Wir sind hier, weil wir Hoffnung haben. Auf diesem Platz ist hunderttausendfache Hoffnung versammelt. Hoffnung, Phantasie, Frechheit und Humor.
Das riefen Sie, liebe Marianne Birthler, damals, im November 1989, den Menschen auf dem Berliner Alexanderplatz zu. Sie sprachen ihnen aus dem Herzen. Endlich Freiheit! Und diese Hoffnung beflügelte die Menschen, in Versammlungen, in Umweltgruppen, bei Friedensgebeten und Mahnwachen, auf den Straßen. Sie fand ihren Höhepunkt in der Nacht des 9. November 1989, jener Nacht der Nächte, als die Menschen in der damaligen DDR die Mauer zum Einsturz brachten. Nichts war danach in unserem Land mehr wie zuvor.
Und die Menschen in der damaligen DDR hatten noch etwas: Mut, ungeheuren Mut. Mut, der nötig war, nur um friedlich zu protestieren in Dresden, Halle, Karl-Marx-Stadt und Magdeburg, in Plauen, Wismar, Stendal und Meiningen, in Rostock, Potsdam, Schwerin und in Leipzig [Zuruf] … und in Erfurt und in vielen anderen Städten, die ich jetzt nicht genannt habe. Sie wussten ja nicht – wenige Monate nach Tian’anmen –, wie das Regime reagieren würde, das Proteste und Aufbegehren zuvor immer brutal unterdrückt, seine Gegner mit Härte verfolgt hatte. Und doch spürten und erlebten sie von Montag zu Montag, von Woche zu Woche, welche Kraft sie hatten – und wie diese Kraft immer größer wurde und die Angst nach und nach die Seiten wechselte.
Der 9. Oktober in Leipzig, der 4. November in Berlin und der 9. November 1989 – sie waren Sternstunden der deutschen Demokratiegeschichte. Ohne sie wäre die deutsche Teilung, aber auch die Teilung Europas nicht überwunden worden, wäre unser geteiltes, zerrissenes Land nicht seit 34 Jahren wiedervereint. Heute, 35 Jahre nach Friedlicher Revolution und Mauerfall, denken wir mit Dankbarkeit an den Mut, an die Kraft, an den Humor, die Phantasie, die Kühnheit, die die Menschen damals hatten, wir denken an das große Glück, das sie uns geschenkt haben. Ich freue mich, dass nicht nur einige, sondern wenn ich hier in die Runde schaue, viele von ihnen, die damals dabei waren, heute hier sind. Seien Sie uns ganz, ganz herzlich willkommen hier in Schloss Bellevue!
Wenn wir heute zurückblicken, wenn wir die Filmdokumente aus den Wochen vor und nach dem Mauerfall anschauen, die Plakate, die Sie beim Hereinkommen eben schon gesehen haben, dann spüren wir noch etwas von der Freude, von der Aufbruchsstimmung von damals. Es ist gut, dass wir heute hier sind. Wir bekennen uns – in einer Zeit, in der die liberalen Demokratien fast weltweit angefochten sind –, wir bekennen uns zu Freiheit und zu dieser Demokratie!
Der Umbruch in unserem Land damals wäre nicht möglich gewesen ohne den Freiheitskampf unserer östlichen Nachbarn. In Polen hatten die Menschen bereits seit Jahren gekämpft gegen Diktatur und Unfreiheit. Massenproteste, Streiks, die Gründung von Solidarność und des Runden Tisches – die Demokratisierung war trotz aller Rückschläge, die wir auch nicht vergessen haben, nicht aufzuhalten. Und die Hoffnung auf Freiheit und Demokratie sprang über auf die Nachbarländer, auf Ungarn, auf die Tschechoslowakei. Und auf die DDR. Die Freiheit siegte über Unrecht und Willkür. Ich freue mich, dass wir heute Gäste haben, die damals in Polen für die Freiheit gekämpft haben. Herzlich willkommen, lieber Bogdan Michał Borusewicz, liebe Grażyna Staniszewska, lieber Bogdan Jerzy Lis, lieber Jacek Taylor, liebe Ewa Kulik-Bielińska!
Wenn wir Deutsche heute zu unseren östlichen Nachbarn blicken, zu unseren Freunden in der Europäischen Union, zur Ukraine, die gegen die russische Armee um ihre Freiheit und Unabhängigkeit kämpft, dann wissen wir, was eine der Lehren von 1989 ist und sein muss: Wir stehen an der Seite derer, die heute für ihre Freiheit und gegen Unterjochung kämpfen!
In diesem Jahr feiern wir sogar ein doppeltes Jubiläum: den 75. Geburtstag unseres Grundgesetzes, an dessen Verabschiedung wir im Mai mit einem Staatsakt vor dem Berliner Reichstag erinnert haben – und die Friedliche Revolution und den Mauerfall vor 35 Jahren. Und beide Daten verbindet die Hoffnung, von der Marianne Birthler damals sprach: die Hoffnung auf ein Leben in Freiheit und Demokratie. Ein Versprechen, das sich nach Friedlicher Revolution und Mauerfall endlich für alle Menschen in unserem Land erfüllt hat. Welches Glück ist das!
Heute lässt sich ganz leicht sagen – und viele tun das leider –, dass im Prozess der Wiedervereinigung Fehler gemacht wurden. In der Tat: für die Vereinigung zweier Staaten gab es international keine Blaupause, und in den Schubladen der politischen Akteure – Ost wie West – lag kein fertiger Plan. Und vor allem gab es eines nicht: Zeit. In weniger als einem Jahr musste die Einheit vollzogen werden – nicht nur, weil die ökonomischen Verhältnisse es erforderten, sondern weil die Menschen die Einheit so schnell wie möglich wollten – im Osten wie im Westen.
Wahr ist aber auch: Die Einheit hat uns im Westen und im Osten nicht in gleicher Weise betroffen. Die Menschen im Osten haben die Veränderungen mit allen Härten erlebt: Erworbene Qualifikationen, die entwertet wurden, Fabriken wurden geschlossen, viele verloren ihren Arbeitsplatz; Ältere mussten neu anfangen, Jüngere zogen weg. Die Menschen im Westen hingegen konnten ihr Leben weitgehend unberührt weiterleben; viele dachten auch, dass sich gar nichts ändern würde durch die Wiedervereinigung. Und diese unterschiedlichen Erfahrungen aus jenen Jahren, die prägen uns immer noch gut sichtbar bis heute.
Wenn ich in unserem Land unterwegs bin – und die meisten wissen, das bin ich oft –, dann höre ich im Westen immer noch den Vorwurf, dass die Ostdeutschen nicht dankbar genug sind. Und im Osten höre ich sogar wieder häufiger, dass die damalige DDR vom Westen kolonisiert wurde. Verzeichnungen wie diese erklären nichts von der historischen Komplexität des Einigungsprozesses. Aber vor allen Dingen helfen sie nicht und führen nicht zusammen. Dabei ist richtig: Die Ostdeutschen sind in Führungspositionen von Unternehmen, Verwaltung, Hochschulen, Medien immer noch unterrepräsentiert. Und richtig ist auch: Die Menschen im Osten konnten noch nicht über mehrere Generationen in ihren Familien Eigentum oder gar Vermögen aufbauen.
Aber rechtfertigen diese Fragen den in West wie in Ost zu beobachtenden Trend zu einer immer kritischeren Bewertung des Einheitsprozesses? Ich wünsche mir, dass wir nicht aus dem Blick verlieren, welcher Glücksfall die Deutsche Einheit war. Sie brachte Freiheit und Demokratie für alle Deutschen. Und niemand bestreitet doch, dass noch viel Arbeit zu tun ist. Aber vergessen wir doch bitte niemals: Genau dafür, für Freiheit und Demokratie sind Menschen in der Friedlichen Revolution auf die Straße gegangen, haben alles riskiert – Gesundheit, Leben, Sicherheit, haben alles riskiert, um frei zu sein, frei vom Wahrheitsdiktat der Einheitspartei; frei, sich zu äußern; frei, sich einzumischen in das gesellschaftliche Miteinander; frei auch, was die Verfolgung eigener Lebensentwürfe angeht. Manches aktuelle Unbehagen über die Ausrichtung von Tagespolitik, das es gibt, darf doch nicht dazu verleiten, im nostalgischen Rückblick eine Diktatur zu verharmlosen. Eine Diktatur, die Andersdenkende, die ihre Gegner gängelte, verfolgte, überwachte bis in jeden Winkel des Lebens, die ihnen die Freiheit raubte – ich denke zum Beispiel an die unmenschlichen Gefängnisse in Bautzen und Hoheneck, die Haftanstalt für Frauen, in der wir erst in diesem Jahr eine Gedenkstätte eröffnet haben. Was die inhaftierten Frauen in Hoheneck erlitten haben, das war ein Ausschnitt furchtbaren Unrechts, das Zehntausende erleiden mussten. Da ist nichts zu verharmlosen und erst recht nichts zu beschönigen!
Heute, 35 Jahre nach Friedlicher Revolution und Mauerfall, widmet sich eine ganze Reihe jüngerer Autorinnen und Autoren aus Ostdeutschland der Aufarbeitung der Ereignisse von damals – viele von ihnen waren 1989 noch sehr jung oder noch gar nicht geboren. Und ich finde, ihre Stärke liegt darin, Widersprüche aufzuzeigen, aber sie auch auszuhalten, und das vielfältig und vielstimmig. Ich denke an Sabine Rennefanz, die in ihrem Roman "Kosakenberg" vom Verlust der Heimat erzählt, vom Schmerz, aber auch von der gewonnenen Freiheit, die damit verbunden war. Ich denke an Anne Rabe, die schonungslos über Gewalterfahrungen in Familien vor und nach der Wendezeit schreibt. Ich denke an Lukas Rietzschel, der in seinen Büchern und Theaterstücken literarisch jeder Verklärung von Diktatur eine Absage erteilt. Und das sind nur einige derjenigen, die stellvertretend stehen für viele andere. Und sie alle verdienen, finde ich, noch stärker gesamtdeutsch gelesen zu werden.
Was wir jetzt brauchen, in der Tat, das ist eine differenzierte Sicht – nicht pauschale, schlagzeilenträchtige Schuldzuweisungen, die, davon bin ich überzeugt, uns nur zurückwerfen. Ich finde ermutigend, dass eine große Mehrheit jedenfalls der ganz jungen Menschen in einer aktuellen Umfrage den 9. November 1989 für den glücklichsten Tag unserer Geschichte hält. Das hätte vielleicht nicht jeder erwartet. Bei allem, was noch nicht gelungen ist – meine Überzeugung bleibt: Wir sind viel weiter in unserem Land, als es die öffentliche Diskussion manchmal hergibt!
Deshalb handelt aus meiner Sicht ohne jede Verantwortung, wer für parteipolitische Geländegewinne die Einheit entweder für gescheitert oder die Demokratie für unfähig erklärt. Wer heute von einer angeblich anstehenden Vollendung der Wende schwadroniert, weil wir angeblich schon wieder in einer Diktatur leben; wer nach solchen Rechtfertigungen sucht, um unsere Demokratie in ihren Grundfesten anzugreifen, der missbraucht bewusst das Erbe von 1989.
Wenn wir heute an den 9. November 1989 erinnern, dann müssen wir uns auch bewusst sein, welch ambivalentes Datum der 9. November für uns Deutsche ist und bleibt. Ein Tag, der für Höhen in unserer Geschichte steht, von denen ich gerade gesprochen habe, aber auch für dunkelste Nacht. Unabdingbar ist die Erinnerung an den 9. November 1938, die Pogromnacht; der Tag, an dem Deutschlands Synagogen brannten und tausende Jüdinnen und Juden misshandelt, verhaftet, ermordet wurden.
Margot Friedländer hat vorgestern ihren 103. Geburtstag gefeiert. Wie könnten wir an den 9. November denken und nicht auch ihre Geschichte vor Augen haben, die für Millionen andere steht – wie könnten wir daran nicht denken und sie uns nicht zu Herzen zu nehmen! Wie sie als junge Frau 1938 durch die Scherben auf den Straßen ihrer Heimatstadt Berlin gegangen ist, wie sich Deutschland gegen sie wendete und ihren Tod wollte, weil sie Jüdin ist. Kein 9. November ohne diese Erinnerung! Kein 9. November ohne diese Mahnung! Wir dürfen nie nachlassen im Kampf gegen Antisemitismus und jede Art von Menschenfeindlichkeit!
Aber der 9. November hat noch eine Dimension. Er erinnert uns daran, dass unsere deutsche Freiheitsgeschichte weit zurückreicht, bis tief ins 19. Jahrhundert hinein. Der lange Kampf für Freiheit und Demokratie, er fand seinen Höhepunkt am 9. November 1918 – dem Tag, an dem die erste deutsche Republik ausgerufen wurde, dem Tag, an dem Freiheit und Demokratie über Monarchie, Militarismus und Nationalismus siegten.
1918 – 1938 – 1989: Wie wir des 9. Novembers in all seiner Widersprüchlichkeit erinnern, das ist keine ganz nebensächliche Frage. Vielmehr berührt sie im Kern unser Selbstverständnis, unsere Identität als Deutsche. Der 9. November ist ein Tag, an dem wir Deutsche über uns nachdenken und nachdenken müssen und immer wieder klären, wie wir sein wollen, was uns verbindet, wie wir zusammenleben wollen – gerade in schwierigen Zeiten wie heute.
Dieser Tag macht uns bewusst, dass wir Deutsche in unserer Geschichte zu großartigen Aufbrüchen hin zu Demokratie und Freiheit in der Lage waren – dafür stehen 1918 und 1989. Aber der 9. November 1938 muss uns auch eine Mahnung sein und bleiben. Dieser Tag, der daran erinnert, dass es Deutsche waren, die zum Menschheitsverbrechen der Shoah fähig waren. Für uns bedeutet das immerwährende Verantwortung: die Verantwortung des Nie wieder!
Ich glaube, wir alle spüren es: Die Frage, wie wir zusammenleben wollen, stellt sich heute noch dringlicher als in vielen Jahren zuvor. Dürfen wir an einem Tag wie heute hoffen auf die Selbstbehauptung von Freiheit und Demokratie? Ist das Grundgesetz noch der Kompass, dem wir vertrauen? Oder stehen wir in einer Zeit, in der die freiheitliche Demokratie weltweit an Überzeugungskraft verliert, vielleicht in einer Zeit mit neuem Nationalismus und Autoritarismus, in unserem Land, in Europa, in der ganzen Welt?
Der 9. November macht uns bewusst, dass die Geschichte der freiheitlichen Demokratie in Deutschland eben nie eine geradlinige war. Sie ist es auch heute nicht. Umso mehr sollten wir uns am 9. November erinnern: Nichts ist vorgezeichnet, nichts ist vorherbestimmt.
Es liegt an uns, die Antwort auf diese große Frage zu geben! Das gilt heute wie damals, 1989. Wir wollen mündige Bürger sein
; Demokratie, jetzt oder nie
; Freie Wahlen jetzt
; Reisefreiheit
: Das und vieles mehr forderten die Menschen damals, vor 35 Jahren – einige der Plakate und Transparente sehen wir hier in den Räumen nebenan. Sie haben dabei etwas erfahren, das für das Gelingen einer Demokratie entscheidend ist: welche Kraft Menschen entfalten, wie viel sie bewegen können, wenn sie leidenschaftlich streiten, beherzt streiten für Wahrhaftigkeit, für Demokratie und Freiheit. Es ist diese Stärke, es ist diese Kraft, die wir jetzt brauchen für unsere Demokratie. Und ich bin davon überzeugt: Wir haben sie!