Die Ausstellung, die wir heute Abend eröffnen, bewegt uns als Kunstliebhaber ebenso wie als demokratische Zeitgenossen. So habe ich es jedenfalls vorhin empfunden, als ich die wirklich wunderbaren Bilder aus Odesa* drüben in der Wandelhalle der Gemäldegalerie gemeinsam mit meiner Frau und einigen wenigen anderen schon einmal bestaunen durfte.
Da hängen sie nun in all ihrer Schönheit, die Meisterwerke der europäischen Malerei aus dem Museum für Westliche und Östliche Kunst in Odesa. Die meisten von ihnen sind zum ersten Mal überhaupt hier in Berlin zu sehen. Zum Beispiel das Stillleben von Cornelis de Heem, dem niederländischen Meister des 17. Jahrhunderts, das mich eben bei meinem Rundgang besonders beeindruckt hat: ein barockes Prunkwerk mit Früchten und orangerotem Hummer, dessen Farben auf dunklem Hintergrund leuchten. Direkt daneben hängt ein ganz ähnliches Stillleben aus der Sammlung der hiesigen Gemäldegalerie, das Cornelis‘ Vater, Jan Davidzoon de Heem, gemalt hat. Bildpaare wie dieses verschaffen uns neue kunsthistorische Einsichten, und sie führen uns vor Augen, wie viele Verbindungen es zwischen den Sammlungen in Odesa und Berlin gibt, wie sehr sie sich mit Blick auf Künstler, Gattungen und Sujets ähneln.
Was man aber den Kunstwerken aus Odesa nicht ansehen kann, das ist die dramatische Geschichte ihrer Rettung nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Allein die Tatsache, dass die meisten Bilder keinen Zierrahmen, sondern nur einen schlichten Holzrahmen haben, ist ein sichtbarer Hinweis darauf, dass es sich bei ihnen nicht um Leihgaben handelt, wie sie bei großen Gemäldeschauen üblich sind. Es ist deshalb das große Verdienst dieser Ausstellung, dass sie auch beleuchtet, was die Meisterstücke aus dem Museum in Odesa für die Menschen in der Ukraine bedeuten, wie sie nach Berlin gebracht wurden, um sie vor russischen Bomben und Raketen zu schützen – und wie wichtig es ist, dass wir die Ukrainerinnen und Ukrainer weiterhin dabei unterstützen, auch ihre kulturelle Heimat zu verteidigen.
Als Kunstfreund und als Bundespräsident habe ich deshalb sehr gern die Schirmherrschaft übernommen. Und ich freue mich, dass wir die Ausstellung heute Abend gemeinsam eröffnen können. Was für ein schöner Moment der deutsch-ukrainischen Freundschaft!
Diese Ausstellung macht uns bewusst: Russlands blutiger Angriffskrieg ist auch ein Krieg gegen die Kultur der Ukraine. Die wunderschöne Altstadt von Odesa, die ich auch liebe und in der sich das Museum für Westliche und Östliche Kunst befindet, wird immer wieder mit Raketen beschossen, die berühmte Verklärungskathedrale wurde schwer getroffen. Und das ist nur ein Beispiel von vielen. In zahllosen anderen ukrainischen Städten wurden und werden in diesem Krieg Baudenkmäler beschädigt, Kultureinrichtungen zerstört, Kunstwerke geraubt.
Die Angriffe auf Museen, Theater, Opern und Bibliotheken zielen darauf ab, das kulturelle Gedächtnis der Ukraine auszulöschen. Sie zielen auf vieles von dem ab, was Ukrainerinnen und Ukrainer über Generationen hinweg miteinander verbindet, was sie lieben und schätzen, was ihnen Halt und Orientierung gibt, was ihnen zur kulturellen Heimat geworden ist – so wie das "Stillleben mit Hummer" aus dem Museum für Östliche und Westliche Kunst in Odesa, das viele Menschen in der Ukraine kennen und das als Poster oder Postkarte in mancher Küche hängt.
Diese Ausstellung macht uns aber zugleich bewusst, mit welcher Entschlossenheit, mit welchem Mut und welcher Kraft die Ukrainerinnen und Ukrainer auch ihre kulturelle Heimat verteidigen. Sie, lieber Herr Poronyk, und Ihre Mitarbeiter haben nach dem 24. Februar 2022 sofort damit begonnen, Ihr Museumsgebäude mit Sandsäcken zu schützen; Sie haben die Bilder von den Wänden genommen, in Kisten verpackt, die kostbarsten Stücke in ein Notlager bringen lassen. Und Sie haben dann Ihre Kollegen hier in der Alten Nationalgalerie und in der Gemäldegalerie um Hilfe gebeten, weil die Kunstwerke in diesem Notlager nicht sicher waren und zu schimmeln drohten.
So wie Sie engagieren sich unzählige Menschen überall in der Ukraine unermüdlich, um das kulturelle Erbe ihres Landes zu bewahren, und das nun seit drei langen Jahren. Sie bringen Gemälde, Skulpturen und Bücher in Sicherheit; sie machen sich auf die Suche nach gestohlenen Werken; sie dokumentieren jedes Detail von bedrohten Baudenkmälern, um sie notfalls originalgetreu wieder aufbauen zu können.
Viele helfen auch mit, das Kulturleben trotz des Krieges am Laufen zu halten. Sie, lieber Herr Poronyk, liebe Frau Gliebova, haben im vergangenen Jahr den 100. Geburtstag Ihres Museums gefeiert, in Abwesenheit des eigentlichen Jubilars, der Gemäldesammlung. Sie und viele Kollegen organisieren wieder kleinere Ausstellungen mit zeitgenössischer Kunst – wobei immer gerade so viele Besucher ins Museum dürfen, wie auch in den Luftschutzraum passen. Andere entwickeln virtuelle Touren, damit ihre Meisterwerke nicht in Vergessenheit geraten. Oder sie kümmern sich darum, dass der Betrieb in Theatern oder Konzertsälen weitergehen kann.
All diese Menschen bringen Licht in eine Zeit der Dunkelheit. All diese Menschen sorgen dafür, dass Ukrainerinnen und Ukrainer immer wieder neue Kraft, neuen Mut, neue Zuversicht schöpfen können. Und all diese Menschen brauchen weiterhin unsere Unterstützung!
Ich danke den vielen in unserem Land, die sich für den Erhalt des kulturellen Erbes der Ukraine einsetzen. Und ich danke ganz besonders Ihnen hier im Saal, die auf deutscher und auf ukrainischer Seite mitgeholfen haben, die Bilder von Odesa nach Berlin zu bringen, sie zu restaurieren, für diese Ausstellung fit zu machen und sie hier auszustellen in den kommenden fünf Monaten in der Gemäldegalerie, von Herbst an dann im Kurpfälzischen Museum in Heidelberg.
Sie alle zusammen rücken die vielfältigen Verbindungen der Ukraine zur westeuropäischen Kultur in den Blick. Sie leben und vertiefen die Freundschaft zwischen unseren Ländern. Und Sie stärken nicht zuletzt die Solidarität mit der Ukraine! Ihnen allen meinen ganz herzlichen Dank!
Ich wünsche mir, dass diese Ausstellung von vielen Menschen aus Deutschland, aus Europa, möglichst der ganzen Welt gesehen wird, dass sie ganz unterschiedliche Besucher miteinander ins Gespräch bringt. Ich wünsche mir, dass Ukrainerinnen und Ukrainer, die bei uns Zuflucht gefunden haben, in den Bildern ein Stück Heimat finden. Vor allen Dingen aber wünsche ich mir, dass das "Stillleben mit Hummer" und all die anderen Bilder schon bald wieder dorthin zurückkehren können, wo sie hingehören: in das Museum für Westliche und Östliche Kunst in Odesa, in eine freie und unabhängige Ukraine, in der sich niemand mehr vor Bomben und Raketen fürchten muss.
Damit dieser Wunsch Wirklichkeit wird, braucht die Ukraine weiter unsere Unterstützung. Lieber Herr Tochytskyi, die Ukraine kann sich weiter darauf verlassen: Wir Deutsche stehen an ihrer Seite – natürlich bei der Verteidigung ihrer Freiheit und ihrer Unabhängigkeit, aber eben auch beim Schutz ihres kulturellen Erbes, auf dem Weg zu einem gerechten Frieden und einer Zukunft in der Europäischen Union.
* in Anlehnung an die ukrainische Schreibweise