75 Jahre alt wird unsere Republik in diesem Jahr. Viele Jahre hat es gedauert, bis in unserem Land wieder Synagogen gebaut wurden! Wer ein Haus baut, will bleiben
, hat Salomon Korn damals bei der Einweihung des jüdischen Gemeindezentrums in Frankfurt gesagt. Das bedeutet Vertrauen haben – Vertrauen, das wir rechtfertigen müssen, heute und in Zukunft. Es berührt mich sehr und es bewegt mich, heute bei diesem Festakt hier in Potsdam dabei sein zu können.
Heute feiern wir die Einweihung des neuen Synagogenzentrums, dieses wunderbaren Gebäudes, das jetzt seine Pforten öffnet und das ein Geschenk für uns alle ist. Heute beginnt hier im Herzen Potsdams etwas Neues – und es schließt sich zugleich ein Kreis.
Jüdisches Leben und seine reiche Kultur reichen auch hier in Potsdam und Brandenburg Jahrhunderte zurück in der Geschichte – daran haben Sie im Rahmen des Festjahres "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" auch hier in Potsdam oft erinnert. Wie lebendig und vielfältig jüdisches Leben heute hier in Potsdam wieder ist, davon zeugen die jüdischen Gemeinden und ihre Mitglieder; davon zeugen auch international renommierte Forschungseinrichtungen wie das Moses-Mendelssohn-Zentrum, Institutionen wie das Zacharias-Frankel-College und das Abraham-Geiger-Kolleg – an beiden werden wieder Rabbiner ausgebildet. Eines aber hat bisher gefehlt: ein zentraler Ort des Gebets, so wie es einst die Alte Synagoge war, ehe sie 1938 erst von den Nationalsozialisten geschändet und dann im Krieg zerstört wurde. Ein Ort, an dem sich Jüdinnen und Juden, die heute wieder in Potsdam und Umgebung leben, begegnen können, zum Gebet, zum Innehalten, aber auch zum Austausch, zum Dialog, zum Zuhören, zum Lernen. Mein Haus wird ein Bethaus heißen für alle Völker
, heißt es beim Propheten Jesaja – wir werden den Vers später als Gesang hören –, und ich finde, das passt ganz wunderbar zu diesem Ort.
Ich freue mich sehr, dass es ein solches Haus nun wieder gibt in Potsdam, da, wo es hingehört, genau hier, im Herzen der Stadt. Meinen herzlichen Glückwunsch zur Einweihung des Synagogenzentrums in Potsdam! Mein großer Dank geht an Sie, lieber Abraham Lehrer, und alle, die sich dafür eingesetzt und dieses Projekt – trotz mancher Widrigkeiten – unterstützt haben. Und er geht ganz besonders auch an Sie, sehr geehrter Herr Ministerpräsident Woidke, und das Land Brandenburg!
Mein Haus wird ein Bethaus heißen für alle Völker
: Darin liegt ein Versprechen. Ein offenes Haus zu sein, in dem sich nicht nur Jüdinnen und Juden mit ganz unterschiedlicher Herkunft im Glauben versammeln. Sondern in dem auch Begegnungen möglich sind von Jung und Alt, von Mitgliedern Ihrer Gemeinden und denen anderer Glaubensgemeinschaften und mit der Potsdamer Stadtgesellschaft. Solche Orte, in denen das Gespräch, der Dialog, der Austausch, ja, auch das Austragen von Meinungsunterschieden möglich ist, und zwar mit Anstand und Respekt, solche Räume fehlen auch in unserer liberalen Demokratie zunehmend – dabei brauchen wir in einer Gesellschaft der Verschiedenen, die wir sind, den Austausch, die Verständigung der Vielen so dringend.
Ich weiß, dass Sie alle, lieber Herr Kutikow, lieber Herr Joffe, lieber Herr Kogan, lieber Herr Bravo und die Mitglieder Ihrer Gemeinden, dass Sie, liebe Mitglieder der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland, diesen Ort genau so verstehen, und möchte Sie dabei ermutigen: Unsere Demokratie lebt von diesem Geist der Offenheit und des Dialogs – gerade in einer Zeit, in der die Demokratie stärker angefochten wird denn je. Besinnen wir uns darauf, was unser Zusammenleben in Freiheit ausmacht: die Werte der Aufklärung – und dazu hat die jüdische Aufklärung so entscheidend beigetragen. Werte, ohne die eine Demokratie nicht funktionieren kann: die Achtung der Würde jedes Einzelnen, Respekt voreinander, Toleranz und das Vertrauen auf die Kraft der Vernunft.
Wenn ich heute hier spreche, dann muss ich auch über den dunklen Schatten sprechen, der heute wieder über dem jüdischen Leben in unserem Land liegt. Welch großes Glück ist es, dass es wieder aufgeblüht ist nach dem Menschheitsverbrechen der Shoah – so wie hier in Potsdam. Ich bin, wir alle sind dafür sehr dankbar. Aber wir müssen erleben, Sie müssen erleben, dass in Europa wieder ein blutiger Angriffskrieg herrscht. Und dieser völkerrechtswidrige Krieg Russlands gegen die Ukraine hat auch Folgen für das Zusammenleben in unserem Land – Sie alle spüren das in Ihren Gemeinden. Vor allem aber müssen wir, müssen Sie erleben, in welchem Ausmaß antisemitischer Hass, antisemitische Angriffe und Gewalt in unserem Land seit dem 7. Oktober wieder zunehmen: ausgerechnet in unserem Land. Mich schmerzt das.
Es schmerzt mich, wenn Jüdinnen und Juden sich heute in unserem Land unsicherer fühlen als vor jenem 7. Oktober, dass jüdische Schulen, Kindergärten, Synagogen noch stärker geschützt werden müssen. Mich schmerzt es, wenn mir Jüdinnen und Juden erzählen oder schreiben, dass sie das Gefühl haben, gar keinen Ort mehr auf der Welt zu haben, wo sie in Sicherheit sind oder sich zu Hause fühlen können. Mich schmerzt es, dass jüdische Studentinnen und Studenten es nicht mehr wagen, ihre Vorlesungen zu besuchen. Dass junge Männer lieber keine Kippa mehr in der Öffentlichkeit tragen, manche sogar ihre Namen ändern.
Alles das erleben Jüdinnen und Juden überall in Europa. Überall in Europa haben Jüdinnen und Juden wieder Angst. Angst vor Hass, vor Gewalt, vor Ausschreitungen. Weil sie Juden sind. Und das ist unerträglich.
Mein Eindruck ist, dass eines zunehmend mindestens in den Hintergrund rückt, wenn nicht vergessen wird: Es war der brutale Terroranschlag der Hamas, der Israel tief im Innersten getroffen und verwundet hat. Es war dieser Terror, dieser Hass, der den neuen Krieg im Nahen Osten ausgelöst hat. Es ist die Hamas, die die palästinensische Bevölkerung, die verzweifelten Menschen in Gaza als menschliche Schutzschilde missbraucht.
Gegen diesen Terror der Hamas wehrt sich Israel. Ich war wenige Tage nach dem 7. Oktober in Israel, im zerstörten Kibbuz Be'eri, und habe gesagt: Unsere Solidarität gilt einem Israel, das Opfer ist. Aber sie muss auch gelten gegenüber einem Israel, das sich wehrt.
Gleichwohl: Wir dürfen unsere Augen nicht verschließen vor dem unermesslichen Leid, das dieser Krieg für Frauen, Männer und Kinder in Gaza bringt, wie viele Zivilisten ihm bereits zum Opfer gefallen sind. Und deshalb unterstützen wir die hungernden Menschen in Gaza und leisten humanitäre Hilfe. Wir alle hoffen auf ein Ende der Kämpfe. Wir alle hoffen, dass es eine Verständigung über die Vorschläge des amerikanischen Präsidenten für die Freilassung der Geiseln und eine Waffenruhe gibt.
Der Krieg im Nahen Osten, die vielen Opfer bewegen auch die Menschen in unserem Land. Mich sorgt es, wie sehr dieser Konflikt auch das Zusammenleben in Deutschland belastet. Selbstverständlich muss es auch in unserem Land möglich sein, den Schmerz, die Trauer über die palästinensischen Opfer, die Angst um Angehörige und Freunde zu zeigen, auch im öffentlichen Raum. Das garantiert unser Grundgesetz, das garantiert unsere Demokratie.
Aber die Grenze ist dort überschritten, wo die Trauer, der Schmerz, die Verzweiflung zu Hetze wird, zu blankem Hass, im schlimmsten Fall zu Gewalt gegen Jüdinnen und Juden. Und wo Kritik an der israelischen Regierung umkippt in die Forderung, den Staat Israel auszulöschen, da ist jede Grenze überschritten. Das dürfen wir nicht dulden. Niemals dulden wir Hass und Gewalt gegen Jüdinnen und Juden in unserem Land.
Das Judentum in Europa, die Sicherheit und Freiheit jüdischen Lebens ist heute erneut ernsthaft bedroht. Das hat erst kürzlich der große jüdische Gelehrte und überzeugte Europäer Pinchas Goldschmidt bei der Verleihung des Karlspreises an ihn gesagt. Er musste Russland, er musste seine Gemeinde dort zurücklassen, die schwerste Entscheidung seines Lebens, wie er selbst gesagt hat. Jüdisches Leben ist in Europa erneut ernsthaft bedroht – welche Verzweiflung spricht aus diesem Satz. Pinchas Goldschmidt hat ihn aber mit einer Bitte, besser gesagt: mit einer Aufforderung an uns alle verbunden: Helfen Sie uns, helfen Sie den jüdischen Gemeinschaften. Bekämpfen Sie Antisemitismus in all seinen Formen.
Und: Rabbiner Goldschmidt selbst gibt die Hoffnung nicht auf, und ich darf ihn zitieren: Ich bin zu alt, um an Märchen zu glauben. Aber ich bin zu jung, um aufzugeben. Ich resigniere nicht.
Dass er nicht aufgibt, dass er überzeugt ist, dass wir diesen Kampf gemeinsam bestehen werden, das bewundere ich nicht nur persönlich. Mit dieser Haltung, mit dieser Entschlossenheit macht er uns allen Mut. Mehr noch. Er erinnert uns an unsere Aufgabe.
Ich möchte Rabbiner Goldschmidt, ich möchte Ihnen hier in Potsdam und allen Jüdinnen und Juden in Deutschland heute antworten: Ich nehme diese Aufforderung sehr ernst. Ich bin auch entschlossen. Entschlossen, nicht zu ruhen, damit wir alles tun, um jüdisches Leben zu schützen und jede Form von Antisemitismus zu bekämpfen.
Das Jüdische ist nicht das Andere. Jüdisches Leben ist ein Teil von uns! Nur, wenn Jüdinnen und Juden sich in Deutschland ganz zu Hause fühlen, nur dann ist dieses Land ganz bei sich.
Wenn wir in diesem Jahr den 75. Geburtstag unseres Grundgesetzes feiern, dann muss gerade uns in Deutschland klar sein: Antisemitismus ist immer auch ein Seismograph dafür, wie es um unsere Demokratie steht. Wie sehr dieser Seismograph ausschlägt seit dem 7. Oktober, das muss uns alle beunruhigen. Je offener und aggressiver sich Antisemitismus äußert, umso mehr geraten auch die Werte, auf denen unsere Demokratie ruht, in Gefahr. Das große Versprechen, mehr noch, der kategorische Imperativ unseres Grundgesetzes ist und bleibt: Nie wieder. Es ist eine Verantwortung, es ist ein Auftrag, der jeden meint. Es ist eine Verpflichtung für alle, die hier leben und leben wollen, ganz gleich, ob sie seit Generationen hier leben oder später hinzugekommen sind.
Ich möchte Ihnen heute versichern: Deutschland bleibt ein Zuhause für Jüdinnen und Juden. Dafür stehe ich persönlich, und dafür tritt die Mehrheit aller Deutschen ein. Und ein Zuhause ist es auch für Christen, Muslime und Mitglieder anderer Glaubensgemeinschaften – und für Menschen, die nicht glauben.
Wichtig ist, dass wir offen bleiben, dass wir neugierig bleiben aufeinander, dass wir das Gespräch suchen und bei allen Gegensätzen die Meinung des anderen respektieren. Gerade dieser Geist der Offenheit, des Dialogs, des intellektuellen Disputs, der Gelehrsamkeit ist doch das große Geschenk des Judentums an uns!
Möge dieses Haus im Herzen Potsdams für Jüdinnen und Juden ein Ort des Gebets und der Begegnung werden – und ein Haus für alle Völker.
Ich danke Ihnen und wünsche Ihnen von Herzen be-Hatzlacha und Masel toverze!