Während wir hier zusammen sind und uns gegenseitig ein gutes neues Jahr wünschen, leiden Hunderttausende von Mitbürgerinnen und Mitbürgern jetzt schon seit Wochen unter dem großen Hochwasser, das weite Teile unseres Landes überflutet hat. Zehntausende Helferinnen und Helfer sind bis zur Erschöpfung im Einsatz, um zu retten, zu schützen und um Schlimmeres zu verhüten.
Gerade weil Sie, liebe Gäste, zu den vorbildlichen Menschen gehören, die in ehrenamtlichem Einsatz so viel Gutes tun, möchte ich mit Ihnen heute an erster Stelle an diese Vielen denken, die sich, auch in dieser Stunde, überall mit aller Kraft der drohenden Katastrophe entgegengestellt haben und entgegenstellen.
Auch wir in Europa, auch wir in Deutschland werden immer häufiger von den Folgen des Klimawandels getroffen, von extremen Wetterverhältnissen mit manchmal verheerenden Fluten und Überschwemmungen, von Dürre, Hitze und Bränden in den Sommermonaten. Und das bedeutet auch: Immer häufiger sind auch unsere haupt- und ehrenamtlichen Rettungskräfte, unsere freiwilligen Feuerwehren und sehr viele engagierte Bürgerinnen und Bürger im Einsatz, um den Menschen in den betroffenen Regionen zu helfen, um noch größere Schäden abzuwenden, um Hab und Gut und nicht selten auch Leben zu retten. Sie haben unseren großen Dank verdient, unsere Würdigung und Anerkennung. Nicht nur heute, sondern an 365 Tagen im Jahr.
Sie alle, liebe Gäste, die Sie heute hier sind, haben in den letzten Monaten und Jahren durch besonderes Engagement unserem Land – ja: gedient, wenn ich dieses altmodische Wort gebrauchen darf. Nicht weil man Sie verpflichtet oder gewählt hat, sondern aus eigener Initiative, mit eigenen Ideen, viele mit Zähigkeit und unbeirrbarem Einsatz.
Ich freue mich, dass Sie heute meine Gäste sind! Gerade waren Sie zusammen mit den Regierenden und den Vertretern des öffentlichen Lebens beim Neujahrsempfang dabei – und jetzt darf ich Sie zu diesem besonderen Anlass noch zum Essen einladen. Dem will ich durch langes Reden nicht im Wege stehen, nur sagen:
Es ist eine eigentümliche Zeit, diese ersten Tage und Wochen im Jahr. Wir sind noch dabei, für das alte Jahr Bilanz zu ziehen, es buchstäblich Geschichte werden zu lassen und innerlich abzuschließen, da ist auch schon das neue Jahr da, mit neuen Nachrichten und Ereignissen, mit neuen Anforderungen und Auseinandersetzungen.
Eine Zeit "zwischen den Jahren", eine solche Zeit außerhalb der Zeit gibt es eigentlich nicht – oder nicht mehr. Es scheint vielmehr so, als ließe uns die Zeit immer weniger Zeit, innezuhalten, zu reflektieren, Abstand zu gewinnen, um uns ein Urteil darüber bilden zu können, was um uns herum und mit uns geschieht. Den Abstand, den wir doch brauchen, um klug und überlegt auf das zu reagieren, was uns an großen Ereignissen oder auch an alltäglichen Sorgen und Herausforderungen trifft.
Eine kleine Atempause, einen kleinen Abstand zum unaufhörlichen Weitermachen im Alltag stellen die kleineren und größeren Rituale gerade beim Jahreswechsel dar. Weihnachtsfeiern, Neujahrsempfänge, Neujahrsansprachen und auch dieser alljährliche Neujahrsempfang beim Bundespräsidenten, zu dem sich Vertreterinnen und Vertreter des öffentlichen Lebens im Schloss Bellevue einfinden und sich gegenseitig die guten Wünsche für das neue Jahr ausrichten und sich weiterer gegenseitiger und konstruktiver Zusammenarbeit versichern. So wird für einen Moment sinnfällig und sichtbar, dass wir in diesem Staat alle zusammen Verantwortung tragen. Dass es auf alle ankommt, auf allen Ebenen und in allen Bereichen, wenn das Ganze gelingen soll.
Ja, wir leben in schwierigen Zeiten. Die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten, der Klimawandel mit seinen Folgen und mit den notwendigen Maßnahmen, um ihn zu bekämpfen, Infrastrukturschwächen, gravierende Mängel in Bildung und Ausbildung, die großen Herausforderungen bei Migration und Integration – und dazu noch die Corona-Pandemie mit ihren langfristigen Folgen oder die Folgen der Flut im Ahrtal vor zweieinhalb Jahren.
Das sind große Herausforderungen. Aber auf all das mit Wut zu reagieren, ist keine gute Idee. Wut ist kein guter Ratgeber in der Demokratie. Dass ein Minister der Bundesregierung von einer aggressiven Menschenmenge auf einer privaten Reise so beschimpft, bedroht und genötigt wird, dass er seine Fähre nicht verlassen kann und sich in Sicherheit bringen muss, das hat mich schockiert – und sicher auch viele von Ihnen. Ja, Demonstrationen, Proteste, sie gehören zur Demokratie, und es ist völlig legitim, Regierungen scharf zu kritisieren. Demokratie braucht Debatten, braucht Auseinandersetzung. Und deshalb gewährt das Grundgesetz auch Versammlungs- und Meinungsfreiheit. Die Grenze ist aber dort überschritten, wo zu Hass und Gewalt aufgerufen wird, wo gewählte Politikerinnen und Politiker beschimpft, verunglimpft, angegriffen werden, ihnen und ihren Angehörigen, auch das kommt vor, gar mit dem Tod gedroht wird.
Immer wieder haben mir Bürgermeister und Gemeindevertreter, darunter viele Ehrenamtliche, von solchen Bedrohungen erzählt, die gerade in der Corona-Zeit erheblich zugenommen haben. Beschimpfungen, damit können die meisten noch umgehen. Aber Galgen im Garten, Fäkalien in Briefkästen – da endet dann das, was man ertragen muss! Ich sehe mit Sorge, wie sich schon seit längerer Zeit auch in unserem Land die Grenze vom Sagbaren hin zum Unsäglichen verschiebt. Wie die politische Kultur bei Protesten und Demonstrationen verroht. Ich sage es heute nicht zum ersten Mal, aber ich wiederhole es: Das ist eine Bedrohung für unsere Demokratie! Und Demokratinnen und Demokraten sollten sich deshalb genau überlegen, mit wem sie auf die Straße gehen und welchen Plakaten sie hinterherlaufen.
Ich muss gestehen, dass ich vorhin beim Defilee vielleicht noch intensiver als in anderen Jahren gespürt habe, welches Maß an Verantwortung jede und jeder Einzelne trägt und zu tragen bereit ist. Beim Neujahrsempfang sind jedes Mal auch Bürgerinnen und Bürger wie Sie dabei, die sich durch besonderes Engagement um unser Land verdient gemacht haben.
Auf beiden Säulen nämlich ruht das Gelingen unseres Zusammenlebens: auf dem Wirken derer, die den Dienst für die Allgemeinheit hauptamtlich zum Beruf gemacht haben, und auf dem freiwilligen ehrenamtlichen Engagement der Bürgerinnen und Bürger. Wenn wir in diesem Jahr im Mai den 75. Geburtstag unseres Grundgesetzes feiern – und damit auch fünfundsiebzig Jahre funktionierender Demokratie –, dann können wir dankbar auch dafür sein, dass diese beiden Säulen 75 Jahre lang unsere Demokratie getragen haben; und wir erinnern uns zugleich daran, dass es vor 35 Jahren der Mut der Friedlichen Revolutionäre in der damaligen DDR war, dem wir es verdanken, dass diese Demokratie seither in ganz Deutschland verankert ist.
Ich empfinde jedenfalls jedes Mal Hochachtung und große Dankbarkeit, wenn ich höre und sehe, wie viel tatkräftiger und ideenreicher Einsatz in unserem Land höchst lebendig ist. Das wird auch heute wieder deutlich. Sie alle sind Menschen, die an mehr denken als nur an sich selbst. Sie machen die Stärke unseres Landes aus.
Ich kann Sie nicht alle einzeln namentlich nennen. Aber ich freue mich, dass heute hier wieder Menschen zusammengekommen sind, die sich in ganz unterschiedlichen Bereichen engagieren.
Da ist jemand, der sich besonders um die Erinnerung an den Widerstand der Weißen Rose kümmert und aus diesem Geist heraus demokratisches Bewusstsein stärken will;
da ist eine Schülerin, die sich für Frauen- und Menschenrechte einsetzt und bald einen Verein gründen will zur der Geschichte der unterdrückten Jesiden;
eine andere Frau ruft ein örtliches Frauennetzwerk ins Leben, um die berufliche Sichtbarkeit von Frauen zu fördern;
über Konfessionsgrenzen hinweg hat ein Pfarrer während der Corona-Zeit mit einem YouTube-Kanal die Verbindung von Gläubigen untereinander erhalten;
ein anderer kämpft als Religionslehrer in Brandenburg mit seinen Schülerinnen und Schülern gegen Rechtsextremismus und für demokratische Werte und hat ein Bürgerbündnis für eine gewaltfreie, tolerante und weltoffene Stadt gegründet.
Da nutzt eine andere die verschiedensten Medien, um gerade unter jungen Leuten der näheren Umgebung Bewusstsein für die Heimatpflege zu wecken;
ein anderer wiederum rettet seit 40 Jahren historische Baumaterialien aus Abbruchhäusern und vermittelt historische Handwerkstechniken im Bereich der Denkmalpflege;
ein anderer hat vor 25 Jahren einen Verein zur Förderung medizinischer Versorgung Obdachloser ins Leben gerufen und bietet jede Woche zwei ärztliche Sprechstunden für sie an;
jemand anderes wieder hilft haftentlassenen, inhaftierten oder von Haft bedrohten Menschen bei ihrer sozialen und beruflichen Integration;
eine andere hat aus eigenen Stücken einen Verein gegen sexuellen Missbrauch von Kindern gegründet, mit Info- und Weiterbildungsveranstaltungen an Kindergärten und Schulen;
zwei Frauen engagieren sich seit vielen Jahren für die bundesweite Selbsthilfeorganisation für Trauernde, die einen nahestehenden Menschen durch Suizid verloren haben;
eine andere kämpft gegen die Vermüllung im Meer;
jemand anderes bemüht sich um ein besseres Verständnis zwischen den Menschen in den EU-Mitgliedstaaten und vermittelt Kenntnisse über die Arbeit der EU-Institutionen;
und an ganz anderer Stelle bietet eine Frau mit ihrem Verein Frauen und Männern mit Migrationsgeschichte Schwimmkurse in geschützter Atmosphäre an.
Und so könnte ich noch länger und immer weiter fortfahren: Wirklich alle, die hier sind, haben nicht nur eine tolle Idee gehabt, sondern auch den Mut, den Einsatz, die Hartnäckigkeit und sicher auch Überredungskunst und die nötigen Nerven, diese Idee in die Tat umzusetzen. Oft übrigens abseits und außerhalb schon bestehender Institutionen und Einrichtungen.
Unter uns sind schließlich auch drei Helfer des THW-Ortsverbandes Lahnstein, die in der Flutnacht im Ahrtal vor zwei Jahren durch ihr mutiges Eingreifen maßgeblich dazu beigetragen haben, 37 Menschen zu retten, darunter vier Kleinkinder und ein Baby.
Und ganz besonders - damit komme ich noch einmal zu dem zurück, was ich ganz am Anfang gesagt habe - begrüße ich auch vier Feuerwehrleute aus Freiwilligen Feuerwehren in Niedersachsen, die gerade mit vielen tausend anderen Helferinnen und Helfern unermüdlich im Einsatz sind, um die schlimmsten Folgen des Hochwassers zu verhindern. Ihnen danken wir heute, weil Sie beispielhaft für schnelle und kompetente Hilfe in der Not stehen, von ganzem Herzen.
Ich freue mich, heute mit Ihnen allen zusammen zu sein.