So lange zurück schon scheint die Zeit zu liegen, die uns heute zusammenführt, jene Zeit der Pandemie, die Corona-Zeit, wie man sagt, in der diese beiden Menschen sich besonders bewährt, sich vorbildlich verhalten und uns allen einen großen Dienst erwiesen haben und die dafür heute eine hohe Auszeichnung erhalten.
Ich freue mich, dass ich heute Sie, lieber Professor Cichutek, und Sie, lieber Professor Wieler, mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland auszeichnen darf. Und ich freue mich, dass Sie, liebe Gäste, dabei sind.
Diese Zeit der Pandemie, die manchmal so unendlich weit entfernt scheint, wird uns sofort wieder gegenwärtig, wenn wir uns an die seltsamen Begriffe erinnern, die bald zum alltäglichen Wortschatz gehörten – zum passiven zuerst, dann auch zum aktiven: Begriffe wie R-Wert, Inzidenz, Latenz, exponentielles Wachstum, Inkubationszeit, Booster, FFP2. Viele, ja fast alle redeten plötzlich wie Seuchenexperten, im alltäglichen Miteinander und erst recht in den Talkshows. Und natürlich auch in den Pressekonferenzen nach immer neuen Krisengipfeln oder Ministerpräsidentenkonferenzen, den gefühlt ununterbrochen tagenden "MPKs". Auch dieses Wort, eigentlich ja nur eine Abkürzung, ist weder vor noch nach der Corona-Zeit so präsent gewesen.
Uns kam es damals vor, als wären wir innerhalb von kurzer Zeit in eine neue und unbekannte Welt versetzt worden: leere Straßen, geschlossene Geschäfte und Gaststätten, Homeoffice für viele Beschäftigte, keine Sportveranstaltungen, keine Konzerte, kein Theater, geschlossene Schulen und Kindergärten vor allem, überall Maskenpflicht, Testzentren, Selbsttests, Corona-Warn-App. Ein Jahr nach Beginn der Pandemie dann ein wahrhaft historischer Moment: Ein Impfstoff war entwickelt und zugelassen. Was bis dahin Jahrzehnte dauerte, gelang jetzt innerhalb weniger Monate. Welch riesige wissenschaftliche Pioniertat war das!
Von all dem ist für viele heute fast nur noch eine ferne Erinnerung geblieben. Obwohl doch so viele erkrankt waren, manche sehr schwer und sehr lange; obwohl doch über 180.000 Menschen bei uns und weltweit bislang über 7 Millionen Menschen gestorben sind; obwohl viele noch heute mit Long-Covid an den Folgen leiden: Aus der breiten Öffentlichkeit, aus den politischen Debatten, von den Titelseiten der Zeitungen ist all das nahezu verschwunden, sicher auch, weil neue Krisen und Kriege uns kaum Zeit zum Nachdenken ließen. Und so fühlen sich gerade die, die um Angehörige trauern oder die selber an den Folgen der Krankheit oder des Lockdowns noch immer leiden, manchmal allein und ungehört.
Vergessen hat seine gute und seine schlechte Seite. Die gute ist: Wer Schweres vergisst, kann leichter und mit neuer Kraft ins Leben gehen. Trotz teilweise bis heute nachwirkender Belastungen etwa bei Jugendlichen, deren Schulen monatelang geschlossen wurden, oder in Familien, die ihren Angehörigen nicht am Sterbebett beistehen konnten: Im Großen und Ganzen haben wir die Prüfung der Pandemie bewältigt, wozu die beiden Wissenschaftler, die wir heute ehren, in herausragender Weise beigetragen haben. Das gibt uns Kraft und Zuversicht für neue Herausforderungen.
Die schlechte Seite des schnellen Vergessens: Wir haben wichtige Fragen nicht ausreichend beantwortet. Was haben wir richtig und was falsch gemacht? Was hätten wir, trotz all der Unsicherheit und der Wucht des unbekannten Erregers, besser machen können? Wo sind wir zu streng und vielleicht übervorsichtig gewesen, und wo waren wir zu nachlässig und leichtfertig? Welche Gruppen und Bevölkerungsteile haben besonders unter den Maßnahmen zu leiden gehabt? Wer hätte mehr Hilfe und Unterstützung gebraucht? Wo haben wir mit Maßnahmen zu lange gewartet? Eines dürfen wir dabei aber nicht außer Acht lassen: Viele der heute selbstverständlichen Erkenntnisse haben wir nur wegen der enormen Leistungen von Wissenschaftlern weltweit gewinnen können.
Ehrliche Aufarbeitung ist aus zwei Gründen notwendig. Zum einen, weil niemand sagen kann, ob wir nicht in absehbarer oder auch späterer Zeit wieder einmal von einer Pandemie getroffen werden. Wie schnell alles gehen kann, gerade in unserer globalisierten Welt, das haben wir erlebt in der Zeit der Corona-Pandemie. Es hat ja nur wenige Wochen gedauert, bis nach den ersten Nachrichten aus China über eine unbekannte Lungenkrankheit der erste Covid-Tote in Europa zu beklagen war. Und wir sollten uns auch daran erinnern, wie hilflos wir anfangs waren und unter welchem Schock wir standen, als uns die schrecklichen Bilder aus Bergamo erreicht haben. Da nicht in Panik zu verfallen, auch das verdanken wir Wissenschaftlern wie Ihnen beiden, Herr Wieler und Herr Cichutek, Ihrem überragenden wissenschaftlichen Verstand und Ihrem immer von Vernunft geleiteten Engagement, mit dem Sie der Politik und damit uns allen mit bestem Rat zur Seite gestanden haben und stehen.
Damit komme ich zum zweiten Grund, warum es notwendig ist, unsere Erfahrungen aufzuarbeiten. Gerade in der Corona-Zeit hat sich viel Misstrauen in staatliche Maßnahmen, in politisches Handeln, ja in die demokratische Selbstorganisation unserer Republik artikuliert. Oft bis hin zu absurden Verschwörungserzählungen, zu antidemokratischen Demonstrationen, zu Diskriminierung und Hetze, zu Drohung mit oder auch tatsächlicher Anwendung von Gewalt. Und auch Wissenschaft wurde nicht nur diskreditiert, sondern fundamental in Frage gestellt. Wir wissen – ich höre das selbst immer wieder bei meinen "Ortszeiten", wenn ich meinen Amtssitz ins Land hinaus verlege –, dass sich solche Haltungen verfestigt haben bis weit in die Mitte unserer Gesellschaft hinein und dass das Vertrauen in unsere demokratischen Institutionen und auch in vernunftbasierte Wissenschaft gelitten hat. Auch und gerade diese Folgen der Pandemie haben uns zu beschäftigen.
Dabei waren es gerade die Wissenschaftler, die die Politik in dieser Zeit nach bestem Wissen und Gewissen beraten haben. Beraten! Sie haben in der Zeit oft großer Orientierungslosigkeit die Fahne der Aufklärung hochgehalten, das Ethos der vorurteilsfreien Wissenschaft, des vernunftgeleiteten und erfahrungsbasierten Diskurses, der uns befähigt, aus Fehlern zu lernen.
Sie beide, meine Herren, wie auch der ein oder andere Kollege vor Ihnen, werden heute nicht ausgezeichnet, weil Sie – im Unterschied zu anderen – vor Fehleinschätzungen oder Fehlprognosen prinzipiell geschützt gewesen wären. Sie haben sich manchmal täuschen müssen, weil Sie es zu dem Zeitpunkt einfach nicht besser haben wissen können, weil Sie oft genug ins Ungewisse entscheiden und Rat geben mussten; eben auf Grundlage vorläufigen Wissens. Sie haben dann aber immer auch den Mut und die innere Freiheit gehabt, nicht falsche, sondern korrekturbedürftige Einschätzungen zu verändern und neue oder andere Maßnahmen zu begründen und zu erläutern, die auf neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhten.
Das war für Sie beide keine einfache Zeit. Das sage ich mit Blick auf die Beratungswünsche der Bundesregierung, der Exekutiven und Legislativen in Bund und Ländern; das sage ich mit Blick auf die hohen Erwartungen in der Bevölkerung in einer Zeit, in der Angst herrschte; und das sage ich auch mit Blick auf manchen vielleicht ungebetenen Expertenrat. Es waren äußerst stressreiche Monate, ja Jahre. Sie haben in einer Weise in der öffentlichen Wahrnehmung gestanden, wie Sie sich das als Wissenschaftler wohl nie hätten vorstellen können. Ein Mann wie Sie, Professor Wieler, war während der Pandemie plötzlich so bekannt und so präsent wie sonst nur der Bundestrainer während einer Fußball-Weltmeisterschaft. Und Sie, Professor Cichutek, der Sie schon vor der Pandemie bereits seit über dreißig Jahren im Paul-Ehrlich-Institut tätig waren, zunächst als Wissenschaftler und dann mehr als zehn Jahre als dessen Präsident: Eine auch nur annähernd vergleichbare Zeit werden Sie vorher nicht erlebt haben.
Diese Belastungen und Zumutungen haben Sie beide in bewundernswerter Weise gemeistert und die Verantwortung für unser höchstes Gut – Gesundheit und Leben der Menschen – nicht gescheut. Und wenn wir an die hochemotionalen Auseinandersetzungen über Impfstoffe und das Impfen denken: Welche Anfeindungen von sogenannten Querdenkern, von Besserwissern und Feinden aufgeklärter Vernunft haben Sie erleben müssen. Das hat Sie und sicher auch Ihre Familien schwer belastet. Dazu haben Sie bis an den Rand der Erschöpfung gearbeitet – und sicher oft darüber hinaus.
Sie sind sich dabei aber immer als Wissenschaftler treu geblieben. Und indem Sie genau das getan haben: als Wissenschaftler wissenschaftlich zu denken, international zusammenzuarbeiten, zu argumentieren und zu erklären und vor allem zu beraten – genau dadurch haben Sie eine eminent wichtige gesellschaftliche und politische Rolle gespielt. Dass Sie Wissenschaftler geblieben sind und sich keine Rolle als Überminister, Überministerpräsident, Überkanzler angemaßt haben, genau das hat der Sache sehr gedient.
Sie werden auch deswegen ausgezeichnet, weil Sie inmitten manchmal des größten Durcheinanders einen kühlen Kopf bewahrt haben. Und weil Sie den Kopf weder vor lauter Hektik verloren noch ihn aus Angst, einen Fehler zu machen, in den Sand gesteckt haben.
Wie die allermeisten Menschen, die verantwortlichen Politiker und die beteiligten Forscherinnen, Wissenschaftler, aber auch Publizisten und Journalistinnen diese große, von niemandem vorausgesehene Krise bewältigt haben, nämlich transparent und verantwortungsvoll, entscheidungsbereit, aber auch bereit zu Selbstkorrektur im Rahmen sich fortentwickelnder wissenschaftlicher Erkenntnis, so haben alle auch gezeigt, dass unser demokratisches, freiheitliches System mit einer Krise solchen Ausmaßes fertigwerden kann. Die am Anfang gelegentlich zu hörenden Parolen, ein autoritäres System, eine Diktatur gar, sei besser gewappnet für eine solche Krise, haben sich als haltlos erwiesen. Dazu haben auch Sie beide wesentlich beigetragen.
Jeder von Ihnen hat lange vor der Corona-Pandemie herausragende wissenschaftliche Leistungen erbracht. Beeindruckende Karrieren, die Sie bis an die Spitze des Robert-Koch- und des Paul-Ehrlich-Instituts führten. Für manche Menschen aber kommt im Leben einmal eine besondere Stunde der Bewährung – so dass man den Eindruck hat, alles bisher Geleistete, alles bisher Gelernte und Gewusste war eine Vorbereitung für diese Stunde der Bewährung.
Sie beide haben eine solche Stunde – in Wahrheit waren es viele tausend Stunden – der Bewährung erlebt und in dieser Bewährungsprobe Herausragendes geleistet. Damit haben Sie unserem Staat und den Menschen in unserem Land in schwerer Zeit einen großen Dienst erwiesen.
Darum heute diese Auszeichnung mit dem Bundesverdienstkreuz, die ich Ihnen jetzt überreichen darf. Herzlichen Glückwunsch Ihnen beiden.