Sie alle, die Sie Deutschlanderklärer in Ihren Ländern sind, Sie wissen es längst: Wir Deutschen lieben Regeln. Und darum gibt es für so gut wie alles, worüber hierzulande Unsicherheit herrscht, Leitlinien. Nehmen wir zum Beispiel die alle Jahre wieder quälende Frage: Wie lange darf man sich gegenseitig ein "frohes neues Jahr" wünschen? Um in dieser Angelegenheit auf der sicheren Seite zu sein, haben wir dafür – Sie ahnen es – Regeln. Der aus dem 18. Jahrhundert stammende "Knigge", der bis heute noch mit allerlei Benimm- und Verhaltensregeln die notwendige Orientierung gibt, meint: Neujahrsgrüße wie "Frohes Neues!" können ungefähr bis Mitte Januar ausgetauscht werden. Wir sind gerade noch im Zeitplan. Ich freue mich, dass Sie auch in diesem Jahr so zahlreich meiner Einladung gefolgt sind. Herzlich willkommen im Schloss Bellevue und, ganz nach Knigge, Ihnen allen ein frohes neues Jahr!
Wo ich gerade vom Zeitplan sprach: Sie merken es auch, dieses Jahr startet schneller als üblich. Ich habe wenige Tage vor dem Jahreswechsel den Bundestag aufgelöst und damit den Weg für Neuwahlen unseres Parlaments am 23. Februar freigemacht. Die Auflösung des Bundestages vor dem Ende der Legislaturperiode und vorgezogene Neuwahlen sind in unserem Land Ausnahmefälle. Und so sehr wir alle die Ergebnisse mit Spannung erwarten, eines wird beruhigend überraschungsfrei bleiben, und das ist unser außenpolitischer Kompass.
Auch nach der bevorstehenden Bundestagswahl werden die Pfeiler unserer Außenpolitik dieselben sein. Dazu gehört grundlegend unser Bekenntnis zu Europa. Wenn wir im Oktober den 35. Jahrestag der Deutschen Einheit feiern, dann tun wir das im Bewusstsein, dass diese Sternstunde der Geschichte eine europäische Sternstunde ist. Sie wäre undenkbar gewesen ohne die mutigen Menschen, die in Mittel- und Osteuropa das Joch der Sowjetunion abgeworfen und sich ihre Freiheit erkämpft hatten. Diese Freiheit ist seit der russischen Invasion in die Ukraine aufs Neue bedroht. Putin hat den Krieg nach Europa zurückgebracht. Er hat aber nicht nur ein Land, sondern den Frieden in ganz Europa angegriffen. Unsere europäische Antwort auf diesen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg muss klar und deutlich sein – und sie muss vor allem geschlossen sein. Wir treten ein für die Geltung des Rechts und des Völkerrechts, für Frieden und gute Nachbarschaft. Die Ukraine kann sich auch weiter darauf verlassen: Wir Deutsche stehen an ihrer Seite – bei der Verteidigung ihrer Freiheit und Unabhängigkeit, auf dem Weg zu einem gerechten Frieden und einer Zukunft in der Europäischen Union.
Ich weiß wohl: Auch die Demokratien in Europa verändern sich. Die Vielfalt an Stimmen, an politischen Orientierungen, an Parteien und Bündnissen wächst – und damit wachsen auch die Widersprüche und Gegensätze im europäischen Konzert. Das mag eine gemeinsame europäische Politik anstrengender machen. Aber: Diese Europäische Union – und die Werte und Prinzipien, auf denen sie gründet – ist jede Anstrengung wert! Eine deutsche Bundesregierung, egal welcher Zusammensetzung, wird auch in Zukunft ihre zentrale Aufgabe darin sehen müssen, europäische Gemeinsamkeit zu achten und zu fördern. Ich kann Ihnen versichern: Deutschlands Herz schlägt auch in Zukunft weiter für Europa.
Der zweite tragende Pfeiler der deutschen Außenpolitik ist und bleibt die transatlantische Partnerschaft – und das transatlantische Sicherheitsbündnis. Seit Jahrzehnten gibt es Menschen, die für diese Bindung stehen, für sie arbeiten, die die Freundschaft durch Höhen und Tiefen hinweg lebendig halten. Ich bin froh und dankbar, dass wir in den vergangenen drei Jahren seit dem russischen Angriffskrieg – dem wohl gefährlichsten Moment auf diesem Kontinent seit dem Kalten Krieg – eng, stark und unerschütterlich im transatlantischen Bündnis zusammengestanden haben.
Seit 70 Jahren ist die Bundesrepublik Mitglied der NATO. Das sind sieben Jahrzehnte, die uns gezeigt haben, wie wichtig starke Allianzen sind – für Deutschland und die USA; wie viel Kraft es gibt, auch in schwierigen Zeiten beieinanderzubleiben. Eine solche enge Verbindung erfordert gegenseitiges Vertrauen – und Wertschätzung. In den mehr als 30 Jahren meiner politischen Erfahrung gab es immer mal wieder Zeiten größerer Nähe und Distanz zwischen Amerikanern und Deutschen, Zeiten der Übereinstimmung und Zeiten der Konflikte. Aber eines galt zu jeder Zeit: Wir begegnen einander mit Respekt. Das erhoffe und erwarte ich auch in den kommenden vier Jahren. Wir brauchen einander auch in Zukunft. Denn die NATO ist weit mehr als ein Sicherheitsbündnis. Sie ist auch ein Wertebündnis, das auf gemeinsamen Werten gegründet wurde und diese verteidigt: Frieden, Freiheit, Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit. Mein Land weiß, was es der NATO zu verdanken hat. Und es weiß, was wir ihr schulden: mehr eigenes Investment in unsere gemeinsame Sicherheit. Wir stehen zum transatlantischen Bündnis, denn wir sind überzeugt: Nur wer nach innen geschlossen ist, kann nach außen stark sein.
Im vergangenen Jahr feierten wir 75 Jahre Grundgesetz und in diesem Jahr feiern wir 35 Jahre Deutsche Einheit. Dass wir diese wichtigen Jubiläen begehen, ist eng verbunden mit dem dritten Gedenkanlass, der uns dieses Jahres beschäftigen wird: dem Ende des Zweiten Weltkriegs vor 80 Jahren, dem 8. Mai 1945, dessen nicht nur hier in Deutschland gedacht wird. An diesem Tag befreiten die Alliierten Europa endgültig vom Nazi-Terror, von der NS-Diktatur. Deren mörderische Ideologie und Barbarei offenbarte sich der ganzen Welt, als mit dem Vormarsch der Alliierten europaweit Konzentrationslager um Konzentrationslager befreit wurde. In zwei Wochen gedenken wir der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz vor 80 Jahren, dieses dunkelsten Ortes deutscher Geschichte.
Als Lehre aus zwei Weltkriegen, die Verwüstung und 80 Millionen Tote brachten, wurden vor 80 Jahren die Vereinten Nationen gegründet – in der festen Überzeugung, dass sich Staaten nicht nur als Feinde, sondern auch als Freunde auf der Ebene gleichen Rechts für alle begegnen können. Wir übernehmen Verantwortung im Rahmen dieser internationalen Ordnung, die als Antwort auf die Katastrophen unserer Geschichte entwickelt wurde – deshalb setzen wir uns ein für multilaterale Lösungen und die Vereinten Nationen, und deshalb kandidieren wir 2027/2028 erneut für einen Sitz im Sicherheitsrat. Wir wissen, dass zu den Lehren aus unserer Geschichte immer beides gehört: die Verantwortung für Israel – und auch die universalen Lehren von Menschenwürde, Menschenrecht und Völkerrecht, die für jedes Mitglied der Völkergemeinschaft Maßstab sein müssen. Wir wissen, wer wir sind, weil wir wissen, woher wir kommen. Wir übernehmen Verantwortung in diesem Geschichtsbewusstsein – für unser Land und in der Welt. Auch das bleibt unumstößlich für die deutsche Außenpolitik.
Gerade in Zeiten, in denen wir uns mit gewaltigen geopolitischen Veränderungen konfrontiert sehen, müssen wir mit allen Staaten im Austausch bleiben, mit denen wir Gemeinsamkeiten haben oder Gemeinsamkeiten finden können. Im vergangenen Jahr haben wir gezeigt, dass Deutschland ein großes Interesse daran hat, seine Partnerschaften breit aufzustellen. Erst im Dezember war ich beispielsweise in Nigeria, Südafrika und Lesotho, davor in Ägypten, Oman, Katar und der Türkei. Und auch in diesem Jahr stehen buchstäblich alle Kontinente in meinem Reisekalender, und viele Ihrer Staats- und Regierungschefs haben bereits ihre Besuche in unserem Land angekündigt. Ich freue mich darauf, und ich bin dankbar für die verlässlich gute und enge Zusammenarbeit mit Ihnen, den Botschafterinnen und Botschaftern, und mit Ihren Teams. Deutschland ist ein gut vernetztes, ein weltoffenes Land – davon leben wir, und das soll so bleiben, natürlich auch nach der Wahl.
Bei allen Herausforderungen, vor denen wir im neuen Jahr stehen, war es mir ein Anliegen, Sie heute einiger Kontinuitäten zu versichern. Eine letzte, vielleicht die schönste, noch zum Schluss: Auch in diesem Jahr wollen wir Sie wieder zum Diplomatenausflug einladen. Es geht erneut in eines der fünf Bundesländer, die seit 35 Jahren Teil der Bundesrepublik sind: nach Mecklenburg-Vorpommern, an die Ostsee also, die die Berliner seit Jahrhunderten liebevoll als ihre Badewanne bezeichnen. Als Highlight, so viel sei jetzt schon verraten, werden wir gemeinsam die Gorch Fock entern. Das Segelschulschiff ist eine Legende und der Stolz der Deutschen Marine. Ich freue mich, möglichst viele von Ihnen dort an Deck zu haben!
Die Tradition der Neujahrsempfänge gibt es nicht nur hier in Deutschland, sondern an vielen Orten auf der Welt. Und auch wenn sie nicht überall denselben Regeln folgen, verbindet doch alle eines: der Wunsch für ein gutes neues Jahr. In diesem Sinne: Schön, dass Sie heute alle hier sind! Und jetzt freue ich mich auf die Gespräche mit Ihnen.