Videogrußwort bei der Festveranstaltung "75 Jahre Institut für Zeitgeschichte München-Berlin“

Schwerpunktthema: Rede

München, , 20. November 2024

Bundespräsident Steinmeier hat mit einem Videogrußwort beim Festakt "75 Jahre Institut für Zeitgeschichte München-Berlin“ am 20. November in München die Arbeit des Instituts gewürdigt. Er sagte: "Wer die Zeitgeschichte erforscht, weiß, dass wir uns von vergangenen Epochen zuweilen Rat holen können."

Im Frühjahr haben wir an 75 Jahre Grundgesetz erinnert, heute feiern wir 75 Jahre Institut für Zeitgeschichte. Das doppelte Jubiläum ist kein Zufall. Unsere Republik und Ihr Institut entstanden beide nach totalitärer Diktatur, Vernichtungskrieg und Shoah. Die Gründung Ihres Instituts war wie das Grundgesetz eine Antwort auf die Barbarei des Nationalsozialismus, auf die Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden. Und beide sind bis heute dem Nie wieder! verpflichtet.

"Deutsches Institut für die Geschichte der nationalsozialistischen Zeit“: So lautete der erste Name Ihrer Forschungseinrichtung. Persönlichkeiten wie Eugen Kogon und Hermann Brill, die die Schrecken der Konzentrationslager überlebt hatten, gehörten zu den Mitgründern.

Dieses Institut war eine Absage an all jene, – so schrieb es Hans Rothfels zum Start der Vierteljahreshefte – die am liebsten den Mantel des Verdeckens ausbreiten und sich in die Wolke des Vergessens hüllen möchten. Ausleuchten statt verdecken, wissen wollen statt vergessen machen – mit diesem Credo ist auch die Zeitschrift des Instituts seither für gründliche historische Aufklärungsarbeit legendär geworden.

Generationen von Historikerinnen und Historikern am IfZ haben seither die Zerstörung der ersten deutschen Demokratie, die NS-Diktatur und das millionenfache Unrecht, das vom nationalsozialistischen Deutschland ausging, untersucht und publik gemacht.

Vor drei Jahren haben wir gemeinsam im Schloss Bellevue in Berlin die bedrückende Dokumentation über die Verfolgung und Ermordung der Juden Europas vorgestellt.

Mehr und mehr trat auch die Erforschung der SED-Diktatur hinzu, die in keine schlichte Parallele zur NS-Herrschaft zu bringen ist, jedoch ein neues Feld der Aufarbeitung von Unrecht, von Unterdrückung und freiheitsfeindlicher Ideologie eröffnete.

Die Zeitgeschichte der DDR, der Bundesrepublik, der deutschen Teilung, nicht zuletzt der Friedlichen Revolution vor 35 Jahren und der Deutschen Einheit musste für das Institut an Gewicht gewinnen.

Die Bedeutung dieses Instituts und seiner Arbeit reicht weit über abstrakte Forschungsinteressen hinaus: Die wissenschaftliche Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und der deutschen Diktaturerfahrungen war Teil eines jahrzehntelangen Ringens mit unserer Geschichte, in dem die Demokratie in Deutschland reifen konnte. Es war nach dem 8. Mai 1945, der Befreiung von außen, gewissermaßen eine jahrzehntelange innere Befreiung von autoritärer Tradition und nationalistischer Aggression. Es war nach der durch die Westalliierten ermöglichten Übernahme der freiheitlichen Staatsform in der Bundesrepublik dann die lange innere gesellschaftliche Aneignung der Demokratie als Werteordnung und als Lebensform. Das Glück des Jahres 1989, in dem ostdeutsche Bürgerinnen und Bürger die kommunistische Diktatur zu Fall brachten und die Öffnung der Mauer erzwangen, das dürfen wir als einen Höhepunkt dieser inneren Demokratisierung Deutschlands verstehen.

Die Arbeit des IfZ hat durch die Erkenntnis des Unrechts den schwierigen Prozess der Selbstbefreiung der Deutschen vom Nationalsozialismus und vom SED-Regime begleitet, befördert und gestärkt. Und sie hat größte Relevanz auch jenseits unserer Grenzen: Nur weil wir Deutsche unserer Geschichte ins Auge sehen, weil wir die historische Verantwortung annehmen, nur deshalb haben die Völker der Welt unserem Land neues Vertrauen geschenkt. Diese Bedingung unserer europapolitischen, ja globalen Glaubwürdigkeit, die gilt fort. Sie bekommt sogar in einer Zeit des neuen Krieges in Europa neue Aktualität und Dringlichkeit.

Die Zeitgeschichte wird durch eine jüngere Dynamik mit neuen Zäsuren geprägt. Sie bekommt es mit dem Epochenbruch zu tun, den der russische Überfall auf die Ukraine markiert, und mit den geopolitischen Gewichtsverschiebungen, von denen einstweilen der politische Westen und mit ihm die Demokratien der Welt nicht profitieren können. Der Leitstern der Demokratie in der Geschichte hat in manchen Regionen der Welt an Leuchtkraft eingebüßt.

Inzwischen ist klar: Was 1989/1990 begann, steht heute in Frage. Der Aufbruch zu mehr Freiheit, mehr Frieden und mehr Demokratie auf der Welt, der als Krönung des historischen Fortschritts erlebt und interpretiert worden war, hat an Bewegungskraft verloren. Wer sich ihm verbunden fühlt, ist in die Defensive geraten. Stattdessen wird die freiheitliche Demokratie weltweit von neuen nationalistischen Ideologien und autoritären politischen Systemen herausgefordert, von imperialen Mächten sogar existenziell bedroht.

Mit der Euphorie und der Selbstgewissheit der vergangenen Jahrzehnte werden wir der aktuellen Situation jedenfalls nicht mehr gerecht. Doch sollten wir in den Orientierungsfragen unserer Gegenwart niemals vergessen, dass auch die heutige Lage nicht das letzte Wort sein wird, dass die Entwicklung der Freiheit und der Demokratie in der jüngeren Geschichte unserer Aufmerksamkeit wert ist und dass selbst dort, wo eine autoritäre Macht sich durchsetzen konnte, dissidentische Bewegungen, Umschwünge durch Wahlen und neue politische Allianzen jederzeit möglich bleiben.

Wer die Zeitgeschichte erforscht, weiß, dass wir uns von vergangenen Epochen zuweilen Rat holen können. Wer die Geschichte kennt, erinnert sich an die Zeiten des Kalten Krieges, an die Zeiten von ideologischer Systemkonkurrenz, militärischer Bedrohung und aggressiver Geopolitik. Wer die Geschichte kennt, der verachtet nicht die kleinen Schritte gegenüber den großen Gesten; der weiß, wie wichtig Prinzipientreue und Pragmatismus sind.

Historische Aufklärung, bei der Sachlichkeit und Leidenschaft ihren Sinn haben, gedeiht in einer freiheitlichen Ordnung am besten und sie bleibt notwendig, um heute die richtige Orientierung für unser demokratisches Gemeinwesen zu finden. Auch deshalb ist die zeitgeschichtliche Forschung für unser Land, für Gesellschaft und Politik, so wichtig und so wertvoll. Mein großer Dank und alle guten Wünsche für die Zukunft gelten daher Ihnen, den Forscherinnen und Forschern und Freunden des IfZ.

Herzliche Grüße aus dem Schloss Bellevue zu Ihnen nach München!