Ereignis heute mehr denn je direkt von der Monetarisierung einer Nachricht abhängig. Etwas zugespitzt: Nicht mehr die Frage, welche Bedeutung eine Nachricht für die Welt hat, ist entscheidend für ihre Verbreitung, sondern ob die Welt sie klickt.

Und damit steht auch die Orientierungsfunktion von Medien in der Demokratie stärker in Frage. Der technologische Wandel hat also weitreichende – und meines Erachtens immer noch unterschätzte – Folgen für unsere Demokratien. Wir erleben nicht weniger als einen neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit, wie Jürgen Habermas in Wiederaufnahme seiner früheren Diagnose befunden hat.

Die Folgen dieses Strukturwandels sind so groß wie Habermas‘ Ernüchterung. Denn dieser Wandel führt eben nicht zur Verwirklichung des Traumes einer deliberativen Demokratie, wie zu Beginn des Internetzeitalters erhofft. Klassische Medien geraten immer mehr unter Druck, weil ihre Geschäftsgrundlage ins Wanken gerät; weil die Grenze zwischen journalistischen und den sogenannten sozialen Medien zunehmend aufweicht; weil auch die Trennlinie zwischen Fakten und Vermutungen schwindet; weil gleichzeitig unsere Öffentlichkeit in immer mehr Teilöffentlichkeiten zerfällt; weil auch innerhalb der Teilöffentlichkeiten Lautstärke immer mehr über Reichweite entscheidet; weil die Grenze des Sagbaren sukzessiv in Richtung des Unsäglichen verschoben wird.

Dazu leben wir in Zeiten, in denen sich die Ereignisse überschlagen und die Krisen immer rascher aufeinander folgen. Die Pandemie, der Krieg in der Ukraine und jetzt der im Nahen Osten – vielen Zuschauerinnen, Lesern, Hörern gelingt es in den sich überstürzenden Nachrichtenlagen kaum noch, den Überblick und erst recht nicht die Nerven zu behalten. Die Verarbeitungskapazität von Menschen für "Bad News" ist bei vielen offenbar an die Grenze geraten. Es gibt so etwas wie eine "News-Erschöpfung". In einer Art Selbstschutz entscheiden sich manche dann, ganz abzuschalten, lieber gar keine Nachrichten mehr zur Kenntnis zu nehmen. Von denen treffe ich viele. Andere wieder ziehen sich zurück in eine Parallelwelt, in der Wahnsinn, Verschwörung und erfundene Wahrheit regieren.

Aber gerade, weil das so ist, gerade deshalb brauchen wir Journalistinnen und Journalisten, die sich dem Berufsethos verpflichtet fühlen, wie es die Aufklärung geprägt hat. Die dafür brennen, der Wahrheit auf der Spur zu bleiben, die nicht bereit sind, sie für die spektakuläre Überschrift zu begradigen, die die breite Öffentlichkeit über das informieren, was ist und was Relevanz hat. Nur so bleibt Demokratie überhaupt möglich: Wenn Sie, die Medien, öffentliche Räume herstellen, in denen eine Gesellschaft sich über sich selbst verständigen kann; wenn Sie die Informationen liefern und Zusammenhänge erklären, damit sich die Bürgerinnen und Bürger orientieren können, sich ein Urteil bilden können, damit sie informierte Debatten führen und, ganz wichtig, auf Vernunft gestützte demokratische Entscheidungen treffen können. Journalismus – guter, seriöser, gründlicher Journalismus ist und bleibt unverzichtbar für die Demokratie!

Wie sehr Journalismus in den letzten Jahren in Misskredit geraten ist, welchem Misstrauen, ja welchen Anfeindungen bis hin zu tätlichen Angriffen Sie heute oft ausgesetzt sind, das sehe ich mit allergrößter Sorge. Und mich sorgt es auch, dass es für viele von Ihnen auch in unserem Land gefährlicher wird, zu berichten – ich denke da an die Proteste und Demonstrationen in der Corona-Zeit; dass die Zahl der Angriffe auf Journalisten auch in unserem Land stark angestiegen ist.

Ich will es ganz klar sagen: Angriffe auf Journalistinnen und Journalisten, auf Kameraleute und Fotografen sind keine Meinungsäußerung, sondern Straftaten. Sie richten sich gegen Menschen, aber sie richten sich auch gegen die liberale Demokratie. Es ist Aufgabe unseres Rechtsstaats, Medienschaffende zu schützen und dafür zu sorgen, dass sie ihrer Arbeit ungehindert nachgehen können. Angriffe auf Journalisten gefährden die Pressefreiheit in unserem Land. Mehr noch: Sie höhlen unsere Demokratie aus. Das dürfen wir nicht zulassen!

Mit gutem Grund garantiert unser Grundgesetz Presse- und Meinungsfreiheit. Mit gutem Grund schützt unsere Rechtsordnung Journalistinnen und Journalisten ganz besonders. Rudolf Augstein hat als junger Mensch erlebt, welche verheerenden Folgen es hat, wenn Verleger sich in den Dienst einer brutalen Diktatur stellen. Ja, Presse- und Meinungsfreiheit sind hohe Güter, und sie müssen geschützt und, wenn nötig, verteidigt werden – auch das ist eine Verantwortung der Politik.

Aber in einer Zeit, in der unsere liberalen Demokratien stärker angefochten sind; in der auch in unserem Land Kräfte erstarken, die Grundregeln der Demokratie in Frage stellen oder Demokratie gar verachten, in einer solchen Zeit kommt auch den Medien eine besonders wichtige Rolle – will sagen: Verantwortung – zu. Das mag vielen hier als Selbstverständlichkeit erscheinen – an sie zu erinnern, dazu besteht meines Erachtens Anlass.

Diese Verantwortung gilt auch und gerade in der Berichterstattung über kriegerische Konflikte. Ja, keiner von uns kann andere, einseitige Quellen daran hindern, auf sozialen Netzwerken falsche Nachrichten zu veröffentlichen und damit aktiv Desinformation zu betreiben. Aber es gehört deshalb umso mehr zur zentralen Verantwortung von Journalisten – und auch von Politikern -, keine Nachricht zu verbreiten, solange die Quellenlage nicht absolut klar, der Wahrheitsgehalt nicht absolut sicher ist. Und dass das im Netz kursierende Video die Beweislage nicht zwingend erhärtet, lernen wir in Zeiten des Krieges jeden Tag neu. Don’t run with the story until there’s hard evidence, hat Ian Bremmer gerade vor zwei Wochen geschrieben. Don’t follow sources that are only promoting with one side of a conflict. Ich stimme ihm zu.

Wie schon gesagt, mir ist bewusst, unter welchem Druck Sie stehen und arbeiten. Aber der Kampf um Aufmerksamkeit rund um die Uhr führt oft zu gnadenloser Schärfe, zu schnellen Urteilen über diejenigen, die in Verantwortung sind. Hinzu kommen die Auswüchse in den sozialen Medien – Hass, Hetze, Bedrohung bis hin zu Aufrufen zu Gewalt gegen Abgeordnete, sogar gegen ehrenamtlich tätige Bürgermeisterinnen und Bürgermeister. Immer mehr Menschen wollen sich deshalb den Gang in den Gemeinderat nicht mehr antun, sehen nicht mehr ein, Verantwortung für das Gemeinwesen zu übernehmen. Ich sehe das mit ernster Sorge. Denn dann trocknet die Demokratie von unten aus. Und das ist eine Gefahr für Demokratie insgesamt!

Sie ist es umso mehr, als die Tonlage in der politischen Kommunikation in der Republik sich auf bedenkliche Weise verändert hat. Der Raum für die mit Vernunft geführte, von gegenseitigem Respekt getragene Debatte ist knapp geworden. Wo Differenzierung notwendig wäre, regiert häufig das Schwarz-Weiß. Je dominanter die sozialen Medien auch in der politischen Kommunikation werden, desto mehr regiert Maßlosigkeit in der Auseinandersetzung. Da wird das Unwichtige zum scheinbar Wichtigen, jede Fehlleistung zum Skandal. In den sozialen Medien steht der politische Akteur fürs Ganze, dort gibt es kein links und rechts und erst recht keine Mitte, der Angriff zielt auf die Politik. Trump hat gezeigt, wie’s geht, aber auch, was die Folgen sind.

Wer nur nach der lautesten Formulierung, dem schrillsten Titel und der höchsten Klickzahl sucht, wer populistische Klischees über unsere Demokratie und deren Repräsentanten bedient, der trägt dazu bei, unser Land weiter auseinanderzutreiben und die politischen Kräfte zu stärken, deren Programm genau das ist.

Ich glaube wirklich, dass die Lage ernst ist. Diese Analyse stammt nicht von mir, sondern von einem Ihrer Redaktionsmitglieder, und ich zitiere weiter: Die Balance aus Kritik, auch in scharfer Form, und dem gleichermaßen gebotenen Respekt, mit der all jenen zu begegnen wäre, die politisch Verantwortung tragen, müsste sich also auf neue Weise ausdrücken, schrieb Susanne Beyer kürzlich.

Ich lese das als einen Aufruf an ihre eigene Profession: Machen wir uns nicht gemein mit den Agenten der Aufregungsbewirtschaftung, mit den Taktgebern des Empörungsrhythmus. Ich will das gerne verstärken und sagen: Halten Sie Distanz! Bleiben Sie unterscheidbar von den sozialen Medien! Bleiben Sie unterscheidbar auch in Sprache und Tonlage. Erliegen Sie nicht der Versuchung, sich die Kultur der Dauerempörung zu eigen zu machen. Betrachten Sie die Aufgabe zu differenzieren nicht als Nachteil, sondern als das Fundament von Journalismus, der sich der Demokratie verpflichtet fühlt. Lassen Sie nicht zu, dass in unserer Demokratie die Lauten über die Nachdenklichen siegen! Ich bin überzeugt, das ist nicht nur für unsere Demokratie entscheidend – sondern auch für das Überleben genau jenes Journalismus, den wir so dringend brauchen.

Kurzum, und damit sind wir wieder bei Rudolf Augstein: Sagen Sie, was ist. Üben Sie Ihre Wächterfunktion in unserer Demokratie kritisch und unbestechlich aus, aber seien Sie sich Ihrer Verantwortung für die Demokratie bewusst.

Herzlichen Dank!