Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 14. November 2023

Bundespräsident Steinmeier hat am 14. November bei der Auszeichnung der Erstpreisträgerinnen und -träger des 28. Geschichtswettbewerbs 2022/2023 in Schloss Bellevue eine Rede gehalten: "Wer sich wie Ihr mit dem Alltag vergangener Zeiten beschäftigt, und wer wie Ihr in das Forschungsfeld der Sozialgeschichte eintaucht, der kann erfahren, was uns und unser Land ausmacht, was uns prägt."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier steht an einem Pult und hält eine Rede bei der Auszeichnung der Erstpreisträgerinnen und -träger des Geschichtswettbewerbs des Bundespräsidenten 2022/2023

Finde Deine Schätze: Einige im Saal wissen, was ich meine. Das rappt Ihr nämlich, liebe Schülerinnen und Schüler aus Hannover Mühlenberg, in Eurem Beitrag für den Geschichtswettbewerb. Und ich finde: Schätze gefunden, das haben alle 5.605 Teilnehmerinnen und Teilnehmer an diesem Geschichtswettbewerb!

Da wir uns häufiger treffen zu diesem Anlass, in schöner Regelmäßigkeit, finde ich es immer wieder beeindruckend, wie vielfältig die Schätze sind, die Ihr alle in diesem Geschichtswettbewerb findet, ausgrabt – in diesem Jahr zum Thema Wohnen. Und die Geschichte, die in den Wettbewerbsbeiträgen vorkommt, reicht von der Steinzeit bis in die Tage heute. Es ist ebenso beeindruckend, wie vielfältig die Ergebnisse sind: Vom klassischen Aufsatz über Gedichte und Lieder bis hin zum 3D-Modell ist wirklich alles dabei.

Heute sind nur einige von all denen hier, die teilgenommen haben – natürlich, der Saal hätte nicht genug Platz – vor allem Ihr, die Ihr einen ersten Platz im Bundeswettbewerb erreicht habt, und denen ich gleich persönlich dafür die Urkunden überreichen darf. Euch allen vorab schon meinen herzlichen Glückwunsch zu Eurer besonderen Leistung! Aber wenn ich Euch hier heute ehre, dann gilt das natürlich auch stellvertretend, denn ich möchte allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern gratulieren, die im Rahmen dieses Geschichtswettbewerbs recherchiert und geforscht haben.

Wenn ein Haus reden könnte, so lautet das Gedicht einer Teilnehmerin des diesjährigen Wettbewerbs. Und wahrscheinlich wäre es für alle von Euch sicherlich hilfreich gewesen, wenn die Gebäude selbst die Geschichten der Bewohnerinnen und Bewohner hätten erzählen können. Tun sie aber nicht. Und so habt Ihr bei Zeitzeugen an Türen geklingelt, Ihr habt in Büchern, auf Fotos, in Archiven recherchiert. Und vor allen Dingen dabei jede Menge Hartnäckigkeit bewiesen: Denn oft ist es doch so, dass sich nicht jede Tür öffnet, an der man klingelt, und nicht jede Quelle eine neue Information bietet. Ihr habt Quellen eingeordnet, Ihr habt Fakten überprüft und dabei vielleicht auch die eine oder andere Ungenauigkeit festgestellt, die in den mündlichen Überlieferungen vorhanden ist. Kurz und gut: Ihr habt gründlich recherchiert und Euch auf dieser Grundlage Eure eigene Meinung gebildet.

Wenn wir uns mit der Geschichte beschäftigen, dann können wir verstehen, warum wir heute so wohnen und leben, wie wir es tun. Oder etwas größer gedacht: Wir können verstehen, wie unser Land zu dem geworden ist, was es heute ist. Die Geschichtswissenschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten immer stärker damit befasst, wie und woran wir uns alle miteinander gemeinsam erinnern, oder – wie die Wissenschaftler sagen würden – was unsere eigene Identität ausmacht. Und wer sich wie Ihr mit dem Alltag vergangener Zeiten beschäftigt, und wer wie Ihr in das Forschungsfeld der Sozialgeschichte eintaucht, der kann erfahren, was uns und unser Land ausmacht, was uns prägt.

Für das Thema Wohnen gilt das vielleicht sogar im besonderen Maße. Wie sich das Wohnen über die Zeit hinweg verändert hat, das spiegelt den Wandel unserer Gesellschaft wider: Heute leben viel mehr Menschen in sogenannten Singlehaushalten statt in der Großfamilie. Viele Menschen sind vom Land in die Stadt gezogen. Wir verdienen unseren Lebensunterhalt, die meisten jedenfalls, in Dienstleistungsberufen oder in der Industrie und schon lange nicht mehr in der Landwirtschaft. Und bei uns leben eben viele Menschen, die in diesem Land, in unserem Land ein neues Zuhause gesucht und gefunden haben.

Aber wenn ich über das Wohnen rede, dann bedeutet das eben für den Einzelnen noch viel mehr als ein Dach über dem Kopf. Das Zuhause, das bedeutet im Idealfall auch Heimat, Sicherheit, Geborgenheit. Es gibt uns einen geschützten Ort, in dem wir hoffentlich sein können, wie wir sein wollen, einen Ort, den wir selbst gestalten können.

Und natürlich, das habt Ihr bei den Recherchen mühelos feststellen können, wir wohnen nicht alle gleich, ganz im Gegenteil. Wohnungen, vor allem bezahlbare Wohnungen, sind selten geworden in vielen Regionen, grade in den Großstädten. Und wie wir wohnen, das ist natürlich vor allem eine Frage des Einkommens, und auch das nicht nur, zu häufig immer noch auch eine Frage des Nachnamens: Einige Studien sagen und belegen, dass es für Menschen mit nicht-deutsch klingendem Nachnamen nach wie vor schwierig oder vielleicht sogar im Augenblick wieder schwieriger geworden ist, überhaupt eine Wohnung zu finden.

Und dann gibt es noch eine weitere traurige Realität in unserem Land: 450.000 Menschen in unserem Land sind wohnungslos, haben keine eigene Bleibe und damit keinen Ort, der ihnen Sicherheit und Geborgenheit bietet. Ein Thema, das mich seit Langem umtreibt und nicht loslässt.

Schon 1978, das werdet ihr auch festgestellt haben, gab es einen Geschichtswettbewerb zum Thema Wohnen im Wandel, hieß das damals. Ich wage die Vorhersage, dass auch der jetzige Wettbewerb, an dem Ihr teilgenommen habt, vermutlich nicht der letzte zum Thema Wohnen sein wird.

Denn auch wenn Ihr mit Euren beeindruckenden Recherchen zurück blickt in die Geschichte, es stellt sich eben immer wieder gleichzeitig die Frage: Wie wollen wir in Zukunft wohnen? Wir haben das gemeinsam in der Hand, mit dem Wissen aus der Vergangenheit – das ich jetzt auch dank Eurer Arbeit reicher empfinde –, Antworten auf die Fragen der Zukunft zu finden.

Ich hoffe, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Geschichtswettbewerb zum Thema Wohnen in vierzig oder fünfzig Jahren dann feststellen werden, dass wir es heute geschafft haben, klimaneutral zu wohnen, den Weg dahin jedenfalls zu bereiten, und gleichzeitig bezahlbaren Wohnraum für möglichst alle Menschen in unserem Land zu schaffen. Es muss nicht vierzig Jahre dauern, aber bis morgen ist das eben auch nicht hinzukriegen.

Ich möchte mich bei allen, die diesen Geschichtswettbewerb zu einem solchen Erfolg geführt haben, herzlich bedanken. Ohne sie wäre das nicht möglich: Bei den vielen Tutorinnen und Tutoren, die die Schülerinnen und Schüler, wie ich weiß, motivieren und, wenn es notwendig ist zwischendurch, wenn der Ehrgeiz etwas erlahmt oder wenn Langeweile aufkommt oder wenn man Angst hat, nicht fertig zu werden, immer wieder ermutigen, weiterzumachen. Ich will mich bedanken bei der Körber-Stiftung, die diesen Wettbewerb mit großer Erfahrung, mit Einsatz, mit Ideen, aber vor allen Dingen immer wieder mit großer Leidenschaft betreut und in die Zukunft weiterführt. Ich will mich bedanken bei den Mitgliedern der Landes- und Bundesjurys, die die vielen Beiträge, ich habe das angedeutet mit der Zahl der Teilnehmer ganz zu Anfang, bewertet, und eben nicht nur das, sondern auch wertgeschätzt hat; das ist so wichtig für all diejenigen, die heute hier nicht auf der Bühne stehen werden. Ich will mich bedanken beim Kuratorium und beim Wissenschaftlichen Beirat, die den Wettbewerb fachlich unterstützen. Und natürlich möchte ich mich bei allen, auch in Ihrem Namen, Archivarinnen und Archivaren bedanken, bei allen Zeitzeugen und Institutionen, die Opfer Eurer Recherchearbeit geworden sind und dabei mitgemacht haben.

Ich bin mir ganz sicher, ich habe mir das angeguckt, was hier eingegangen ist an preiswürdigen Wettbewerbsbeiträgen für den heutigen Tag: Ihr alle miteinander, Ihr habt die Erfolgsgeschichte dieses Geschichtswettbewerbes weitergeschrieben!