Abendessen für die Mitglieder des Wissenschaftsrates

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 23. Oktober 2024

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 23. Oktober bei einem Abendessen für die Mitglieder des Wissenschaftsrates in Schloss Bellevue eine Ansprache gehalten: "Mit Ihren Stellungnahmen und Ideen stärken und verbessern Sie die wissenschaftlichen Institutionen in unserem Land, deren Erkenntnisse und Innovationen wir so dringend brauchen, wenn wir die Zukunft unseres Landes gewinnen wollen."

Bundespräsident Steinmeier steht an einem Redepult und spricht

Alles Leben ist Problemlösen – wer kennt ihn nicht, diesen viel zitierten Satz von Karl Popper. Eigentlich ist er ja nichts Geringeres als die Einsicht, dass unser Wissen zwar stetig wächst, dass aber jede Erkenntnis, die wir gewinnen, immer wieder neue Fragen aufwirft. In den Worten Poppers: Mit jedem Schritt, den wir vorwärts machen, mit jedem Problem, das wir lösen, entdecken wir nicht nur neue und ungelöste Probleme, sondern wir entdecken auch, dass dort, wo wir auf festem und sicherem Boden zu stehen glaubten, in Wahrheit alles unsicher und im Schwanken begriffen ist. Ihnen müsste ich das gar nicht vortragen, Sie erleben das jeden Tag. Aber im ersten Jahr der Pandemie haben das nicht nur Wissenschaftler in unserem Land verstehen müssen.

Für Popper, Sie alle wissen es, war diese Einsicht in die Unsicherheit und Vorläufigkeit von geistigen, gesellschaftlichen und politischen Errungenschaften kein Grund zu Pessimismus oder Resignation. Ganz im Gegenteil! Diese Einsicht spornt uns an, das war seine Auffassung, immer wieder kritisch zu fragen und zu forschen, um uns nach und nach der Wahrheit weiter anzunähern. Und sie spornt uns an, immer wieder pragmatisch, vernünftig, vor allem verantwortungsbewusst zu handeln.

Freie Wissenschaft und demokratische Politik, so unterschiedlichen Logiken sie auch folgen, haben eines gemeinsam: Sie stehen beide für die nie endgültig abgeschlossene Suche, für das vorläufige Lösen von Problemen, für einen fortwährenden Lernprozess. Und wenn wir uns in unserer offenen Gesellschaft darauf einlassen, in diesem Sinn zu fragen und zu handeln, nicht einem normativen Szientismus anheimzufallen noch Wissenschaft ins Schlepptau politischer Strategien zu nehmen, wenn wir diese beiden Axiome berücksichtigen, dann können wir nicht nur Zukunft gestalten, sondern dann haben wir auch allen Grund zu einem mindestens vorsichtigem Optimismus, allen Enttäuschungen und Rückschlägen zum Trotz, die wir ja auch erleben.

Ich sage das auch deshalb, weil erst gestern eine neue Vergleichsstudie des Europäischen Patentamtes vorgestellt wurde, die zeigt, wie groß die Innovationsfähigkeit an deutschen Universitäten nach wie vor ist: Jedes vierte akademische Patent in Europa wird demnach von einer deutschen Hochschule angemeldet. Und das heißt: Deutschland führt die europäische Patent-Rangliste der Universitäten an. Das, finde ich, ist schon ein Grund zur Zuversicht – allerdings nicht nur, sondern natürlich ist das auch ein Auftrag, gute Bedingungen für unabhängige Wissenschaft zu erhalten.

In dieser Zeit der Kriege, Krisen und Umbrüche, in der freie Wissenschaft, liberale Demokratie und offene Gesellschaft von innen wie von außen angegriffen werden, in dieser Zeit sollten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, politisch Verantwortliche, Demokratinnen und Demokraten alles daransetzen, das Verhältnis von Wissenschaft und Politik, ihre jeweilige Eigengesetzlichkeit – also den Prozess unabhängiger Wissenschaft ebenso wie den Prozess demokratischer Entscheidungsfindung – wieder mehr Menschen und vor allem mehr jungen Menschen nahezubringen. Nur so, glaube ich, kann es uns gelingen, das Vertrauen in die freie Wissenschaft und gleichzeitig in die liberale Demokratie wieder zu stärken.

Der Wissenschaftsrat steht mit seiner Arbeit für kritisch-rationales Denken, genauer gesagt: für kritisch-rationales Denken, das in Handlungsempfehlungen mündet. Mit Ihren Stellungnahmen und Ideen stärken und verbessern Sie die wissenschaftlichen Institutionen in unserem Land, deren Erkenntnisse und Innovationen wir so dringend brauchen, wenn wir die Zukunft unseres Landes gewinnen wollen. Ich finde, liebe Gäste, gerade in dieser Zeit kann man Ihr gemeinsames Engagement gar nicht genug würdigen!

Denn Sie alle, liebe Gäste, helfen mit, dass unser Land zukunftsfähig bleibt. In Ihrer Rolle als "Wissenschafts-TÜV", wenn ich das so sagen darf, überprüfen und sichern Sie die Qualität von Hochschulen und Forschungseinrichtungen. Als profunder Berater der Wissenschaftspolitik sorgen Sie für ein leistungsstarkes Wissenschaftssystem. Und als Ideenschmiede geben Sie immer wieder wichtige Impulse für konkrete Veränderungen, zuletzt zum Beispiel für eine zeitgemäße Lehrerbildung.

Besonders dankbar bin ich Ihnen auch dafür, dass Sie immer wieder auch die großen Themen unserer Zeit aufgreifen – aktuell etwa die Frage, welche Strategien Hochschulen angesichts des demografischen Wandels brauchen; oder wie es gelingen kann, dass in unserer alternden Gesellschaft eine verbesserte Gesundheitsprävention im Alltag möglichst vieler Menschen ankommt.

Eines der drängendsten Themen unserer Zeit, das uns alle betrifft, sind die Auswirkungen der Künstlichen Intelligenz auf unser Leben und unser Selbstverständnis als Menschen. Yuval Noah Harari, mit dem wir gerade letzte Woche hier zusammen gesessen und diskutiert haben, und Geoffrey Hinton, der britische Pionier des maschinellen Lernens, der gerade mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnet wurde, sind nicht die Einzigen, die seit einiger Zeit davor warnen, dass KI außer Kontrolle geraten und zu einer Bedrohung für Freiheit und Demokratie werden könnte.

Ich bin umgekehrt der Meinung: Wir haben die Chance, den Wildwuchs rund um KI einzuhegen und KI demokratiekompatibel zu halten; sie so zu gestalten, dass sie dem einzelnen Menschen und dem Gemeinwohl nützt und nicht schadet.

Künstliche Intelligenz zu fördern und gleichzeitig zu zivilisieren, die Chancen zu nutzen und gleichzeitig die Risiken, die sie mit sich bringt, unter Kontrolle zu halten – das ist die doppelte und wirklich herausfordernde Aufgabe, vor der wir stehen. Um diese Aufgabe bewältigen zu können, brauchen wir wissenschaftliche Forschung; wir brauchen Schulen und Hochschulen, die sich dem Thema stellen; wir brauchen digital mündige Bürgerinnen und Bürger, gesellschaftliche Debatten und politische Entscheidungen.

Unser Land gehört, so glaube ich, inzwischen auch in der KI-Forschung mindestens zur europäischen Spitze, andere sagen und schreiben: sogar zur Weltspitze. Und gerade deshalb stehen wir jetzt in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft auch besonders in der Verantwortung, wenn es darum geht, die Potentiale der KI nutzbar und uns selbst zukunftsfähig zu machen und diese Zukunft so zu gestalten, dass Humanität, Freiheit und Demokratie gewahrt bleiben!

Ich wünsche mir, dass der Wissenschaftsrat diese Entwicklung ebenso kritisch wie pragmatisch begleitet, als Stimme der Vernunft und der Zuversicht. Dass Sie in den vergangenen Jahren bereits Empfehlungen zur Digitalisierung in Lehre und Studium verabschiedet haben; dass Sie diskutiert haben, wie Wissenschaft im digitalen Raum Souveränität behaupten und Daten schützen kann; dass Sie jetzt ganz aktuell ein Papier zu KI in der Hochschulbildung vorbereiten, all das sind wichtige Schritte. Und ich kann nur die Bitte ergänzen: Bleiben Sie hier am Ball!

Alles Leben ist Problemlösen, ja. Aber gerade in dieser schwierigen und beunruhigenden Zeit, in der sich die Krisen und Herausforderungen ballen, in dieser Zeit spüren wir auch, wie anstrengend, wie konfliktreich, wie kraftraubend das sein kann. Ab und zu brauchen wir deshalb auch mal eine Pause vom Problemlösen, Zeit zum Durchatmen, Raum für neue Eindrücke und inspirierende Begegnungen. Unser gemeinsames Abendessen heute ist so eine Gelegenheit zum Innehalten. Schön, dass Sie hier sind, ich freue mich auf die Gespräche mit Ihnen!

Ich erhebe das Glas auf die freie Wissenschaft, auf das Problemlösen – und auf Ihr Wohl! Herzlich willkommen und herzlichen Dank!