Die berühmte Weisheit Man sieht sich im Leben immer zweimal
gilt ausgerechnet für diese überaus traditionsreiche Veranstaltung, die Schaffermahlzeit, eigentlich nicht. Eigentlich – das ist so ein listiges Wort der deutschen Sprache, das immer ein kleines verborgenes Türchen öffnet, einen kleinen Umweg sozusagen.
Vor einigen Jahren, als ich als Bundesaußenminister hier sprechen durfte, hat mich der Schaffer Friedrich Lürßen mit den denkwürdigen Worten verabschiedet: Auf Wiedersehen, wenn auch leider nicht hier! Denn hier werden Sie ja nur einmal eingeladen – es sei denn, Sie werden Präsident!
Was also blieb mir anderes übrig?
Aber mir ist bewusst: Wenn schon eine einmalige Einladung eine sehr besondere Ehre ist, sozusagen ein Angebot, das man nicht ablehnen kann, so ist es die zweite, die eigentlich ja gar nicht vorgesehen ist, erst recht. Darum bin ich gerne hier und danke Ihnen sehr herzlich für die Einladung.
Die Begebenheiten unserer Tage häufen sich Schlag auf Schlag und drängen sich schneller denn je aus allen Himmelsgegenden in das tobende Weltmeer. […] Kaum ist eine große Begebenheit vorüber, so sieht man schon der folgenden entgegen. Der Neugierige wird unersättlich; der denkende Mann hat kaum Muße genug, um zu vergleichen.
Sie erkennen es sofort: Dieser Text ist nicht von heute. Aber er könnte, was die darin enthaltene Zeitdiagnose angeht, geradewegs von heute sein. Er ist aber mehr als zweihundert Jahre alt und stammt aus dem Jahre 1810, geschrieben von einem bayerischen Benediktinerabt, Rupert Kornmann, der eine große Betrachtung über die möglichen Lehren aus der Geschichte für die Gegenwart und Zukunft vorgelegt hat. Und wenn wir heute den Eindruck haben, das, was er 1810 geschrieben hat, sei von geradezu unheimlicher Aktualität, dann würde das ihn, Rupert Kornmann, vermutlich am allerwenigsten wundern.
Er hatte zwar zu seiner Zeit viele außerordentlich aufregende Veränderungen erlebt – die Französische Revolution, die Herrschaft Napoleons über Europa und vor allem die Säkularisation, die ihn mit der Schließung auch seines Klosters ganz unmittelbar betraf –, und trotzdem war er der Auffassung, dass man von all dem nicht allzu überrascht sein sollte: Wenngleich heutzutage außerordentliche Dinge geschehen, so erscheinen sie doch nicht zum ersten Mal auf der Bühne der Welt.
Wenn dieser Abt vor über zweihundert Jahren auf diese Weise den alttestamentlichen Satz Es gibt nichts Neues unter der Sonne
variiert, dann nicht, um seine Leser zu entmutigen. Er ist kein Fatalist, der glaubt, dass man am Lauf der Welt nichts ändern könne. Er ist vielmehr überzeugt davon, dass es immer richtig und nützlich und geboten ist, sich dem Guten zuzuwenden, sich dem Unheil entgegenzustemmen und sich dem Verbessern der Welt zu widmen. Er ist aber auch zutiefst davon überzeugt, dass das alles umso besser gelingt, je besser man über die bisherige Geschichte informiert ist. Deswegen schreibt er: Je schärfer der Blick in die Vergangenheit, desto richtiger sieht er in die Zukunft.
Ich denke, diese Gedanken über die Geschichte und über die hilfreichen Lehren, die man aus ihr ziehen kann, passen gut zur Schaffermahlzeit, einem Fest, das so weit wie kaum ein anderes in Deutschland in die Tiefen der Zeiten zurückreicht.
Wer heute eine solch‘ alte Tradition, die nie abgebrochen ist, weiter aufrechterhält, der weiß sich in einer Linie mit Vorfahren, von denen keiner voraussehen konnte, was nach ihnen kommen würde. Der stellt sich in eine Tradition, die er selber nicht mehr begründen kann, die er selber auch nicht mehr erfinden und neu anfangen könnte, die er aber fortführt – in Verantwortung für das Heute. Er spürt: Hier liegt etwas zugrunde, das man bewahren sollte.
Täusche ich mich, oder leben wir gerade heute in einer Zeit, in der solche alten, manchmal auch sehr seltsam erscheinenden Traditionen wieder besonders und neu geschätzt werden?
Als 1545 die erste Schaffermahlzeit stattfand, hat wahrscheinlich keiner der Beteiligten damit gerechnet, dass fast fünfhundert Jahre später die 480. Schaffermahlzeit stattfinden würde. Wir können uns den zeitlichen Abstand am besten vorstellen, wenn wir bedenken, dass damals die Reformation noch ganz am Anfang stand, dass Luther und Calvin noch lebten, dass Beethoven noch längst nicht seine Sinfonien komponiert hatte, dass niemand an eine Eisenbahn oder an Flugzeuge oder gar an eine Landung auf dem Mond denken konnte. Kein Goethe hatte seinen Werther geschrieben, kein Thomas Mann seine Buddenbrooks, kein Günther Grass seine Blechtrommel. An Narkose bei Operationen war noch nicht zu denken, nicht an Röntgenstrahlen noch Kernspaltung, nicht an Rundfunk noch Fernsehen noch Internet.
Aber auch furchtbare Katastrophen sollten noch kommen, vom Dreißigjährigen Krieg bis zu den zwei Weltkriegen des zwanzigsten Jahrhunderts, die auf ein oder andere Weise noch immer unsere Gegenwart mitbestimmen
Durch all diese Zeiten hindurch hat sich wie durch ein Wunder die Tradition der Schaffermahlzeit hier in Bremen erhalten. Ist das nun gut – oder ist das eher problematisch? Sind Traditionen per se gut oder grundsätzlich zu hinterfragen?
Traditionen sind zunächst einmal eine große Entlastung. Sie lassen uns in entscheidenden, manchmal schwierig zu gestaltenden Augenblicken des Lebens wissen, "wie man es macht". Wie feiert man runde Geburtstage, wie eine Hochzeit, wie verabschiedet man sich von Toten? Wie feiert man ein Fest auf dem Dorf, in der Kirchengemeinde, im Sportverein, im Betrieb so, dass alle wieder spüren: Wir gehören zusammen? Wie verhält man sich gegenüber Fremden, wie begegnet man sich in Konflikten, wie verträgt man sich nach einem Streit? Wie benimmt man sich im Restaurant, in der Bahn, auf dem Campingplatz? Wo beginnt die Grenze des gewollt Privaten, und wie respektiere ich sie? Für all diese oft sehr alltäglichen Situationen geben uns Traditionen Muster vor, die uns helfen, uns im Leben zurechtzufinden.
Nicht alle Traditionen, die uns heute selbstverständlich vorkommen, sind uralt. Manche haben sich erst in den letzten Jahrzehnten entwickelt – und doch kommt es uns manchmal vor, als kämen sie aus unvordenklichen Zeiten. Den Brauch der Sternsinger etwa, nach Weihnachten von Haus zu Haus zu ziehen, der ja auch im evangelisch-reformierten Bremen bekannt sein dürfte, hat es tatsächlich auch in früheren Epochen gegeben. Aber dass die Sternsinger, als die Drei Könige verkleidet, organisiert Gaben für Kinder in Not in aller Welt sammeln und inzwischen jedes Jahr auch beim Bundeskanzler und beim Bundespräsidenten empfangen werden, das ist in dieser Form erst Ende der 1950er Jahre entstanden.
Oder, um an etwas ganz anderes, etwas Leichtes zu erinnern – über Fußball darf man hier ja mit Blick auf den Tabellenstand des SV Werder heute wieder reden: Seit gerade einmal sechzig Jahren gibt es die Fußball-Bundesliga. Wie hat sich in diesen Jahren das verändert, was "traditionell" mit ihr verbunden ist! In der Anfangsphase, in den 1960er und 1970er Jahren, saßen die Fußballfans samstags gebannt vor dem Radio, sie hörten dort die Live-Reportagen oder, während sie, wie es das Klischee will, mit dem Autowaschen beschäftigt waren, die Konferenzschaltungen. Und ab sechs gab es die Sportschau, mit wenigen Ausschnitten aus zwei, drei Spitzenspielen. Die Älteren erinnern sich. Gerade hier in Bremen, wo der SV Werder sich mit dem FC Bayern den Spitzenrang der meisten Jahre der Bundesligazugehörigkeit teilt.
Heute sind die Spiele in aller Regel über drei Tage verteilt. Das kommt den Vereinen finanziell zugute und auch den Zuschauern, die jetzt fast alle Spiele live sehen können, wenn sie wollen und bereit sind, dafür zu bezahlen. Und doch ist etwas verschwunden, ein gewisses Etwas, das uns fehlt, wenn wir von einem Spieltag sprechen. Dagegen und auch gegen andere Erscheinungen des modernen, durchkommerzialisierten Fußballs hat sich unter manchen Fans so etwas wie Gegnerschaft artikuliert.
Aber ich nehme dieses Beispiel nicht, weil ich eigentlich über Fußball sprechen will. Ich rede über Ereignisse, die uns als Gesellschaft miteinander verbinden. Und wichtiger als die Sportschau ist vielleicht die Tagesschau. Die Tagesschau war früher so etwas wie das Lagerfeuer der ganzen Gesellschaft, an dem wir uns abends versammelt haben. Natürlich waren wir vor und nach der Tagesschau nicht alle einer Meinung. Aber das Wichtige war: Wir haben über dieselben Dinge geredet, mit unterschiedlichen Meinungen. Das, was sich verändert hat in der politischen Kommunikation, das ist aus meiner Sicht heute – und damit sind wir noch nicht richtig in der Lage umzugehen –, dass es parallel ganz unterschiedliche Wahrnehmungen der Wirklichkeit gibt und Gräben zwischen den unterschiedlichen Wirklichkeiten. Zwischen denen, die sich ganz konventionell über die Nachrichten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, und denen, die sich nur noch über soziale Medien informieren, werden die Gräben immer tiefer.
Diese Erfahrung sollte uns vielleicht etwas nachdenklich und vorsichtig machen, wenn wir Altes und Liebgewordenes allzu leichtfertig opfern und es zu Gunsten aktueller Interessen transformieren. Und das sollte uns immer fragen lassen: In wessen Interesse soll diese Veränderung, soll dieses Aufgeben von aktiv gelebter Tradition eigentlich geschehen? Und wer und was bleibt dabei zurück? Und wer fühlt sich ungesehen, übersehen, gar aufgegeben? Einfache Antworten darauf gibt es nicht. Der Umgang mit Traditionen ist und bleibt janusköpfig.
Die Abschaffung oder Veränderung von Traditionen, so rational sie auch begründet und so sehr sie von einigen auch willkommen geheißen wird, sie geht fast immer auch einher mit Verlust. Transformationsgeschichte ist, bei allem, was sie an Neuem und Positivem bringt, immer auch Verlust von Gewohntem. Auf der anderen Seite schleppen Traditionen auch oft den Ballast der Jahrhunderte mit sich. Vieles wird einfach weitergetragen, ohne den Sinn, den Grund oder den Ursprung zu hinterfragen. Obwohl auch Traditionen sich überleben können und es oft lange, oft allzu lange dauert, bis sie sich erledigt haben.
Wir können nur froh darüber sein, dass einige jahrhundertealte Traditionen ersatzlos abgeschafft wurden – oft nicht ohne Kampf und große Auseinandersetzungen. Ich denke, und das sind nur wenige Beispiele, an die körperliche Züchtigung von Kindern in der Erziehung, an die jahrhundertelange patriarchale Unterdrückung der Frau oder die Verweigerung von Gleichberechtigung der Frau gegenüber Männern. Oder die strafrechtliche Verfolgung von Homosexualität, an die Diskriminierung anderer Glaubensüberzeugungen – und Ihnen allen werden noch andere Beispiele für unselige Traditionen einfallen.
Und dann, das ist mir heute wichtig, gibt es noch vergessene oder verdrängte Traditionen, Traditionen, die wir zu unserem Schaden vergessen hatten und an die es lohnt, wieder neu anzuknüpfen.
Dazu gilt, was ein Redner vor vierundfünfzig Jahren hier an meiner Stelle ausgesprochen hat: Traditionen sind […] keineswegs das Privileg konservativer Kräfte. Noch weniger gehören sie in die alleinige Erbpacht von Reaktionären, obgleich diese am lautstärksten von ihnen reden.
Das war Bundespräsident Gustav Heinemann. Er war erst ein gutes halbes Jahr im Amt, als er 1970 die Schaffermahlzeit hier in Bremen nutzte, um eine Rede auf vergessene, verdrängte demokratische und republikanische Traditionen in Deutschland zu halten. Damit wies er – seinerzeit überraschend und auch provokativ – auf einen damals so gut wie vergessenen Strang deutscher Geschichte hin.
Wir sollten beherzigen, was der am Anfang zitierte Abt Rupert Kornmann gesagt hat: Die Trümmer der Vorzeit sind die Warnungstafeln der Gegenwart und Zukunft.
Ganz in diesem Sinne wissen wir Deutsche: Was Antisemitismus und Rassenhass, was Nationalismus und Diktatur an millionenfachem Unrecht, Tod und Zerstörung hinterlassen haben, das dürfen und das werden wir niemals vergessen.
Aber zu unserer Geschichte, zu unseren Traditionen gehört auch das jahrhundertealte Streben nach Gleichheit und Selbstbestimmung. Wir können stolz sein auf diese Traditionen von Freiheit und Demokratie. Und wir dürfen sie uns nicht nehmen lassen von denen, die Verantwortung in der Freiheit nicht kennen und in Wahrheit Demokratie verachten. Wir erinnern uns nicht nur der Erinnerung wegen! Die Erinnerung ist gleichzeitig eine Aufforderung, die freiheitliche Demokratie so mutig und so entschieden zu verteidigen, wie die Revolutionäre und Republikaner 1848, 1918, 1989 mutig und entschieden für sie gestritten haben.
Und in Deutschland enthält unsere Geschichte auch die Erfahrung, dass Demokratie wieder verloren werden kann. Demokratie ist nicht irgendwo vom Himmel gefallen und sie ist nicht einfach auf Ewigkeit garantiert. Freiheit, Demokratie, Recht haben nur dann Bestand, wenn sie der großen Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger nicht nur Sache des Verstandes, sondern auch des Herzens sind, Sache der Leidenschaft und des entschiedenen Einsatzes: eine unbedingte Verpflichtung.
Die Demokratie, unsere freiheitlich-rechtsstaatliche Ordnung werden zurzeit wie noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik von vielen in Frage gestellt. Leichtfertig geben viele ausgerechnet jenen Kräften recht und auch Stimme, die die Ordnung des Grundgesetzes zerstören wollen; diese Ordnung des Grundgesetzes, mit der wir seit nunmehr 75 Jahren eine in der deutschen Geschichte beispiellose Zeit der Freiheit und des Rechts – und damit auch des Wohlstands und der gerechten Chancen für alle erlebt haben.
Ich weiß, wir alle wissen: Es gibt viel Unmut im Land. Viel Angst vor der Zukunft, viel Resignation und Frust. So viel verändert sich ja. Vieles, was gestern noch galt, scheint heute oder morgen nicht mehr zu gelten oder gelten zu sollen. Viele fühlen sich überfordert dabei, mitzuhalten in dem Prozess der Veränderung, der bis hinein ins persönliche Leben geht.
Wir müssen manches aufgeben, ja; es wird sich tatsächlich vieles verändern müssen. Die Krisen der Gegenwart, die Kriege, der Klimawandel, all diese Herausforderungen werden Veränderungen erzwingen, auch wenn wir es nicht wollten. Also sollten wir diese Veränderungen vorausschauend und möglichst intelligent, freiwillig und mutig selber angehen – und sie so gestalten, dass diese Veränderungen möglichst vielen zu Gute kommen.
Nur eines sollten, ja dürfen wir uns nicht nehmen lassen, weil es die einzige Möglichkeit bietet, dass wir gerecht und menschlich, friedlich und frei diese Herausforderungen bestehen: unser demokratisches, unser freies und unser auf Gerechtigkeit und Recht basierendes Gemeinwesen.
Gemeinwesen: in diesem schönen alten Wort, das leider ein bisschen aus der Mode gekommen ist, schwingt noch etwas von dem Bewusstsein mit, dass der Staat nicht Gegner oder Feind der Gesellschaft ist, sondern Gegenstand gemeinsamer Verantwortung.
Es gehört zur Demokratie, dass alle gehört werden müssen, dass jede und jeder sich einbringen kann und soll. Es muss innerhalb der Demokratie gestritten werden können, heftig gestritten. Es muss Auseinandersetzungen geben, profilierten Streit, heftige Debatten, Konflikte. Interessengegensätze müssen selbstverständlich ausgetragen werden. Das alles haben wir in den 75 Jahren, in denen wir uns unserem Grundgesetz anvertraut haben, schon erlebt. Solcher politische Streit, angefangen von der Westbindung der Bundesrepublik über die Frage der Wiederbewaffnung, die Ostverträge, die Auslandseinsätze der Bundeswehr, die Agenda 2010, was immer Sie nehmen: diese Auseinandersetzungen waren hart, es waren harte Konflikte – aber die Konflikte waren nicht das Problem. Sie haben uns am Ende sogar genützt und nicht geschadet.
Wenn wir also sagen, die demokratische Mitte, alle, für die unsere Traditionen von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat wertvoll und unverzichtbar sind, all jene müssen zusammenstehen gegen die Gegner der Demokratie, dann erträumen wir uns nicht eine Gesellschaft, in der der Konsens regiert oder in der alle einer Meinung sind.
Wir sagen vielmehr sehr nüchtern und ohne Illusionen: Wir wollen nicht den Konsens, aber wir brauchen den Kompromiss nach dem Streit, die Einigung nach der harten Auseinandersetzung. Wir brauchen, kurz gesagt, eine streitbare Demokratie, die sich wehrhaft zeigt – und zwar gegen die richtigen Feinde. Deshalb ist es gut, dass die breite demokratische Mitte erwacht ist – in großen und in kleinen Städten. Ihre Botschaft ist eindeutig: Wir haben nichts zu tun mit denen, die die Demokratie verachten, die von einem Austritt aus der Europäischen Union fantasieren oder gar Ausbürgerungen das Wort reden. Diese Demonstrationen sind eine große und klare Absage an jede Form des Extremismus. Und ich verstehe sie auch als eine Aufforderung an alle Parteien des demokratischen Spektrums, Signale der Zusammenarbeit zu setzen. Unterschiedlich im Weg, aber einig, wenn es um das gemeinsame Ganze – die Demokratie selbst – geht, das ist die Erwartung, die die Menschen auf den Straßen haben.
Man sieht uns sicher sofort an, dass wir hier heute keine Ansammlung von Freiheitskämpfern sind: Mit Frack und weißer Fliege oder im Abendkleid hat man in der Geschichte tatsächlich selten Freiheitskämpfer gesehen. Aber Sie und ich wissen: Die bedrohte Demokratie geht uns alle etwas an – Sie, die Handel treiben, die weltweit vernetzt sind, nicht nur durch die Seefahrt; die Produkte herstellen und verkaufen möchten; die in ihren Geschäften auch davon leben, dass es gerecht zugeht und dass Freiheit herrscht. Ja, auch die Freiheit des Handels, aber nicht nur die Freiheit des Handels.
Oder, wie es sinngemäß der Präsident des BDI am vergangenen Montag in Schloss Bellevue so kurz und knackig formuliert hat: Ich möchte in keiner Gesellschaft leben, die sich verabschiedet von der Welt, die sich in Nabelschau ergeht, die Antworten auf Fragen der Zukunft immer nur im Zurück in die Vergangenheit sucht; ich möchte in keiner Gesellschaft leben, die Menschen, die mit uns leben und arbeiten, ausgrenzt oder gar ausbürgert.
In einer solchen Gesellschaft, sagt Siegfried Russwurm, möchte ich nicht leben. Und ich auch nicht!
Hier in Bremen, in dieser Stadt des Welthandels wissen Sie alle: Nationalistische Abschottung, das Gerede vom Austritt aus der Europäischen Union, Hass auf Menschen mit Migrationsgeschichte – diese Ideologie der Extremisten ist Gift für unser Zusammenleben, ist Gift für unsere Volkswirtschaft, ist Gift für Arbeit und Wohlstand. Und das ist die Gefahr für unser Land und auch für diese Stadt.
Nichts kommt von selbst, und nur wenig ist von Dauer
, hat Willy Brandt einmal gesagt. Das heißt: Wir müssen arbeiten für unser freies Gemeinwesen, wir alle müssen uns engagieren und bereit sein, Verantwortung zu übernehmen. Nur so kann das, was an unserem Staat und unserer Gesellschaft gut ist, erhalten, und das, was noch nicht gut ist, verändert und verbessert werden.
Wir haben das Geschenk einer Verfassung, die in diesem Jahr 75 Jahre alt wird. Wir haben das Glück der Deutschen Einheit, mit der zusammenwachsen konnte, was zusammengehört. Und wir haben die Erfahrung, Krisen überstanden und nach Krisen immer wieder zu neuer Stärke gefunden zu haben. Wir leben in einer Demokratie, in der vieles gelungen ist. Wer, wenn nicht wir, sollte den Mut und die Zuversicht haben für die Zukunft?
Aber die Zukunft kommt nicht von selbst, die bessere erst recht nicht: Es kommt auf jede und jeden von uns an.