Festakt 100 Jahre Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege BAGFW

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 10. Dezember 2024

Bundespräsident Steinmeier hat am 10. Dezember eine Ansprache beim Festakt zu 100 Jahren Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege in Berlin gehalten und betont: "Ihre Erfahrung, Ihr Fachwissen, Ihre Ideen, Ihre gewachsene Nähe zu den Menschen, nicht zuletzt Ihre kritische Stimme im Dienst des Gemeinwohls – all das brauchen wir gerade heute, in dieser schwierigen Zeit, mehr denn je."

Bundespräsident Steinmeier steht an einem Pult und hält eine Ansprache

Auf dem Weg zu dieser besonderen Geburtstagsfeier habe ich heute Morgen noch einen Zwischenstopp eingelegt: Ich war im Haus der Caritas, nur einen kurzen Spaziergang von hier entfernt. Dort habe ich mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gesprochen, die sich um obdachlose, suchtkranke und überschuldete Menschen kümmern. Und ich habe im Café Streetwork, einem Treffpunkt für Menschen mit Suchtproblemen, auch eine Weile mit Gästen zusammengesessen. Für viele von ihnen, so haben sie mir erzählt, ist das Café so etwas wie ein Zuhause, ein geschützter Raum, in dem sie sich jetzt in der kalten Jahreszeit aufwärmen können, wo sie einen Kaffee oder Tee oder etwas zu essen bekommen, wo sie vor allen Dingen immer jemanden finden, der ihnen zuhört und bereit ist, zur Seite zu stehen.

Hilfe von Menschen für Menschen – dafür steht das Café Streetwork, und dafür stehen die vielen Angebote der Freien Wohlfahrtspflege überall in unserem Land, ob sie nun von der Caritas, der Diakonie oder der Zentralwohlfahrtstelle der Juden getragen werden, vom Paritätischen, dem Roten Kreuz oder der Arbeiterwohlfahrt. Man muss sich das klarmachen, viele wissen das nicht: Es sind knapp zwei Millionen hauptamtliche und rund drei Millionen ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die in den sozialen Einrichtungen der sechs Spitzenverbände tagtäglich für andere Menschen da sind, und es sind viele weitere, die bei anderen privaten und häufig auch kommunalen Anbietern soziale Dienste leisten. Was für eine starke Kraft der Hilfsbereitschaft!

Es sind diese Menschen, die es überhaupt erst möglich machen, dass es in den allermeisten Städten und Gemeinden ein vielfältiges Angebot an sozialen Diensten und Einrichtungen gibt, ein dichtes Netz aus Kitas, Schulen, Jugendzentren; an Pflegeheimen, Hospizen, Krankenhäusern; an Beratungsstellen, Selbsthilfegruppen und vielem anderen mehr. Es sind diese Menschen, die sich um die Hilfsbedürftigen und Benachteiligten in unserer Gesellschaft kümmern – um Arme und Einsame, Menschen mit Beeinträchtigungen und chronischen Krankheiten, Zugewanderte und Geflüchtete.

Ich finde, all diese helfenden Hände bekommen in unserer Gesellschaft immer noch zu wenig Aufmerksamkeit, zu wenig Anerkennung, zu wenig Wertschätzung. Und vor allen Dingen bekommen sie immer noch zu wenig Unterstützung. Das muss sich ändern! Lassen Sie uns heute die Gelegenheit nutzen, um all jenen in unserem Land danke zu sagen, die andere pflegen, trösten, begleiten und fördern: Sie alle helfen Tag für Tag mit, unsere Gesellschaft ein Stückchen menschlicher zu machen. Und dafür von Herzen meinen tief empfundenen Dank!

Als im Dezember 1924 hier an diesem Ort, damals noch im alten Gebäude der Hilfskasse, die "Deutsche Liga der freien Wohlfahrtspflege" gegründet wurde, war das die Geburtsstunde eines neuartigen Sozialstaats. Eines Sozialstaats, der später zum Modell für die Bundesrepublik wurde und bis heute weltweit einzigartig ist. In diesem, in unserem Sozialstaat kommt den Spitzenverbänden der Freien Wohlfahrtspflege eine ganz besondere Rolle zu: Zum einen sind sie als Anwälte der Hilfsbedürftigen und Benachteiligten aufs Engste in die Entscheidungsprozesse der Sozial- und Gesundheitspolitik eingebunden – wie wir damals gehört haben: nicht immer zufrieden, aber eingebunden. Zum anderen erbringen sie als private, gemeinnützige Träger von sozialen Einrichtungen wirklich einen Großteil der gesetzlich verankerten, überwiegend öffentlich finanzierten Leistungen der Vorsorge und Fürsorge in unserem Land.

Einfacher gesagt: Die Wohlfahrtsverbände übernehmen in unserem Sozialstaat Verantwortung – Verantwortung für Menschen. Und ich bin Ihnen dankbar, dass Sie das tun! Denn Ihre Erfahrung, Ihr Fachwissen, Ihre Ideen, Ihre gewachsene Nähe zu den Menschen, nicht zuletzt Ihre kritische Stimme im Dienst des Gemeinwohls – all das brauchen wir gerade heute, in dieser schwierigen Zeit, mehr denn je.

Die sechs Spitzenverbände, die heute in der Bundesarbeitsgemeinschaft zusammenwirken, haben ihre Wurzeln in den christlichen Kirchen und den jüdischen Gemeinden, im konservativen und liberalen Bürgertum, in der Frauen- und der Arbeiterbewegung. Sie entwickelten sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als Bevölkerungsexplosion, industrielle Revolution, Landflucht und wachsende Städte die "soziale Frage" zum beherrschenden politischen Thema machten. Und ihre Bedeutung wuchs im Ersten Weltkrieg und in den Jahren danach weiter, weil Kriegsfolgen, Inflation und Wirtschaftskrisen Millionen von Menschen in Armut, Hunger und Not stürzten.

Ihre Verbände sind aus unterschiedlichen Ideen der sozialen Arbeit und des Sozialstaats heraus entstanden; sie sind auf unterschiedliche Weise von den politischen Brüchen des 20. Jahrhunderts gezeichnet; und sie sind von unterschiedlichen Traditionen, Erfahrungen und Mentalitäten geprägt. Und ich weiß: Wenn es darum geht, welches politische Instrument am besten geeignet ist, um soziale Notlagen abzuwenden, sind Sie vielleicht auch nicht immer von vornherein schon einer Meinung. Aber die Bundesarbeitsgemeinschaft ist der Ort, an dem Sie diskutieren, Argumente abwägen, um Kompromisse ringen, um zu einer gemeinsamen Position zu gelangen – so wie das in einer Demokratie sein soll und sein muss.

Dass es den Wohlfahrtsverbänden trotz aller Unterschiede immer wieder gelingt, zusammenzufinden und, jedenfalls nach meinem Eindruck, mehr oder weniger mit einer Stimme zu sprechen, das hat eben auch damit zu tun, dass Sie heute gemeinsame Werte teilen und leben. Gemeinsam ist Ihnen, dass Sie für alle Menschen da sind, die Hilfe und Unterstützung brauchen – unabhängig von Geschlecht, Alter, Herkunft und Religion. Gemeinsam ist Ihnen das Bestreben, sich dem einzelnen Menschen persönlich zuzuwenden und auf seine besonderen Bedürfnisse eingehen, nicht von oben herab, sondern in einer Beziehung auf Augenhöhe. Und gemeinsam ist Ihnen nicht zuletzt das Ziel, dass jede und jeder Einzelne ein würdevolles, und das heißt eben auch: ein selbstbestimmtes Leben in der Mitte unserer Gesellschaft führen kann.

Ob man das nun tätige Nächstenliebe nennt oder Zedaka, gelebte Mitmenschlichkeit, Solidarität oder Gemeinsinn: Es ist diese Haltung, die eine freie und demokratische Gesellschaft braucht, um die universellen Menschenrechte zu verteidigen und soziale Gerechtigkeit unter immer wieder veränderten Bedingungen immer wieder aufs Neue herzustellen. Und es sind Ihre Verbände, die ganz entscheidend dazu beitragen, diese Haltung zu stärken.

Für mich steht außer Zweifel: Mit dieser Haltung und mit Ihrer Arbeit stärken Sie die Demokratie. Denn wenn ganze Bevölkerungsgruppen sich ausgegrenzt oder abgehängt fühlen, wenn Menschen unversorgt bleiben, wenn ältere Menschen ohne Pflege, jüngere Menschen mit Beeinträchtigung ohne Betreuung sind, dann wenden sie sich auch von Staat und Demokratie ab. Die Einsicht mag nicht neu sein, aber es ist besonders wichtig, daran zu erinnern in Zeiten, in denen die Verteilungskämpfe um staatliche Budgets wieder sehr viel härter werden. Bestmögliche Unterstützung hilfsbedürftiger Menschen sollte eine Selbstverpflichtung der sozialstaatlichen Demokratie sein – und sie muss es bleiben.

Gesellschaftliche Vielfalt abzubilden, das war schon der Anspruch der "Deutschen Liga der Freien Wohlfahrtspflege", auch wenn die Arbeiterwohlfahrt damals noch nicht dabei war. Aber die Vielfalt heute ist eine andere als die Vielfalt von 1924. Deshalb ist es gut und wichtig, dass Sie zum Beispiel auch mit islamischen Vereinen und Verbänden im Gespräch sind, dass Sie vor Ort in einzelnen Projekten auch zusammenarbeiten. Ich bin überzeugt: Es stärkt den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft, wenn die muslimische Wohlfahrtspflege mit einbezogen wird.

Denn je vielfältiger unsere Gesellschaft wird, desto wichtiger werden Orte der Begegnung, an denen verschiedene Menschen zusammenkommen, zusammenwirken und möglichst voneinander lernen, an denen sie Vertrauen zueinander aufbauen können. Die Einrichtungen der Wohlfahrtsverbände sind solche Orte. Und sie sind es nicht zuletzt deshalb, weil sie auch Anziehungspunkt und Anlaufstelle sind für Menschen, die sich engagieren wollen. Ich bin allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dankbar, die Ehrenamtliche und Freiwillige gewinnen, ausbilden und begleiten; die dafür sorgen, dass Menschen ihr Engagement tatsächlich als Bereicherung empfinden, dass sie dabeibleiben oder sich im Anschluss an eine ehrenamtliche Tätigkeit vielleicht sogar für einen sozialen Beruf entscheiden. Auch dafür meinen herzlichen Dank!

Wie es in unserer älter werdenden Gesellschaft am besten gelingen kann, den wachsenden Bedarf an Fachkräften im Sozial- und Gesundheitswesen zu decken, das ist die eine große Frage, vor der wir stehen. Die andere ist die, wie es in unserer vielfältiger werdenden Gesellschaft gelingen kann, den Gemeinsinn und das Miteinander zu fördern und zu stärken. Denn wir erleben ja, dass viele Menschen sich in ihre soziale Blase oder ihre digitale Parallelwelt zurückziehen; wir erleben, dass unterschiedliche Weltsichten in der Öffentlichkeit oft hart und unversöhnlich gegeneinander stehen.

Ich freue mich deshalb sehr, dass wir in unserem Land darüber diskutieren, wie wir wieder stärken können, was uns verbindet. Ich glaube, dass eine soziale Pflichtzeit ein guter Weg ist, um das Miteinander zu verbessern. Und ich freue mich, dass wir über diesen Vorschlag eine sehr lebendige, sehr ernsthafte, wenn auch kontroverse Debatte führen – erst vorige Woche haben wir, liebe Frau Welskop-Deffaa, ausführlich darüber diskutiert miteinander, auch kontrovers diskutiert, aber vor allen Dingen, und das macht mir Mut, gemeinsam mit tollen jungen Menschen, die etwas bewegen und in dieser Gesellschaft etwas zum Besseren verändern wollen. Ich bin den Wohlfahrtsverbänden, ich bin Ihnen allen sehr dankbar, dass Sie Ihre Erfahrung, Ihre Expertise, Ihre Ideen in diese Debatte einbringen. Tun Sie das bitte auch weiterhin! Wir müssen jetzt gute Wege finden, um den Zusammenhalt zu stärken; um die Verschiedenen miteinander ins Gespräch zu bringen und dort zu halten; und vor allen Dingen: um noch mehr Menschen hautnah erfahren zu lassen, dass es auch den eigenen Blick weitet, dass es Sinn stiftet und Freude macht, für andere da zu sein.

In dieser Zeit der Krisen und Umbrüche brauchen wir die Stimme der Wohlfahrtsverbände, und wir brauchen sie vor allen Dingen als Stimme der Mitmenschlichkeit und der Solidarität. Denn so groß die Herausforderungen auch sind, vor denen wir jetzt stehen – Verteidigung von Freiheit und Demokratie, ökologischer Umbau von Gesellschaft und Wirtschaft, Stärkung der Wirtschaftskraft im eigenen Land, um nur einige zu nennen –, wir dürfen sie nicht auf Kosten der Schwachen und Verwundbarsten bewältigen. Die Würde jedes einzelnen Menschen zu achten und zu schützen, das ist der Auftrag des Grundgesetzes an uns alle, an Politik, Gesellschaft, Staat und Wirtschaft. Und dieser Auftrag hat nichts von seiner Gültigkeit verloren. Treten wir Menschenfeindlichkeit, Hass und Gewalt entschieden entgegen, wo auch immer sie auftreten und gegen wen auch immer sie sich richten!

Wenn ich mir etwas wünschen dürfte zum Geburtstag Ihrer Bundesarbeitsgemeinschaft, dann wäre es dies: Bleiben Sie die starke Kraft der Menschlichkeit, die Sie sind! Mischen Sie sich weiter ein! Herzlichen Dank für Ihren Einsatz – und herzlichen Glückwunsch zum Hundertsten!