Wir sind heute zur Feier Ihres Jubiläums zusammengekommen, aber wir sollten es einleiten mit dem Gedenken an jemanden, der es verdient hat: Am frühen Morgen erreichte uns die traurige Nachricht, dass Horst Köhler, der neunte Bundespräsident und gleichzeitig zwischen 2004 und 2010 Schirmherr der Studienstiftung, verstorben ist. Das hat mich tief betroffen gemacht, weil ich vor gar nicht langer Zeit während des Besuches von US-Präsident Biden in Berlin noch die Gelegenheit hatte, mit ihm zu sprechen. Er schaute mit seiner üblichen lakonischen und witzigen Art mit viel Optimismus in die Zukunft und mit Zuversicht auf sein eigenes Land. Ich bin mir sicher: Viele Menschen denken heute nicht nur an ihn, sondern die Menschen in Deutschland trauern um ihren ehemaligen Bundespräsidenten. Er hat Großes für unser Land geleistet, und gerade mit Blick auf Afrika hat er etwas bewirkt in der Welt. Deshalb wollen wir sein Andenken bewahren. Ich darf Sie bitten, sich alle zum Gedenken an Horst Köhler zu erheben.
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Meine Damen und Herren, 100 Jahre Begabtenförderung durch die Studienstiftung des deutschen Volkes – was für eine Erfolgsgeschichte! Ich möchte Ihnen als allererstes von ganzem Herzen gratulieren, und ich freue mich sehr, dass ich als Schirmherr der Studienstiftung heute mit Ihnen dieses besondere Jubiläum feiern kann.
Bitte begleiten Sie mich zunächst auf eine kleine Zeitreise. Vor 100 Jahren, 1925: Historiker bezeichnen dieses Jahr gerne als das Schlüsseljahr der Weimarer Demokratie; im Februar starb der erste Reichspräsident Friedrich Ebert, Anfang April ist die SS gegründet worden, Ende April ist Hindenburg zum Reichspräsidenten gewählt worden, und vieles von dem, was später nach dem Ende der Weimarer Republik geschah, hat seinen Ursprung in diesem Schlüsseljahr. Genau in diesem Jahr, am 29. Januar 1925, beschließt der Vorstand der "Wirtschaftshilfe der deutschen Studentenschaft" die Gründung der "Studienstiftung des Deutschen Volkes". Die Gründer der Studienstiftung sorgte vor allem die schwierige Lage an den deutschen Universitäten. Nach dem Ersten Weltkrieg und der Hyperinflation von 1923 wussten gerade Studentinnen und Studenten aus der Mittelschicht oft kaum, wie sie über die Runden kommen sollten. Und so entstand die Idee der Begabtenförderung, eine damals unerhört moderne Idee. In der Gründungsdenkschrift von 1924 wird von wertvollen, mittellosen Studierenden
gesprochen, die unterstützt werden sollten. Verbunden war dies mit dem Wunsch, für Deutschland neue und wertvolle, helfende und aufbauende Kräfte
zu gewinnen.
Wertvolle, helfende, aufbauende Kräfte – das wäre heute nicht unbedingt unsere Wortwahl, aber dieses Ziel der Studienstiftung ist unverändert aktuell. Dass heute deutlich mehr Menschen in den Genuss einer Förderung kommen als vor 100 Jahren, das ist eine gute Nachricht. Knapp 15.000 Stipendiatinnen und Stipendiaten unterstützen Sie, das größte Begabtenförderungswerk in unserem Land, derzeit – und das überwiegend über Steuergelder finanziert. Die Allgemeinheit zahlt also für einige wenige Begabte. Hin und wieder, nicht nur gegenüber der Studienstiftung, wird gefragt: Hat das eigentlich seine Rechtfertigung? Ich finde: Das ist gerechtfertigt.
Denn es geht ja nicht, wie manche meinen, um die Pflege von Privilegien oder die Gewährleistung von individuellem Luxus, sondern es geht darüber hinaus. Gerade Deutschland kann und muss es sich leisten, begabte junge Menschen in Studium und Promotion zu fördern. Unsere Ressourcen sind unsere Köpfe. Ohne diese Köpfe, die vorausdenken, die Dinge vorantreiben, die für scheinbar Unmögliches Lösungen finden, ohne solche Menschen käme unser Land nicht voran.
Ein Stipendium – das kann ich aus eigener Erfahrung sagen – erleichtert es, sich aufs Studium oder die Promotion zu konzentrieren, wenn man nicht in den Semesterferien irgendwo am Fließband stehen muss oder jeden Abend irgendwo kellnern oder am Bierhahn stehen muss. Es kommt aber noch etwas ganz Wichtiges hinzu: Ein Stipendium – wem sage ich das – ermöglicht Begegnungen. Begegnungen mit Stipendiaten und auch renommierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus anderen Fächern.
Schon ein Blick in das virtuelle Gästebuch, das Sie zum Jubiläum online gestellt haben, zeigt: Die meisten Ihrer Stipendiaten schwärmen genau davon, von den Begegnungen. Einen Eintrag möchte ich hier gern wiedergeben: Mich persönlich hast du
– gemeint ist damit die Studienstiftung – auf dem wichtigen Weg vom Physik-Nerd zum vielseitig interessierten Menschen begleitet und geleitet.
Das ist der Wesenskern der Begabtenförderung: Nicht nur Brillanz im eigenen Fach entwickeln, sondern den Horizont öffnen. Begegnung heißt hier: Austausch und Auseinandersetzung. Mindestens so produktiv wie die Debatte zwischen philosophischen Denkschulen kann doch die zwischen Mathematikern und Literaturwissenschaftlern sein. Für solch interdisziplinäres Nachdenken machen Sie Angebote. Was die Studienstiftung hingegen nicht bieten kann und will, sind irritationsfreie Räume
. Sie wollen die Irritation, Sie wollen hinterfragen, Sie wollen die Sicht auf Dinge aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Ich bin überzeugt: Weit über die Studienstiftung hinaus – solche Räume brauchen wir.
Wo, wenn nicht an den Universitäten, können Debatten mit Wissen und Vernunft geführt, vorangetrieben, ausgetragen werden? Miteinander im Gespräch zu bleiben, für die eigene Überzeugung zu streiten, ohne sie absolut zu setzen, andere Meinungen zuzulassen – das ist vielerorts verloren gegangen, bisweilen auch an Schulen und Hochschulen. Schwarz-Weiß ersetzt zuweilen die Farbigkeit früherer Debatten, getrieben von den sozialen Medien. Die Sucht nach Eindeutigkeit lässt uns manchmal unfähig werden, mit dem noch Unfertigen, dem noch nicht ganz Geklärten zu leben, Ambiguitäten und Ambivalenzen auszuhalten. Aber wir werden das weiterhin müssen. Diese Verengung unserer Debattenkultur macht mir Sorge. Kontroversen auszutragen und auszuhalten und im Kontrahenten nicht einen Feind, sondern einen Menschen mit einer anderen Auffassung zu sehen – das zu lernen, ist für Studierende genauso wichtig wie korrekte wissenschaftliche Analyse. Denn von Kontroversen lebt ja nicht nur die Wissenschaft, davon lebt auch die Demokratie, jedenfalls wenn solche Kontroversen mit Anstand und Respekt geführt werden und bei alledem die Selbstverpflichtung zur Wahrhaftigkeit die Grundlage ist.
In der Studienstiftung stärken Sie diese Debatten auch durch das Miteinander von Stipendiaten von Universitäten und Fachhochschulen und neuerdings auch mit der beruflichen Begabtenförderung. Ich halte das für sehr wichtig, und zwar aus zwei Gründen: Mehr Wertschätzung für die berufliche Bildung ist überfällig; und wir brauchen dringend wieder einen stärkeren Austausch in der Gesellschaft über Lebenswelten hinweg. Ohne ein Mindestmaß an sozialer Kohäsion in einer Gesellschaft wird Demokratie es heute und erst recht in Zukunft schwer haben – einer der Gründe, weshalb ich sehr dafür plädiert habe, dass wir uns Gedanken über eine soziale Pflichtzeit machen, in der jeder einmal im Leben mit Leuten zusammenkommt, die er sonst nicht getroffen hätte.
Wie kann uns der Austausch über Lebenswelten hinweg gelingen? Ein entscheidender Baustein dafür ist Bildung – Bildung auch in der Breite. Jedes Kind muss gleichwertigen Zugang zu Bildung haben. Denn Deutschland kann es sich schlicht nicht leisten, dass Talente unentdeckt bleiben. Das gilt gerade auch für Familien, die nicht schon seit Generationen in unserem Land wohnen. Wir müssen viel mehr dafür tun, um den Bildungserfolg von frühester Kindheit an stärker von der sozialen Herkunft zu entkoppeln. Was wir in Deutschland brauchen, ist nicht nur eine exzellente Grundlagenforschung. Wir brauchen auch eine exzellente Grundlagenbildung.
Ich sage das aus eigener Erfahrung. Ich bin ein Kind der Bildungsreform der späten 1960er und frühen 1970er Jahre in Westdeutschland. Das Schüler-Bafög war gezielt so angelegt, dass man gerade die Familien, in denen das Abitur nicht selbstverständlich war, ermutigte, die Kinder auf die Oberschule zu schicken. Ohne dieses Schüler-Bafög hätte ich kein Abitur gemacht. Und ohne das Studien-Bafög hätte ich vermutlich nie eine Universität von innen gesehen. Das Bafög war für mich die entscheidende Ermutigung, den Schritt an die Universität zu wagen. Dass ich dann zwei Jahre später in den Genuss der Förderung einer Stiftung kam, das konnte man vorher noch nicht ahnen.
Meine Damen und Herren, in Ihrem Leitbild heißt es: Besondere Begabung ist mit besonderer Verantwortung verbunden.
Ihr erklärtes Ziel ist, dass die Stipendiatinnen und Stipendiaten dem Land etwas zurückgeben, etwa indem sie sich gesellschaftlich engagieren – was die Studienstiftung mit dem Engagementpreis ausdrücklich fördert. Oder indem sie später beruflich an Stellen arbeiten, die wichtig für unser Land sind.
Verantwortung für das Land – dieser Gedanke leitete schon die Gründungsväter der Studienstiftung. Es gibt allerdings einen entscheidenden Unterschied zwischen damals und heute: In ihren Anfängen war die Studienstiftung zwar überparteilich wie heute, aber zugleich auch demokratieneutral
. Das erwies sich am Ende der Weimarer Republik als verhängnisvoll. 1933 wurde die arische Abstammung
zum Auswahlkriterium. Die jüdischen Stipendiaten wurden suspendiert, sprich: hinausgeworfen, die Studienstiftung ein Jahr später aufgelöst. Ihre Neugründung nach dem Zweiten Weltkrieg, nach den Verbrechen der Deutschen in der NS-Zeit fand hingegen in einem demokratischen und europäischen Geist statt. Der Aufbau der Demokratie und der Wiederaufbau des geistigen Lebens
wurden zusammengedacht.
Heute müssen wir vielleicht neu feststellen, was wir hätten wissen können: Unsere Demokratien sind nicht auf ewig garantiert. Seit einigen Jahren erleben wir, wie in Europa und auch in unserem Land die Demokratie wieder unter Druck gerät. Ich begrüße es daher sehr, dass die Studienstiftung 2023 daraus Konsequenzen gezogen hat: Sie wahren Ihre parteipolitische und konfessionelle Unabhängigkeit, aber neutral sind Sie unter einem Aspekt eben nicht – nämlich dann, wenn es um die Sache der Demokratie selbst geht. Wer die freiheitlich-demokratische Grundordnung ablehnt
, den fördern Sie nicht. Die Verantwortung für unser Land, die Sie von Ihren Stipendiatinnen und Stipendiaten einfordern, bedeutet eben, parteiisch zu sein für die Demokratie, besser noch: durch das Engagement für die Demokratie. Genau das ist die Haltung, die wir jetzt – und nach dieser zurückliegenden Woche im Bundestag muss ich sagen: mehr denn je – brauchen, um unsere Demokratie zu schützen und zu stärken!
Aus Begabung Zukunft machen
lautet das Motto für Ihr Jubiläum. Zukunft machen, das muss unser ganzes Land, und es muss dafür sein geistiges Potenzial ausschöpfen. Sie, die seit Jahrzehnten begabte junge Menschen fördern, leisten dafür einen ganz wichtigen Beitrag, und dafür danke ich Ihnen heute!
Lassen Sie mich zum Schluss noch einmal einen Eintrag aus Ihrem Gästebuch zitieren: Du hast mir letztlich einen Motivationsschub fürs Leben gegeben und mich den intellektuellen Austausch und das tiefe Nachdenken gelehrt.
Meine Bitte an Sie ist: Lassen Sie nicht nach in Ihren Anstrengungen, junge Menschen "tiefes Nachdenken" zu lehren! Davon profitieren die Stipendiatinnen und Stipendiaten, auch die Stiftung, und davon profitiert unser ganzes Land.
Deshalb noch einmal herzlichen Glückwunsch! Ad multos annos!