Forum Bellevue zur Transformation der Gesellschaft: "Zeiten des Wandels – Wie gelingt gesellschaftlicher Zusammenhalt?"

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 1. Februar 2024

Ansprache von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zur Eröffnung der zweiten Veranstaltung in der Reihe "Forum Bellevue zur Transformation der Gesellschaft" vor einer Dikussion mit dem Soziologen Steffen Mau und dem Publikum.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier steht am Rednerpult und hält eine Rede

Schön, dass Sie hier sind. Ich freue mich, dass Sie Interesse haben an diesem zweiten "Forum Bellevue zur Transformation der Gesellschaft". In dieser Gesprächsreihe nehmen wir den großen Umbau in den Blick, der begonnen wurde, um unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft tatsächlich bis zum Jahr 2045 klimaneutral zu gestalten.

Zum Auftakt haben wir im Juli darüber diskutiert, wie wir zu einer postfossilen Industrienation werden können, technologisch führend, weltweit vernetzt, besser gewappnet gegen Krisen und Katastrophen. Heute wollen wir uns anschauen, wie sich die Transformation auf unsere Gesellschaft auswirkt: Wie werden Chancen und Risiken vor Ort wahrgenommen, bei wem löst der Wandel Vorbehalte und Widerstände aus, wo gibt es Erfolgsgeschichten, die geeignet sind, anderen Mut zu machen? Und im Mittelpunkt steht heute die Frage, wie es in dieser Zeit der Krisen und Veränderungen gelingen kann, den Zusammenhalt in der Gesellschaft zu bewahren und unsere liberale Demokratie zu verteidigen.

Sie alle hier im Saal setzen sich auf unterschiedliche Weise für Demokratie, gesunde Lebensbedingungen und ein gutes soziales Miteinander ein – in der Kommunalpolitik, in Wirtschaft und Wissenschaft, in Kultur, Kirchen und Religionsgemeinschaften. Schön, dass Sie heute hier sind, seien Sie uns bitte alle miteinander ganz herzlich willkommen!

Aufgebrachte Landwirte und Spediteure, die mit Treckern und Lastwagen das Land blockieren, ähnlich vielleicht wie zuvor Aktivistinnen und Aktivisten der Klimabewegung, die sich auf dem Asphalt festklebten und von wütenden Autofahren weggezerrt wurden; öffentliche Debatten, die sich schlagartig erhitzen, wenn Reizthemen wie Tempolimit oder Fleischkonsum berührt werden; Bürgerinnen und Bürger, die in Umfragen angeben, bei den kommenden Wahlen für Populisten oder Rechtsextremisten stimmen zu wollen – alles das gibt es. Aber auch das: hunderttausende Menschen aus allen Bevölkerungsschichten, die in ganz Deutschland für Demokratie und Menschenrechte auf die Straße gehen, von Görlitz bis Kleve, von Rosenheim bis Westerland.

Ich glaube, die Frage ist gerechtfertigt: Was ist los in dieser Gesellschaft?

Und wer die Frage stellt, der ist zunächst mal froh, wenn Steffen Mau gerade in der Nähe ist. Lieber Herr Mau, in Ihrem jüngsten Buch vermessen und kartieren Sie die Konflikte unseres Landes. Und Sie kommen zu einem für die Leser zunächst überraschenden Befund: Das verbreitete Bild einer gespaltenen Gesellschaft, in der sich zwei Gruppen mit entgegengesetzten Weltbildern unversöhnlich oder sogar feindselig gegenüberstehen, dieses Bild stimmt nach Ihrer Studie nicht mit der Wirklichkeit überein. Ganz im Gegenteil: Wenn es – sagen Sie – um Verteilungsgerechtigkeit geht, um die Humanität bei der Aufnahme von Geflüchteten, um das Miteinander der Verschiedenen oder die Sorge um den Klimawandel, dann herrsche in unserer vielfältigen Gesellschaft ziemlich viel Konsens – so das Ergebnis Ihrer Studie.

Es könnte sein, dass in diesem Saal einige anderer Meinung sind, aber das werden wir diskutieren. Aber auch Sie, das will ich klarstellen, wollen Ihre Studie auf keinen Fall als Entwarnung verstanden wissen. Dennoch: Ihre Befunde machen nachdenklich, mahnen auch, genauer hinzuschauen, vielleicht auch nicht jeden Protest zu dramatisieren, nur weil er besonders viel Aufmerksamkeit bekommt. Hüten wir uns vor Pauschalurteilen, Feindbildern und moralischer Überheblichkeit! Und schließen wir nicht von einzelnen Merkmalen, die auf Unterschiede hinweisen, auf geschlossene politische Weltbilder des anderen oder anderer Gruppen!

Jedenfalls belegen die Ergebnisse der Studie, über die wir gleich reden werden, eher das, wovon ich jedenfalls bislang überzeugt bleibe: Uns verbindet in Deutschland mehr als uns trennt – trotz aller nicht zu leugnenden Konflikte, trotz der Lautstärke, mit der sie ausgetragen werden, trotz der Radikalisierung von Sprache, die ich auch feststelle. Die allermeisten Menschen in unserem Land stehen zur Demokratie des Grundgesetzes. Und die allermeisten wollen auch in Zukunft in einer freien und vor allen Dingen auch vielfältigen Gesellschaft leben.

Und das heißt nicht – Sie alle spüren das und wissen das –, dass es keinen Anlass zur Sorge gäbe. Viele Menschen in unserem Land leben in relativ geschlossenen sozialen Kreisen; die Entfernung der unterschiedlichen Lebenswelten voneinander ist gewachsen, Begegnungen über diese Lebenswelten hinweg sind selten geworden, das "Leben der Anderen" zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass man es kaum oder gar nicht kennt – und damit auch nicht die Bedürfnisse und Nöte von Menschen mit ganz anderen Lebensentwürfen und ganz anderen Grenzen ihrer Möglichkeiten. Viele Menschen haben das Vertrauen in die Institutionen und Repräsentanten der liberalen Demokratie verloren – entweder weil sie sich nicht gesehen fühlen, nicht gehört fühlen, nicht vertreten fühlen; oder weil sie in ihrem Alltag erleben, dass vieles, von der Bahn bis zum Internet, nicht so funktioniert, wie es der Erwartung nach funktionieren sollte; oder vielleicht auch, weil sie den Glauben an den Fortschritt verloren haben, weil sie sich um die Zukunft ihrer Kinder sorgen.

Wenn wir die liberale Demokratie stärken und Menschen zurückgewinnen wollen, dann müssen wir auch – und das werden wir gleich tun – nach den Ursachen für Enttäuschung, Bitterkeit oder Zorn fragen. Und das werden wir gleich zu zweit hier vorne beginnen und dann gemeinsam mit Ihnen hier im Saal fortsetzen.

Wir leben in einer außergewöhnlich schwierigen Zeit. Pandemie, Klimawandel, Wetterkatastrophen, der russische Angriffskrieg auf die Ukraine, Terror und Krieg im Nahen Osten, all das hat unsere Gesellschaft erschüttert, verunsichert die Menschen, beunruhigt jeden. In dieser Zeit sich sowieso schon überlagernder Krisen kommt nun auch die Transformation zur nachhaltigen Gesellschaft mehr und mehr im Alltag an. Sie wird überall sichtbar und spürbar, in der Stadt, in den Industrieregionen, aber eben auch auf dem Land. Wie wir produzieren, unsere Felder bestellen, unsere Energie gewinnen, uns fortbewegen, wie wir bauen, heizen, wohnen, all das verändert sich in hohem Tempo. Und die Menschen erleben Brüche des Gewohnten; dass man umdenken muss, anders handeln muss. Und es tritt immer deutlicher zutage, dass Chancen und Risiken des Wandels ungleich verteilt sind, dass Zumutungen und Belastungen die Menschen ganz unterschiedlich treffen.

Die allermeisten Menschen in unserem Land, über Schichten und Generationen hinweg, wollen mehr Klimaschutz, wollen eine Politik für gesunde Lebensbedingungen. Aber natürlich, und das war zu spüren: Wenn es um konkrete Schritte und Veränderungen geht, dann werden eben aus Konflikten oft Widerstände. Skeptisch sind oft diejenigen, die in ihrem Leben bereits schwierige Umbrüche bewältigen mussten. Wer nach der Wiedervereinigung in Ostdeutschland Verluste und Kränkungen erfahren hat, wer in Industrieregionen wie dem Ruhrgebiet oder der Lausitz jahrzehntelangen Strukturwandel erlebt hat, der weiß, wie viel dabei verloren gehen kann, nicht nur ökonomisch, sondern auch an Wertschätzung und Heimat für die Menschen. Gerade im Osten, wo in einer Generation bereits die dritte große Transformation erlebt wird, sind viele veränderungsmüde.

Es ist nicht immer die Verlusterfahrung, sondern manchmal eben auch die Verlusterwartung, die Verlustbefürchtung, die Menschen gegen Veränderungen aufbringt. Gerade diejenigen, die Arbeit, Wohlstand oder gesellschaftliches Ansehen zu verlieren haben, reagieren manchmal mit Ablehnung und Unverständnis – besonders dann, wenn sie das Gefühl haben, vom Wandel überrollt oder "von oben" verändert zu werden, oder wenn sie den Eindruck gewinnen, man wolle sie über ihr bisher angeblich falsches Leben belehren.

Ich hoffe, dass Herr Mau nicht recht hat mit seiner Prognose, dass Klimaschutz vielleicht der große Klassenkonflikt im Werden ist. Aber es ist richtig: Wenn wir verhindern wollen, dass Teile unserer Gesellschaft weiter auseinanderdriften, wenn wir Menschen zurückgewinnen wollen, die sich abgewandt haben, dann müssen wir die Frage der Gerechtigkeit noch mehr ins Zentrum auch klimaschutzpolitischer Debatten rücken. Wie lassen sich einzelne Schritte in die postfossile Zukunft so ausgestalten, dass Kosten und Lasten, Chancen und Gewinne gerecht verteilt werden? Wie kann es gelingen, dass auch diejenigen, die befürchten, zu den Verlierern des Wandels zu gehören, dass auch die etwas zu gewinnen haben? Wie werden wir zu einem klimaneutralen Land, in dem es gute Arbeit und Wohlstand für möglichst viele gibt? Diese Fragen müssen wir beantworten, und sie müssen jetzt beantwortet werden, nicht in zehn oder zwanzig Jahren, und nicht 2045!

Dazu gehört aber auch, dass wir nicht nur über das reden, was schwierig ist. Sondern wir sollten auch über Erfolgsgeschichten reden, die es in unserem Land in großer Zahl eben auch gibt.

Ich sehe das immer wieder bei meinen Deutschlandreisen, ob unter dem Titel der "Ortszeit" oder der "Werkstatt des Wandels". So unterschiedliche Städte wie Altenburg, Quedlinburg, Neustrelitz, Freiberg, Völklingen, Senftenberg, Eckernförde oder Zwickau sind längst auf ihrem eigenen Weg in die postfossile Zukunft, und sie haben den Umbau oft genutzt, um Altes und Neues auf produktive Weise miteinander zu verbinden. Und ich rede nicht nur von Windkraftanlagen, die auf Flächen stehen, auf denen früher Braunkohle abgebaut wurde.

Ich habe in Zwickau gerade erst bei meinem vergangenen Besuch einen Mann getroffen, der in seinem Berufsleben gleich zwei große Umbrüche mitgemacht hat: Er hat zu DDR-Zeiten als Facharbeiter Trabbis gebaut, sich nach der Wiedervereinigung eine Zukunft bei Volkswagen erarbeitet – und jetzt den Umstieg ins Zeitalter der Elektromobilität gemeistert. Und, was soll ich sagen: Dieser altgediente Autobauer ist fast geplatzt vor Stolz, weil sein Zwickauer Werk heute Vorreiter beim Bau von Elektroautos ist.

In der Lausitz, wo die Menschen jahrelang stolz auf die Braunkohle waren, wird heute nicht nur neue Bahntechnologie entwickelt – an der Brandenburgisch-Technischen Universität Cottbus-Senftenberg und im "Lausitz Science Park" entstehen Innovationen für die Energiewende oder auch für klimaneutralen Luftverkehr, eine Medizin-Fakultät soll nach Cottbus kommen. Und auch in Freiberg in Sachsen, das seit Jahrhunderten von Bergbau und Hüttenindustrie geprägt wurde, ist es gelungen, einen traditionsreichen Standort modern und zukunftsfest zu machen: Der ehemalige VEB Spurenmetalle wurde zum Beispiel in ein Unternehmen umgebaut, das Kristalle für Mikrochips züchtet; andere Firmen dort produzieren Silizium-Wafer oder Zulieferungen für Kommunikationstechnologie.

Damit will ich überhaupt nichts schönreden. Umbau bleibt anstrengend. Er verursacht Spannungen und Enttäuschungen, selbst wenn wir ihn alle für unvermeidbar halten. Davon können uns Bürgermeister und Bürgermeisterinnen hier im Saal – auch aus den Industrierevieren im Osten und Westen – berichten.

Sie alle hier im Saal haben aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln mit den Herausforderungen von Transformation zu tun. Ob Sie aus der Perspektive von Wirtschaft oder Wissenschaft, von Bundespolitik oder Kommunalpolitik, von Sozial- oder Umweltverbänden oder Kirchen kommen – zögern Sie bitte nicht, sich gleich in unsere Debatte einzuschalten, ich bin gespannt auf Ihre Erfahrungen, auf Ihre Ideen und Anregungen.

Zum Einstieg wollte ich hier vorn auf dem Podium eigentlich mit zwei Gästen diskutieren – aber Judith Borowski, Geschäftsführerin beim Uhrenhersteller Nomos, ist leider krank geworden; sie musste uns kurzfristig absagen. Sie hätte viel zu sagen gehabt über eine Manufaktur im Osten, die zu einem global agierenden Unternehmen geworden ist; sie hätte viel zu sagen gehabt, warum der Osten ein guter Standort ist und warum er es hoffentlich bleibt. Wir wünschen von hier aus jedenfalls gute Besserung, und vielleicht schaut sie uns im Livestream sogar zu.

Deshalb beginnen wir unser Forum also mit einem Zwiegespräch auf dem Podium. Meinen Gast habe ich schon erwähnt, man muss ihn, jedenfalls hier in dieser Runde, gar nicht groß vorstellen: Steffen Mau ist Professor für Soziologie an der Humboldt-Universität hier in Berlin und zugleich ein Public Intellectual, der mit seinen Büchern, Aufsätzen, Artikeln und Interviews vor allem im Augenblick, aber auch vorher schon eine breite Öffentlichkeit erreicht. In seinem Buch "Lütten Klein" beleuchtet er Erfahrungen mit der Transformation in Ostdeutschland, und jetzt, in seinem großvolumigen Werk, das mit zwei Mitautoren zustande gekommen ist, "Triggerpunkte", nimmt er die zerklüftete Konfliktlandschaft unserer Gesellschaft in den Blick. Schön, dass Sie hier sind, lieber Herr Mau, auch Ihnen ein herzliches Willkommen!

Dieser Schloss-Saal verwandelt sich nicht von allein in einen solchen Debattenraum. Ich danke der ZEIT STIFTUNG BUCERIUS und Ihnen, lieber Herr Hartung, für die gute Zusammenarbeit. Und jetzt freue ich mich auf unser Gespräch.