Ich möchte Ihnen zuallererst ein Geständnis machen: Ich bin Belgien-Fan. Das hat viele Gründe, und vermutlich ganz andere, als Sie jetzt vielleicht denken. Ja, als eingefleischter Europäer mag ich natürlich das europapolitische Belgien. Ich war vermutlich in meinem Leben in kaum einer anderen nicht-deutschen Stadt so oft zu Gast wie in Brüssel – als Außenminister bleibt das nicht aus.
Und auch das darf bei einer Dinnerspeech nicht unter den Tisch fallen: Ich mag auch das kulinarische Belgien. Beim Blick in Ihre Menükarten haben Sie außerdem sicherlich schon eine weitere belgische Spezialität entdeckt, die weltweit viele Fans begeistert: die berühmten belgischen Comic-Helden von Marsupilami und Spirou über Tintin bis hin zu Lucky Luke. Über dessen Schöpfer, Maurice De Bevere – oder kurz "Morris" –, der am Freitag 100 Jahre alt geworden wäre, heißt es, er malte so schnell wie sein Cowboy schoss – schneller als sein Schatten.
Die belgische Kunst und Kultur sind ikonisch und werden deshalb international gefeiert – die "Antwerp Six" um Dries Van Noten und Ann Demeulemeester, aber auch Künstler wie René Magritte, der mit seinen Werken kunstvoll daran Zweifel erhob, dass sich die Realität überhaupt abbilden lässt. Ceci n’est pas un banquet d’Etat
würde er wahrscheinlich über diesen Abend schreiben.
Am meisten mag ich jedoch das musikalische Belgien. Natürlich denkt man dabei auf Anhieb an den großen Jacques Brel, der sich in die Herzen aller Chanson-Liebhaberinnen und -Liebhaber sang und dort bis heute verbleibt. Und wussten Sie, dass die Wurzeln des europäischen Jazz in Belgien liegen? Hier erfand Adolphe Sax im 19. Jahrhundert das Saxophon, hier wurde Jean-Baptiste "Toots" Thielemans geboren und erlangte mit seiner Mundharmonika Weltruhm. Unvergessen sind mir und so vielen Jazzfans auf der Welt seine Auftritte mit Ella Fitzgerald oder Quincy Jones, mit Paul Simon oder Billy Joel. Der 2016 verstorbene Toots Thielemans steht mit seinem kleinen, bescheidenen Instrument symbolisch für ein Belgien, das keine physische Größe braucht, um in der Welt Gehör zu finden. Er zeigt: Belgien ist Weltklasse wegen der Belgierinnen und Belgier. Das gilt natürlich nicht nur für die Musik.
Sire, wer wüsste das besser als Sie! Seit über zehn Jahren halten Sie das Land nun zusammen, über politische Auseinandersetzungen hinweg; Sie sind Garant für die innere Einheit Belgiens. Besonnen und mit ruhiger Hand arbeiten Sie für Ihr Land, auch in Krisenzeiten wie nach dem Terroranschlag in Brüssel im März 2016, als Sie damals in drei Sprachen an die Menschen in Belgien appellierten: Wir alle sind verantwortlich dafür, unser Zusammenleben menschlicher und gerechter zu machen. Lassen sie uns wagen, zärtlich zu sein.
Sie sind nicht König von Belgien, sondern König der Belgier – und das nicht nur Ihrem Titel nach. Sie arbeiten nicht nur für das Land, sondern in erster Linie für die Menschen in diesem Land. Nun weiß ich nicht, ob das einfacher ist. Erst recht angesichts der verschiedenen regionalen Identitäten, Sprachen, Minderheiten, die in Ihrem Land ihren Platz finden.
Aber gerade das ist ja eine der großen Qualitäten Belgiens – oder, um es mit Ihren Worten zu sagen, Sire: Der Reichtum unseres Landes und unseres institutionellen Systems wird insbesondere durch die Tatsache begründet, dass wir aus unserer Vielfalt eine Stärke machen. Immer wieder gelingt es uns, die Balance zwischen Einheit und Vielfalt zu finden. Unserer Vielfalt einen Sinn zu geben ist gerade die Stärke Belgiens.
Wie wunderbar, Sie und Ihre Frau heute hier begrüßen zu dürfen! Wir freuen uns sehr auf die kommenden Tage! Herzlich willkommen!
Belgien zeigt, wie Einheit nicht uniform, sondern bunt, vielseitig und vielschichtig sein kann. Zwar haben die unterschiedlichen Regionen nicht nur ihre eigene Sprache mit jeweils unzähligen Dialekten, sondern auch eigene Medien, eigene Parteien, eigene Vereine. Aber wenn es um die gemeinsame Kultur geht, und ja, auch um Essen und Sport natürlich, dann ist sie plötzlich sehr sichtbar, die belgische Identität, die die Flamen, Wallonen und auch die deutschsprachige Minderheit in Ostbelgien miteinander verbindet.
Das Gemeinsame zu betonen, statt der Unterschiede, Vielfalt als Stärke zu begreifen, das macht Belgien auch zur Herzkammer der Europäischen Union. Nicht nur geographisch, sondern habituell. Denn auch Belgien ist In Vielfalt geeint
, wie es so schön über die Europäische Union heißt. Die Erfahrung des immer neuen Aushandelns und Austarierens verschiedener Interessen und Mentalitäten auf unterschiedlichen Ebenen – und dazu auch noch in drei verschiedenen Sprachen – das macht die Belgierinnen und Belgier zu geborenen Europäern.
Auch in Deutschland haben wir mit dem Föderalismus Erfahrung, kennen Vorzüge, auch die Herausforderungen. Ich bin überzeugt, dass diese gemeinsame Erfahrung auch ein Grund dafür ist, warum wir seit Jahrzehnten so gut zusammenarbeiten. Und das nicht nur auf europäischer Ebene. Auch die bilaterale Zusammenarbeit ist vertrauensvoll und vor allem: sehr freundschaftlich. Davon zeugen zahlreiche Grenzpendler, unzählige deutsch-belgische Wirtschaftskooperationen – eine ganz neue ist heute in Mecklenburg-Vorpommern hinzugekommen: ein von Belgien betriebener neuer Windpark östlich von Rügen – davon zeugen die Städte- und Universitätspartnerschaften und auch die im nächsten Jahr wieder anstehende Deutsch-Belgische-Konferenz, an der wir, Sire, schon gemeinsam teilgenommen haben. Und auch die deutschsprachige Minderheit in Ostbelgien, die als die am besten geschützte Minderheit in Europa gilt, verbindet unsere Länder miteinander.
Gute Nachbarschaft, sie ist umso wichtiger in einer Zeit großer Umbrüche, vor denen wir weltweit stehen. Die globalen Herausforderungen – nehmen wir den Klimawandel, die Energiekrise oder auch Fragen von Flucht und Migration – sie machen nicht an unserer Landesgrenze halt. Es gibt zahlreiche Gebiete, in denen wir als Nachbarn auf Zusammenarbeit setzen: bei Energie- und Infrastrukturfragen, die uns auch in den kommenden zwei Tagen beschäftigen werden; bei Wissenschaftskooperation und Weltraumstrategie – wir trafen ja erst kürzlich gemeinsam mit Astronauten der ESA in Belgien zusammen – aber Kooperation natürlich auch bei Sicherung und Weiterentwicklung der Europäischen Union.
Gemeinsames Handeln der Mitgliedstaaten ist die Stärke der Europäischen Union. Das gilt umso mehr, je mehr Mitgliedstaaten perspektivisch der Europäischen Union angehören werden. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges erleben wir mit der europäischen Integration einen weltweit beispiellosen Prozess der Versöhnung und Kooperation.
Wir als Deutsche sind sehr dankbar für diese Entwicklung. Wir sind dankbar für die Freundschaft Belgiens, dieses Nachbarlandes, das im vergangenen Jahrhundert zwei Mal Opfer eines deutschen Überfalls geworden ist. Diese Versöhnung und Freundschaft ist für uns Deutsche ein enormes Glück. Sie bedeutet auch enorme Verantwortung. Wir stehen zu dieser Verantwortung, und wir tragen sie weiter.
Auch in Europa tragen wir gemeinsam die Verantwortung für ein friedliches Zusammenleben nicht nur heute, sondern vor allem in der Zukunft. Die Europäische Union war und bleibt ein Friedensprojekt. Darum unterstützen wir gemeinsam die Ukraine in ihrem Kampf gegen den russischen Angriffskrieg, für Freiheit und Unabhängigkeit. Und auch wenn wir jetzt jeden Tag mit Entsetzen auf das Leid der Menschen in der Ukraine und auch im Nahen Osten blicken, dürfen wir die Hoffnung nicht aufgeben, dass dort irgendwann wieder Frieden und Versöhnung möglich sein werden.
Die Überzeugung, dass "mehr geht", wenn man sich zusammentut, die verbindet uns Deutsche und Belgier. Doch jenseits davon gibt es auch noch eine typisch belgische Haltung, die einem von Brügge bis Lüttich immer wieder begegnet, und von der wir Deutsche noch etwas lernen können: Ça va aller – het komt wel goed
, was so viel heißt wie Wird schon werden! Alles wird gut!
Es ist diese belgische Mischung aus Gelassenheit und Zuversicht, die wir in einer Welt voller Unsicherheiten und Veränderungen dringend benötigen. Lassen wir uns von diesem Zukunftsoptimismus, von diesem belgischen Geist inspirieren. Und nehmen wir ihn mit ins kommende Jahr. Wir brauchen Zuversicht, wir brauchen Mut, um die Demokratie in unseren Ländern und in Europa gegen die Spalter und Angstmacher zu wappnen – gerade mit Blick auf die Wahlen im kommenden Jahr.
Zuversicht – und auch das sage ich als Fan – brauchen wir auch mit Blick auf die Fußball-Europameisterschaft, sowohl für die "Mannschaft" als auch für die "Roten Teufel".
Ça va aller – het komt wel goed! Auf Ihr Wohl!