Von den vielen Klischees über Deutschland – unser Sinn für Humor, unsere Spontaneität, unsere unwiderstehliche Lebensfreude – trifft nur eines wirklich zu: Wir sind gut in Buchhaltung.
Also: Vor vierundvierzigeinhalb Jahren, als der junge Senator Joseph Biden nach Bonn kam, schrieb ein deutscher Beamter ein Protokoll – ein recht ausführliches, sollte ich sagen – über den Besuch jenes Senators.
Und da wir Deutsche sind, können Sie sich vorstellen, haben wir dieses Protokoll natürlich aufbewahrt: An der Bundesrepublik Deutschland ist er stark interessiert
, so schließt das Protokoll, und fügt hinzu, dem Senator stehe eine bedeutende politische Zukunft
bevor.
Bedeutend? Eine bemerkenswerte Untertreibung. Heute sind Sie der 46. Präsident der Vereinigten Staaten, und unter Ihrer Führung ist die transatlantische Allianz stärker und unsere Partnerschaft enger als je zuvor.
Herr Präsident, Sie sind an der Bundesrepublik Deutschland stark interessiert
– das wissen wir seit fast einem halben Jahrhundert. Jetzt ist es an der Zeit, dass Sie erfahren, dass Deutschland wiederum Ihnen zutiefst dankbar ist. Lassen Sie mich im Namen meines Landes sagen: Danke, Herr Präsident!
Für Deutschland war, ist und bleibt die Freundschaft zu den Vereinigten Staaten existenziell wichtig – existenziell sowohl für unsere Sicherheit als auch für unsere Demokratie.
Und dennoch gab und gibt es in dieser Freundschaft Zeiten der Nähe wie der Distanz, Zeiten der Übereinstimmung und Zeiten mit Misstönen – und es wird sie immer geben. Es ist erst wenige Jahre her, da war die Distanz so groß geworden, dass wir einander beinahe verloren hätten. Doch durch alle Höhen und Tiefen hinweg gibt es Menschen, die fest und unbeirrt zur transatlantischen Bindung stehen – komme was wolle!
Allen voran Sie, Herr Präsident! Sie stehen zu uns, weil Sie wissen: Was uns verbindet, geht viel tiefer als die Nachrichten des Tages. Was uns verbindet, sind Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Was uns verbindet, ist die Überzeugung, dass die liberale Demokratie in dieser unruhigen Welt nur dann eine Zukunft hat, wenn wir sie gemeinsam sichern. Und: Was uns verbindet, sind die Lehren der Vergangenheit – unantastbare Lehren, die Sie so eindringlich in Ihrem Brief an unsere verehrte Margot Friedländer beschrieben haben.
Als Sie zum Präsidenten gewählt wurden, haben Sie Europas Hoffnung in die transatlantische Allianz buchstäblich über Nacht wiederhergestellt. Und dann, nur ein Jahr später, kam Putins Krieg. Mit seiner Invasion hat Putin nicht nur ein Land überfallen. Er hat die Prinzipien des Friedens in ganz Europa angegriffen. Putin dachte, wir wären schwach. Putin dachte, wir ließen uns spalten. Doch das Gegenteil war der Fall: Die NATO war stärker und einiger als je zuvor, und das verdanken wir in besonderer Weise Ihrer Führung! Herr Präsident: Dass wir – in diesem gefährlichsten Moment der europäischen Geschichte seit Ende des Kalten Krieges – Sie und Ihre Regierung an unserer Seite haben, ist nichts weniger als ein historischer Glücksfall!
Uns hier in Europa haben die vergangenen beiden Jahre einmal mehr gezeigt: Amerika ist die “unverzichtbare Nation”. Aber sie haben auch noch etwas anderes gezeigt: Die NATO ist das unverzichtbare Bündnis. Und so hoffe ich, dass die Europäerinnen und Europäer sich in den kommenden Monaten erinnern: Amerika ist für uns unverzichtbar. Ich hoffe aber auch, dass die Amerikanerinnen und Amerikaner sich erinnern: Eure Verbündeten sind für Euch unverzichtbar. Wir sind mehr als nur "andere Länder“ – wir sind Partner, wir sind Freunde.
Die Wahl am 5. November haben allein die Amerikanerinnen und Amerikaner zu treffen. Aber wir als Europäerinnen und Europäer haben auch eine Wahl: die Wahl, unseren Teil zu tun! Standhaft zu sein in unserer Unterstützung der Ukraine; zu investieren in unsere gemeinsame Sicherheit und unsere Zukunft; und genau, wie Sie es tun: zur transatlantischen Allianz zu stehen – komme was wolle!
Herr Präsident, als ich Sie vor einem Jahr im Oval Office besucht habe – am 6. Oktober, nur wenige Stunden vor dem brutalen Angriff der Hamas auf Israel – haben wir über den Nahen und Mittleren Osten gesprochen, über die Ukraine und Russland. Am Ende unseres Gesprächs, ich werde das nie vergessen, gingen Sie zu Ihrem Schreibtisch und gaben mir eine Ihrer Reden – aber keine über Außenpolitik, sondern über das Thema, das Ihnen am meisten am Herzen liegt und das Ihnen am meisten Sorgen macht: unsere Demokratie.
Demokratien sterben nicht immer im Feuer der Gewehre
, sagen Sie in dieser Rede. Demokratien können sterben, wenn Menschen schweigen. Wenn sie [...] bereit sind, das Wertvollste aufzugeben, weil sie frustriert sind, erschöpft oder entfremdet.
Ihre Worte, Herr Präsident, hallen weit hinein in unseren Teil der Welt, und sie wiegen umso schwerer, wenn sie vom Mann an der Spitze der ältesten und krisenerprobtesten Demokratie der Welt kommen. Von ganzem Herzen sage ich Ihnen: In dieser Zeit, in der die Demokratie in der gesamten westlichen Welt unter Druck steht, sind Sie, Herr Präsident, ein Leuchtfeuer der Demokratie. Ein Leuchtfeuer nicht allein durch das, was Sie getan haben, sondern durch das, was Sie sind! Durch das Beispiel Ihrer Demut, Ihrer tiefen Verbundenheit mit dem Leben und Hoffen der hart arbeitenden Menschen und – wenn Sie das altmodische Wort gestatten – durch Ihren Anstand.
Anstand ist vermutlich die Eigenschaft, die am stärksten vom Untergang bedroht ist. Ihr Anstand jedoch ist ein Licht, das weithin strahlt. Die Herzen meiner Landsleute hat es ganz gewiss erreicht. Als Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika führen Sie die mächtigste Armee und die größte Volkswirtschaft der Welt. Aber vielleicht schenken Sie der Demokratie den größten Dienst, und den Menschen die meiste Zuversicht, indem Sie zeigen, dass selbst der mächtigste Mann der Welt ein zutiefst anständiger Mensch ist.
Herr Präsident, wir alle wissen, dass Sie die irischen Dichter lieben und gut kennen. Ich habe Sie einmal Seamus Heaney auswendig zitieren hören, und so gestatten Sie mir hoffentlich, mit einem Zitat aus dessen „Aus der Republik des Gewissens“ zu schließen: Bei Amtseinführung müssen Volksvertreter schwören, das ungeschriebene Gesetz zu wahren, und weinen: zur Sühne ihrer Amtsanmaßung.
Amtsanmaßung
: Herr Präsident, es scheint, dass Sie seit jeher ein Gespür haben für die unausweichliche Anmaßung, die damit einhergeht, ein öffentliches Amt zu bekleiden, auch das allerhöchste Amt. In einer Gesellschaft von Gleichen über andere gestellt zu sein. Sie haben diese Anmaßung verwandelt in ein tiefes Verantwortungsgefühl. Und diese Verantwortung hat Sie geleitet über Ihren ganzen Weg bis hin zu der Entscheidung, in der hehren Tradition großer Amerikaner seit Washington, den Weg freizumachen für den stets sich wandelnden, niemals vorbestimmten Lauf der Demokratie.
Herr Präsident, anlässlich Ihres historischen Besuches in der Bundesrepublik Deutschland würdigt mein Land Ihre jahrzehntelange Leidenschaft für das transatlantische Bündnis, Ihre herausragende politische Führung in diesem gefährlichen Moment Europas und Ihr bleibendes moralisches Leitbild von Dienst am Gemeinwohl, Aufrichtigkeit und Anstand.
Jetzt ist es mir eine große Ehre, Ihnen die Sonderstufe des Großkreuzes des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland zu verleihen. Und dafür, Herr Präsident – darf ich sagen, lieber Joe: herzlichen Glückwunsch!