Eröffnung des Gemeindetages des Zentralrates der Juden in Deutschland

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 14. Dezember 2023

Der Bundespräsident hat am 14. Dezember in Berlin den Gemeindetag mit einer Rede eröffnet: "Wir gehören zusammen, wenn uns das Licht des Friedens, der Gemeinschaft und der Zusammengehörigkeit wichtiger und wertvoller ist als die Finsternis der Trennung, der Feindschaft und des Hasses."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier steht vor der Logoaufschrift des Gemeindetages auf einer Bühne und hält am Rednerpult eine Rede.

Ich erinnere mich noch sehr gut an den Gemeindetag 2019 und danke Ihnen sehr, dass Sie mich wieder eingeladen haben. Ich bin froh, gerade jetzt dabei zu sein. Und ich freue mich, gemeinsam mit Ihnen, dem Gemeindetag des Zentralrates der Juden in Deutschland, den Abschluss des Chanukka-Festes zu feiern, das Sie alle verbindet und hier in Berlin versammelt hat. Ich freue mich, gleich selber eine Kerze am Leuchter anzuzünden und damit ein schon aus alten Zeiten überliefertes Zeichen der Hoffnung und Zuversicht zu setzen, das Sie alle in jüdischer Tradition in diesem Leuchter und seinen Lichtern sehen.

Die Chanukka-Festtage werden kalendarisch immer in der Nähe des christlichen Weihnachtsfestes gefeiert. Manchmal fallen sie sogar zusammen. Und wenn auch die Inhalte beider Feste verschieden sind, so verbindet sie in ihren jeweiligen Traditionen doch auch vieles.

Es sind Feste der Freude, der Liebe und der Begegnung, Feste des Lichtes, der Hoffnung und der Zuversicht. Das Licht ist stärker als die Dunkelheit. Das Licht soll jeden einzelnen, persönlichen Lebensweg, aber auch den Weg unserer Freunde und Familien, unserer Gemeinschaften und all unserer Mitmenschen erleuchten und trösten. Das ist der Charakter, oder ich sage lieber: Das ist der schöne Zauber beider Feste. Das Licht von Chanukka, das Licht von Weihnachten: Beides drückt die tief in allen Menschen verwurzelte Sehnsucht nach einem guten, einem friedlichen, einem gelingenden Leben aus. Die Sehnsucht danach und die Freude darüber, die teilen wir miteinander.

Beide Feste wollen die Menschen nicht voneinander trennen und entfernen, sondern sie zusammenführen. Und so ist es schön, dass in diesen Tagen der Gemeindetag stattfindet. Aus dem ganzen Land sind Sie alle zusammengekommen, um miteinander zu feiern, um sich miteinander auszutauschen, um sich oft ganz einfach wiederzusehen. Und ich bin gerne heute Abend dabei und freue mich herzlich darüber, dass Sie mich ein bisschen mitfeiern lassen. Herzlichen Dank für die Einladung.

Wir alle wissen aber heute Abend auch: Dieser Gemeindetag 2023 findet in schwerer Zeit statt. Wir alle sind im Innersten getroffen von den schrecklichen Ereignissen dieser Wochen in Israel. Wir sind entsetzt und erschüttert über den grausamen Angriff der Hamas-Terroristen am 7. Oktober auf friedliche israelische Bürgerinnen und Bürger, auf Babys und Kinder, auf feiernde junge Menschen, auf Frauen und Männer. Und wir sind fassungslos über die Brutalität und über die mit diesem Angriff ausgesandte Botschaft: Israel soll vernichtet werden, die Jüdinnen und Juden sollen ihre Heimat, ihre Sicherheit, ihren Staat – ja, ihr Leben verlieren.

Ich sage: Wir alle sind betroffen. Denn diese Tat fordert von jedem in unserem Land, diese Bedrohung genau zu verstehen, die Gefahr ohne jede Naivität zu erkennen und dann den notwendigen Schutz gemeinsam zu organisieren. Wir fühlen mit den Opfern. Aber dieses Gefühl kann aber nur glaubwürdig und vertrauenswürdig sein, wenn dem und diesem Bekenntnis auch praktische Solidarität folgt.

Ich weiß, dass Sie alle in diesen Tagen und Wochen mit Ihren Gedanken, wahrscheinlich auch mit Ihren Ängsten und Sorgen, mit Ihrer Verzweiflung, in Israel sind. Unbeschwert kann in diesen Tagen niemand Chanukka feiern. Und wohl fast jeder von Ihnen wird Freunde und Angehörige in Israel haben, die von dem Terrorangriff und den Geiselnahmen am 7. Oktober direkt oder indirekt betroffen sind oder unter den Folgen leiden müssen. Ich möchte Ihnen heute Abend sagen: Ich sehe Ihre Ängste, Ihre Sorgen, Ihre Not. Und deshalb oder gerade deshalb bin ich heute bei Ihnen. Miteinander feiern wir, miteinander trauern wir. Unsere gemeinsamen Gedanken und Gebete gehen auch an diesem Abend hier von Berlin aus nach Israel.

Wie die meisten von Ihnen wissen, bin ich vor Kurzem in Israel gewesen. Ich war, als Bundespräsident wie auch früher, in anderer Funktion, als Außenminister, viele, viele Male in Israel und in der Region. Aber dieser Besuch hat mich berührt und innerlich aufgewühlt wie keiner zuvor.

Ich habe dort zusammen mit meinem Freund, dem israelischen Staatspräsidenten, mit Buji Herzog, den von der Hamas überfallenen Kibbuz Be’eri besucht. Einen Kibbuz, der von europäischen, auch von deutschen Juden gegründet wurde. Das Ausmaß der Zerstörung, die Zeugnisse des Grauens, die wir dort gesehen und gehört haben , das hat mir, das muss ich Ihnen gestehen, die Stimme versagen lassen. Ich habe dort erlebt und gesehen, wie sehr die Seele Israels tief getroffen worden ist. Und ich bin sehr dankbar, dass wir Deutsche einen Teil zum Wiederaufbau des Kibbuz beitragen können. Möge das wiedererstehende Gemeindehaus eine Ermutigung für die früheren Bewohner an diesem Ort sein. An diesem Ort, der ihre Heimat war und wieder sein soll; möge es eine Ermutigung sein, an diesen Ort zurückzukehren.

Die Ereignisse in Israel haben, Sie wissen es alle, Auswirkungen auf die ganze Welt und auch auf unser Land. Überall auf der Welt trauern Menschen um die Toten des Massakers vom 7. Oktober – auch in unserem Land.

Und es gibt Schmerz und Trauer auch um die vielen zivilen Toten in Gaza – auch in unserem Land. Aber eines dürfen wir nicht vergessen: Es war die Hamas mit ihrer menschenverachtenden Grausamkeit, die diesen Krieg im Nahen Osten ausgelöst hat. Wir Deutsche stehen an der Seite Israels, des Staates Israel, der noch nie in seiner Geschichte so im Innersten verletzt wurde; eines Staates Israel, der sich wehrt und wehren muss gegen den Terror der Hamas.

Und es ist die Hamas, die zynisch und rücksichtslos die eigene palästinensische Bevölkerung als Schutzschild missbraucht. Wie verblendet muss man eigentlich sein, um in der Hamas eine Befreiungsorganisation zu sehen, die doch in Wahrheit die Bevölkerung in Gaza selbst in Geiselhaft hält.

Ja, es ist wahr: Dieser Kampf bringt auch großes Leid in Gaza mit sich. Und es lässt uns alle nicht kalt, wenn man die Zerstörungen in Gaza sieht, wenn man sich die vielen tausend Todesopfer dort vor Augen führt. Das geht uns nah, und das geht auch mir nah. Und ja: Auch in unserem Land muss öffentlicher Raum sein, den Schmerz über die palästinensischen Opfer, über das Leid der Kinder zu zeigen.

Wo sich jedoch in diese Trauer, in das Mitleiden mit den Menschen in Gaza, ein roher Antisemitismus mischt, ein Hass auf Juden und auch der Wunsch, Israel als freien und selbstbestimmten Staat der Juden auszulöschen, da werden wir nicht schweigen. Nichts rechtfertigt diesen Hass, nichts rechtfertigt Antisemitismus. Wir werden ihn nicht dulden, wir werden ihn nicht beschweigen. Wir werden ihn offenlegen, wo er sich hinter Phrasen verbirgt, und wir werden ihn bekämpfen, wo er sich zeigt.

Es erschüttert mich und es macht mich zornig, dass es einen solchen Antisemitismus auch hier in Deutschland gibt. Wieder und auch neu. Ausgerechnet in Deutschland. Ich weiß von Schülern, von Studentinnen, die sich nicht mehr in die Schule oder in die Universität trauten. Ich weiß von Jüdinnen und Juden, die ihr Jüdischsein lieber nicht mehr offen zeigen oder bekennen. Nicht wenige von ihnen haben jetzt das Gefühl, dass seit dem 7. Oktober auch in unserem Land beides existenziell bedroht ist: ihre Heimat Deutschland und ihr für alle Fälle offener Zufluchtsort Israel.

Das darf nicht sein und das wird nicht sein. Ich bin zutiefst dankbar, dass jüdisches Leben in Deutschland wieder aufgeblüht ist. Und ich versichere Ihnen: Dieses jüdische Leben wird im Alltag, in den Gemeinden, in den Synagogen, an den Universitäten, in Kunst und Kultur, in Gesellschaft und Politik – dieses jüdische Leben wird sich weiter entfalten können. Und, ich füge hinzu, auch entfalten müssen. Weil es immer hierher gehörte. Oder, wie ich an anderer Stelle gesagt habe: Nur wenn Juden sich in unserem Land zu Hause fühlen, ist dieses Land ganz bei sich selbst. In aller Klarheit: Deutschland wird, und dafür trete ich persönlich ein, dafür tritt die übergroße Mehrheit aller Deutschen ein, eine Heimat für Juden bleiben. Wie auch für Christen und Muslime und Angehörige anderer Glaubensgemeinschaften – und auch für Menschen, die nicht glauben.

Und Israel soll und wird auch in Zukunft der Staat der Juden sein und der Zufluchtsort für alle, die irgendwo auf der Welt wegen ihres Jüdischseins bedroht oder verfolgt werden.

Wenn meine Frau und ich jetzt gleich dabei sind, die Kerzen am Chanukkaleuchter zu entzünden, dann möchten wir mit Ihnen allen die Freude teilen, die dieses schöne und uns verbindende Fest für uns alle bedeuten kann. Und wir möchten damit auch den Zusammenhalt zum Ausdruck bringen, der uns hier in Deutschland, bei aller Verschiedenheit des Glaubens und der Herkunft, verbindet. Das sollten wir nicht vergessen und daran, so verstehe ich das Motto dieses Gemeindetages, sollten wir uns gerade jetzt erinnern. Wir gehören zusammen, wenn uns das Licht des Friedens, der Gemeinschaft und der Zusammengehörigkeit wichtiger und wertvoller ist als die Finsternis der Trennung, der Feindschaft und des Hasses.

Ich glaube, dass auch die jungen Sängerinnen und Sänger, die gleich auftreten, von diesem Geist des Zusammenkommens, des Zusammenstehens und des Zusammenlebens inspiriert sind.

Sie sind Sieger des europäischen Jewrovision-Wettbewerbs. Sie sind aber vor allem selbstbewusste, engagierte junge Jüdinnen und Juden. Darauf kann in der Tat unser ganzes Land stolz sein.

Ich freue mich, dass sie bei uns sind – und dass sie und wir alle für eine gute, gemeinsame Zukunft in Deutschland leben und wirken wollen.

Ich wünsche Ihnen einen wundervollen Gemeindetag.