Diskussionsveranstaltung zur Pflichtzeit

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 3. Dezember 2024

Der Bundespräsident hat am 3. Dezember die Diskussionsveranstaltung "Stärken, was uns verbindet" in Berlin mit einer Ansprache eröffnet und dabei den Nutzen einer Pflichtzeit für die Gesellschaft hervorgehoben: "Ich wünsche mir eine Gesellschaft, in der es ganz selbstverständlich ist, für andere da zu sein. Dahin mag es unterschiedliche Wege geben. Ein möglicher Weg dorthin führt über eine verpflichtende Zeit, die Begegnung zwischen Verschiedenen schafft. Wer Verantwortung für andere oder das Gemeinwesen übernimmt und trägt, der macht Erfahrungen, die prägen."

Bundespräsident Steinmeier steht vor einer Videowand mit der Aufschrift "ChancenZeit — Stärken, was uns verbindet: Pflichtzeit für unsere Gesellschaft" am Rednerpult und hält eine Ansprache

Oft gibt es Anlass, sich über das Debattenklima in unserem Land zu beklagen. Wenn ich mich recht entsinne, ging es bei meinem letzten Auftritt in der Konrad-Adenauer-Stiftung genau darum: wie sich sukzessive die Grenzen des Sagbaren ins Unsägliche verschieben. Bei der Diskussion um eine Pflichtzeit ist es anders. Seitdem die ersten Vorschläge, die ersten Ideen dazu entwickelt wurden, hat sich eine lebendige, breite und auch kontroverse Debatte entwickelt – und das inzwischen über mehrere Jahre hinweg. Und wie Sie sicher wissen, bin ich nicht nur präsidialer Beobachter dieser Debatte, sondern aktiver Teilnehmer mit Vorschlägen, die ja neben Zustimmung auch Ablehnung erfahren haben. Dennoch: Wir haben in dieser Debatte gesehen, wie fruchtbar es sein kann, wenn nicht nur kontroverse Positionen vorgetragen, sondern tatsächlich Argumente ausgetauscht und gewogen werden, andere Meinungen mit echtem Interesse angehört werden. Mich haben die Offenheit, der Ernst und die Tiefe der bisherigen Auseinandersetzung sehr beeindruckt, und ich bin überzeugt, dass wir – ganz unabhängig von dem Thema heute – mehr solche Debatten in unserer Demokratie brauchen. Denn sie lebt von der Debatte – und wir müssen diese mit Anstand und Fairness führen.

Die Diskussion um eine Pflichtzeit zeigt bei allen Unterschieden in den Positionen eines ganz deutlich: wie viele Menschen es für wichtig halten, den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft zu stärken – und wie groß das Bedürfnis nach Zusammenhalt ist. Und ich glaube, wir spüren jeden Tag: Dieses Bedürfnis wird in einer Zeit der Krisen und der Unsicherheit eher noch größer.

Wir alle erleben, wie unsere Demokratie derzeit auf die Probe gestellt wird. Wir alle erleben, wie Krisen und Umbrüche die Gesellschaft unter Druck setzen, wie sie zu Verunsicherung und Reibung führen. Corona, Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine, Klimawandel, Terror und Krieg im Nahen Osten, aber auch Inflation und Wirtschaftskrise – all das führt zu Belastungen und beunruhigt viele Menschen in unserem Land. Und dieser Krisenmodus wirkt sich auf unseren Alltag aus – und auf unser Zusammenleben. Gesellschaftliche Gruppen entfernen sich voneinander und stehen sich mitunter mit wachsender Unversöhnlichkeit gegenüber; der Ton in gesellschaftlichen Debatten wird schärfer. Umso wichtiger ist es, dass wir darüber nachdenken, was wir in einer solchen Zeit tun können, besser: tun müssen, damit unsere Gesellschaft nicht weiter auseinandertreibt. Ich halte das für ganz entscheidend für die Zukunft unserer Demokratie!

Wenn man mit einem Vorschlag an die Öffentlichkeit tritt, ist es ja oft so: Je länger diskutiert wird, umso mehr wachsen die Vorbehalte, umso größer wird die Kritik. Die Debatte um eine Pflichtzeit, so ist mein Eindruck, entwickelt sich umgekehrt. Knapp drei Viertel – 73 Prozent – der Deutschen befürworten heute laut einer aktuellen Ipsos-Umfrage einen verpflichtenden Gesellschaftsdienst. Ja, natürlich gibt es auch ganz grundsätzliche Bedenken gegen ein solches Modell. Jemand hat mir gesagt, das sei nichts anderes als ein Diebstahl von Lebenszeit. Andere argumentieren, nur Freiwilligkeit sei per se ein Merkmal von echtem Engagement. Wieder andere stellen in Frage, ob es verhältnismäßig ist, für eine Pflichtzeit in die Freiheit des Einzelnen einzugreifen – und es sind vor allem Jüngere, die starke Zweifel haben und einen solchen Eingriff in die Freiheit ablehnen.

Und deshalb halte ich es für entscheidend, ob es gelingen kann, die Mehrheit der jungen Menschen in unserem Land für diese Idee zu gewinnen. Denn es geht ja darum, wie wir in Zukunft den Zusammenhalt stärken – und es ist ihre Zukunft. Umso mehr freue ich mich, dass heute so viele junge Menschen hier sind. Schön, dass Sie alle mitdiskutieren und aus dem Projekt "ChancenZeit" berichten: ein Beteiligungsformat mit Vorbildcharakter, das sich bestens eignet, um ein so komplexes Thema wie die Pflichtzeit möglichst breit zu diskutieren. Allen meinen herzlichen Dank, die diese Initiative tragen, danke auch für die Einladung heute. Ich freue mich sehr, heute dabei zu sein!

Wir sehen seit Längerem, wie sich freiwilliges Engagement, vor allem: wie sich das klassische Ehrenamt in unserem Land verändert. Ja, immer noch setzen sich Millionen Menschen Tag für Tag für andere ein. Sie hören zu, unterstützen, ermutigen und packen mit an. Sie helfen, wo Hilfe gebraucht wird. Sie tun das oft neben Beruf und Schule, und sie tun es, obwohl in ihrem eigenen Leben viel zu tun ist und sie auch selbst Sorgen haben. Ich bin immer wieder beeindruckt von diesem freiwilligen Einsatz, ohne den unser Gemeinwesen nicht denkbar wäre. Das Ehrenamt ist und bleibt das Rückgrat unserer Gesellschaft. Aber im dichten Netz des ehrenamtlichen Engagements, das sich übers Land spannt, werden die Maschen weiter. Denn unsere Gesellschaft wird älter, und mit ihr altert das Ehrenamt. Die Folge: Die Ehrenämter verteilen sich auf immer weniger Schultern, manche sind in der Folge überfordert von der wachsenden Belastung. Das führt dazu, dass in Vereinen und Verbänden Posten im Vorstand unbesetzt bleiben, die Zahl der Aktiven kleiner wird, weil sich keine Nachfolge findet. Die Strukturen, die Dauer und Verlässlichkeit versprechen, sind deshalb oft nicht mehr gesichert. Das ist so, obwohl sich auch sehr viele junge Menschen engagieren. Aber ein großer Teil von ihnen tut das lieber projektbezogen oder punktuell – lieber als in den auf Dauer angelegten Organisationen, den klassischen Vereinen und Verbänden.

Ja, noch immer sind es Hunderttausende, die in Freiwilligendiensten anpacken. Das ist großartig! Aber dieses Engagement durchzieht unsere Gesellschaft noch nicht als Ganze. Studien zeigen, dass die allermeisten der jungen Menschen, die sich bisher auf einen Freiwilligendienst einlassen, Abitur gemacht haben; dass junge Menschen mit anderen Schulabschlüssen deutlich unterrepräsentiert sind. Will sagen: Die Möglichkeit eines Freiwilligenjahres – wie ein Freiwilliges Soziales Jahr oder Freiwilliges Ökologisches Jahr – erreicht bei Weitem nicht alle jungen Menschen; milieuübergreifende Wirkungen, das haben Untersuchungen gezeigt, sind bisher zu wenig sichtbar. Nun hat das Gründe. Es mag zum Beispiel auch daran liegen, dass sich viele einen solchen Dienst an der Gesellschaft über einige Monate hinweg schlicht und einfach nicht leisten können. Es ist also in jedem Fall wichtig, dass wir Strukturen aufbauen, die es auch wirklich jeder und jedem möglich machen, sich hier einzubringen. Wir brauchen wirklich alle, um unsere Gesellschaft zusammenzuhalten!

Denn wenn soziale Bindungen zunehmend lose werden, wenn viele nur noch unter sich bleiben – in der Nachbarschaft, am Arbeitsplatz, in der Schule – und wenn der Rückzug in die eigene "Blase" es verhindert, die vielleicht andere Sicht der anderen überhaupt wahrzunehmen, dann drohen Mitgefühl und Verständnis für diejenigen verloren zu gehen, die ganz anders denken und anders leben.

Aber die Kernfrage ist natürlich: Wenn das so ist, darf man dann schon deshalb an die Einführung einer Pflichtzeit denken? Einige finden, jede Pflicht sei schwer vereinbar mit einer Vorstellung von Freiheit, wie sie den liberalen Demokratien zugrunde liegt. Das ist schon historisch falsch, sagt Francis Fukuyama. Er weist darauf hin, dass der klassische Liberalismus, der individuelle Freiheit verteidigt, gleichzeitig Verantwortung und Pflichten verlangt, um die Grundlagen eines stabilen, gerechten und freiheitlichen Gemeinwesens zu sichern. Diese Balance, so bewertet Fukuyama das, gerät immer wieder durch exzessiven Individualismus ins Wanken. Wörtlich schreibt er zuletzt in "Der Liberalismus und seine Feinde": Während sich der Einzelne seit jeher gegen die Strukturen wehrt, die ihm von ‚der Gesellschaft‘ aufgezwungen werden, sehnt er sich doch zugleich nach Verbundenheit mit einer Gemeinschaft und sozialer Solidarität und fühlt sich in seinem Individualismus einsam und entfremdet.

Was dieses Zitat nachdrücklich unterstreicht: Unsere liberale Demokratie lebt von individueller Freiheit, ja. Aber damit diese Freiheit für alle lebbar ist, braucht sie auch gesellschaftliche Bindungen, sie braucht Menschen, die Verantwortung füreinander übernehmen, weil sie das Menschsein des Gegenübers erkennen und bereit sind, dafür einzustehen. Oder etwas kürzer: Das Ich in der Demokratie braucht immer auch ein Wir. Anders formuliert: In der modernen, von Individualansprüchen geprägten Gesellschaft kommt es gleichzeitig darauf an, alles zu stärken, was uns verbindet – wir müssen darauf achten, dass wir den Austausch zwischen den Verschiedenen fördern, damit aus der Begegnung auch eine Verbundenheit werden kann. Denn nur aus Verbundenheit entsteht gemeinsame Verantwortung.

Und dazu kann die soziale Pflichtzeit einen sehr wichtigen Beitrag leisten. Sie führt dazu, dass wir uns – mindestens einmal im Leben – für einen Zeitraum anderen Menschen widmen, mit denen wir im Alltag sonst wenig zu tun haben. Sie würde dazu auffordern, über den eigenen Tellerrand zu schauen, über den eigenen Nutzen hinauszudenken und sich anderen Lebenswelten zuzuwenden, anderen Sorgen und Hoffnungen. Und vergessen wir dabei eines nicht: Wer sich engagiert, dafür gibt es ganz viele Belege, der bekommt eine Menge zurück. Er macht neue Erfahrungen, die prägend sein können, gewinnt Orientierung, neue Perspektiven und manchmal auch Freundschaften fürs Leben.

Vor allem aber könnten wir mit einer Pflichtzeit als Gesellschaft Gemeinsinn einüben. Wir könnten im Tun verstehen, dass das eigene Interesse, das eigene Wohlergehen nicht der einzige Maßstab sein kann, wenn wir gemeinsam Probleme lösen wollen. Wir könnten eine Kultur neuer Selbstverständlichkeit stärken, die klarmacht: Mithelfen und Mitgestalten sollten Normalität für alle sein. Das ist der Kern der Idee: unseren Zusammenhalt zu stärken, gerade in einer Zeit wie der jetzigen, in der wir Krisen und Umbrüche zu bewältigen haben.

Lassen Sie uns dieser Herausforderung mit Ehrgeiz und Zuversicht begegnen – das ist es, was ich mir wünsche. Ja, wir haben es mit anderen Aufgaben und Bedrohungen zu tun als seit vielen Jahrzehnten. Aber ich bin überzeugt: Wir können diese Herausforderungen als Gesellschaft meistern, wenn wir ganz praktisch unsere Widerstandskräfte stärken. Wir brauchen Engagement und Einsatz füreinander, ob im Katastrophenschutz oder im Rettungsdienst, bei der Bundeswehr, aber auch in der Obdachlosenhilfe oder anderswo im Dienst von Menschen für Menschen.

Ich wünsche mir eine Gesellschaft, in der es ganz selbstverständlich ist, für andere da zu sein. Dahin mag es unterschiedliche Wege geben. Ein möglicher Weg dorthin führt über eine verpflichtende Zeit, die Begegnung zwischen Verschiedenen schafft. Wer Verantwortung für andere oder das Gemeinwesen übernimmt und trägt, der macht Erfahrungen, die prägen. Der erfährt, dass wir gemeinsam einen Unterschied machen. Der spürt Selbstwirksamkeit und stärkt zugleich, was uns verbindet.

Klar ist aber auch: Eine Entscheidung für eine soziale Pflichtzeit braucht eine breite gesellschaftliche und politische Mehrheit. Lassen Sie uns deshalb die Debatte darüber mit Ernsthaftigkeit und Fairness fortführen. Sie sollte, das ist meine Bitte und meine Hoffnung, nicht erneut im Sande verlaufen, sondern mit einer Entscheidung enden, die unsere Demokratie stärkt. Und selten hat unsere Demokratie dringender Stärkung gebraucht als gerade jetzt.