Festakt zur Eröffnung von "Chemnitz Kulturhauptstadt Europas 2025"

Schwerpunktthema: Rede

Chemnitz, , 18. Januar 2025

"C the Unseen“ – unter diesem Motto ist Chemnitz als Kulturhauptstadt Europas in das Jahr 2025 gestartet. Bundespräsident Steinmeier hat am 18. Januar zum Auftakt eine Rede in Chemnitz gehalten.

Welche Stadt wagt es, sich selbst als "ungesehen" zu bezeichnen? Chemnitz hat es gewagt, und spätestens in diesem Jahr werden wir in Deutschland und in ganz Europa merken: Wer Chemnitz bisher nicht gesehen hat, wer es nicht kannte, der hat viel verpasst.

2025 sollten wirklich alle hinschauen. Chemnitz – die Stadt von Karl Schmidt-Rottluff, Stefan Heym, Marianne Brandt, Kraftklub, Katarina Witt; Matthias Schweighöfer hat hier sein Abitur gemacht; und viele Schauspieler, wie Ulrich Mühe, haben hier ihre Theaterkarriere begonnen – und 38 Kommunen hier in der Region sind Kulturhauptstadt Europas 2025. Wie schön, dass nach fünfzehn Jahren wieder eine Stadt und Region in Deutschland ausgewählt wurden. Darüber freue ich mich sehr! Und Ihnen allen sage ich: Herzlichen Glückwunsch!

"C the Unseen" – das Unentdeckte kennenlernen, das ist das Motto, das Sie als Kulturhauptstadt gewählt haben. Und ich weiß, es gibt hier enorm viel zu entdecken an kultureller Vielfalt – in Chemnitz, in Mittelsachsen, in Zwickau und im Erzgebirgskreis. Daneben, und das ist der zweite Gedanke dieses Kulturhauptstadtjahres, daneben sollen die Menschen eine Bühne bekommen, Menschen, die bisher nicht so sehr im Rampenlicht standen oder sich vielleicht auch ungesehen fühlten.

Und genau diese doppelte Bedeutung des Mottos macht dieses Kulturhauptstadtjahr zu etwas ganz Besonderem: Ja, die Besucherinnen und Besucher können hier Kunst und Kultur genießen und entdecken. Aber sie sollen auch selbst im Mittelpunkt stehen, zu Akteuren werden. Sie sind eingeladen, mitzumachen, aktiv zu werden. Sie können erproben, wie es ist, sich einzumischen. Sichtbar zu werden und etwas zu bewirken.

Ich halte das für ganz entscheidend: Das Kulturhauptstadtjahr bringt Menschen zusammen, die sonst wenig Berührung miteinander haben. Genau das brauchen wir in dieser Zeit so dringend. Um Neugier aufeinander und Vertrauen zueinander wiederzuentdecken. Um eine gemeinsame Sprache wiederzufinden. Um die großen Herausforderungen zu bewältigen, vor denen unser Land und Europa stehen, brauchen wir eine starke Gesellschaft, die sich selbst vertraut. Wir brauchen Menschen, die überzeugt sind: Wir können etwas bewirken – und wir wollen gemeinsam etwas schaffen.

Chemnitz hat Herausforderungen gemeistert, hat Umbrüche erlebt. Allein die zweifache Umbenennung – 37 Jahre lang Karl-Marx-Stadt, dann wieder Chemnitz – steht sinnbildlich für die Erschütterung von Gewissheiten, für Brüche und Neuanfänge. Nicht umsonst nennen Sie sich hier, wo Prag schneller zu erreichen ist als Berlin, eine osteuropäische Stadt in einem westeuropäischen Land.

Aber Chemnitz hat auch – und wer erinnert sich nicht – bittere Erfahrungen mit Extremismus machen müssen. Ich denke vor allem an das Jahr 2018. Die rechtsextremen Ausschreitungen bestimmten plötzlich deutschlandweit das Bild Ihrer Stadt. Ich erinnere mich gut an meinen Besuch im selben Jahr, im November 2018 hier bei Ihnen. Während der Debatte an unserer großen Kaffeetafel im alten Kaufhaus Schocken habe ich gesagt: Wir brauchen Dialog. Aber Dialog kann nur "der Anfang sein […] Denn die Unterschiede, die Gegensätze, die Konflikte, sie werden bleiben." Und wir müssen erwachsen damit umgehen und wissen: Am Ende verbindet uns alle miteinander mehr als uns trennt. Und deshalb lasst uns stärken, was uns verbindet.

Genau darum geht es auch jetzt im Kulturhauptstadtjahr. Aus Unterschieden zu lernen und gemeinsam etwas Zukunftsweisendes zu entwickeln, darauf kommt es jetzt an. Und dafür brauchen wir alle, auch die, die genervt sind vom öffentlichen Streit, und die, die sich zurückgezogen haben. Mit anderen Worten: Alle, denen die Zukunft ihrer Stadt und unseres Landes nicht gleichgültig ist. Ich bin überzeugt: Dort, wo sich die große demokratische Mitte unseres Landes Räume schafft, ist für Verächter der Demokratie kein Platz.

Das gilt hier bei uns. Und das gilt natürlich auch über die Grenzen Deutschlands hinaus. Gemeinsam mit den Nachbarländern und mit der zweiten Europäischen Kulturhauptstadt 2025 Nova Gorica – Gorizia wollen wir zeigen: Europa, das ist und bleibt Einheit in Vielfalt. Gemeinsamkeit trotz der Unterschiede. Auch das werden wir dieses Jahr hier in Chemnitz in vielen Projekten erleben.

Das gedruckte Programm der Europäischen Kulturhauptstadt 2025 liegt fast ziegelsteinschwer in der Hand und gibt doch das Gefühl von großer Leichtigkeit. Die Bandbreite der Veranstaltungen ist wirklich beeindruckend: Garagen werden zu Ateliers, Menschen versammeln sich zum Platten-Picknick oder zum Kulturhauptstadt-Marathon, beim Spielzeugmacher- oder beim Strickfestival, oder sie tanzen Hip Hop. Der Kunst- und Skulpturenweg "Purple Path" verbindet Chemnitz und die Partnerkommunen im Umland mit Skulpturen und Installationen von renommierten Künstlerinnen und Künstlern, unter ihnen auch der aus Dresden gebürtige Olaf Holzapfel, dem ich jeden Tag begegne, weil in der Galerie von Schloss Bellevue gerade eine Arbeit von ihm hängt. Und erwähnen möchte ich auch die Bergbau-Ausstellung "Silberglanz & Kumpeltod". Ich habe dafür sehr gern die Schirmherrschaft übernommen – und auch "etwas Kohle locker gemacht", genauer gesagt: das letzte Stück Steinkohle, das in Deutschland gefördert wurde und das mir die Bergleute im Dezember 2018 in Bottrop im Ruhrgebiet in einer bewegenden Feier überreicht haben. Dieses Stück Kohle findet sich jetzt in der Ausstellung und wird dann ins Haus der Geschichte gehen. Nur ein Stück Kohle, aber es steht für eine Epoche, die Landschaften, Arbeit und Menschen geprägt hat, und es steht für Veränderung und Aufbruch in Neues.

Es ist eine Fülle an Veranstaltungen, an Möglichkeiten, die in diesem Kulturhauptstadtjahr vor uns liegen. Einiges wird erst in dem Moment sichtbar werden, in dem die Menschen es gemeinsam erschaffen. Aber genau für dieses Miteinander wird die Kulturhauptstadt Chemnitz ein unübersehbares Signal aussenden. Ein Signal, das wir in Deutschland und in Europa so dringend brauchen.

Ich wünsche Ihnen, dass viele, viele Besucherinnen und Besucher die Begeisterung, die jetzt schon zu spüren ist, vervielfachen und hinaustragen in unser ganzes Land. Viel Erfolg für Chemnitz Kulturhauptstadt Europas 2025!