Wir nehmen Abschied von Bundespräsident Horst Köhler. Trauer und Dankbarkeit bewegen uns heute hier im Berliner Dom. Trauer darüber, dass wir einen Menschen verloren haben, der uns oft mit so großer Freundlichkeit und Zugewandtheit begegnet ist. Und Dankbarkeit für einen tatkräftigen und bis in die letzten Tage seines Lebens unermüdlichen Diener unseres Gemeinwesens. Der für uns in Deutschland so viel geleistet und der in aller Welt Freunde und Partner gesucht und gefunden hat.
Unsere Gedanken gehen in dieser Stunde zuerst an Sie, liebe Frau Köhler, Ihre Kinder und die ganze Familie. Ohne Sie, Frau Köhler, wäre das Wirken Ihres Mannes nicht denkbar gewesen. Wie oft haben wir im Laufe der Jahre mit Ihnen zwei Menschen erlebt, die einander, für jeden sichtbar, in Liebe verbunden waren. Noch einmal kommt manchem das Bild in den Sinn, als Sie beide beim ersten Besuch von Benedikt XVI. in Deutschland auf dem Kölner Flughafen Hand in Hand, in so selbstverständlicher Vertrautheit, auf die Ankunft des Papstes warteten. Das hat damals, wie ich weiß, sehr viele Zuschauer sehr berührt.
Liebe Frau Köhler, wir können Ihren Schmerz nur erahnen, und wir danken Ihnen für alles, was Sie für Ihren Mann – und damit mittelbar auch für uns alle – getan haben, für das, was sie ihm gewesen sind. Dass Sie selber als First Lady einen ganz eigenen Beitrag zum Gelingen der Amtszeit geleistet haben, das ist zum Beispiel an der Gründung der wesentlich von Ihnen mitgetragenen und bis heute so segensreichen "Eva Luise und Horst Köhler Stiftung" ablesbar.
Und wir denken an Sie, an die Kinder und Enkel. Was Sie ihm bedeutet haben, das wissen Sie besser als wir alle. Wir sind Ihnen heute besonders verbunden.
Ich beginne mit der Familie, weil Horst Köhler ein Familienmensch war und selbst aus einer großen Familie stammte, mit vielen Geschwistern. Es war ein Familienleben in schwerer Zeit, mitten im Krieg. Schon bald nach seiner Geburt in Polen floh die Familie vor der näher rückenden Front zuerst nach Sachsen, dann weiter über Berlin in die Bundesrepublik. Jahre in Flüchtlingslagern und Flüchtlingseinrichtungen prägten die frühe Kindheit, und schließlich fand er mit seiner Familie im Schwäbischen, in Ludwigsburg, eine neue Heimat.
Wer auf diese Anfänge schaut, kann erahnen, wie Horst Köhler kämpfen musste, wie diszipliniert und fleißig er sich um alles mühen musste, um eines Tages zum dem zu werden, der er geworden ist. Gelegentlich betonte er seine Verbundenheit mit dem großen, freiheitsliebenden Dichter seiner Heimat, mit Friedrich Schiller. Aber das Gymnasium mit dem Namen dieses Dichters, das Schiller-Gymnasium, das sei eher für die besseren Kreise seiner Stadt gewesen, erzählte er. Es war letztlich die Durchsetzungskraft dieses weniger Privilegierten, die dann auch dem Absolventen des Mörike-Gymnasiums diese erstaunliche und respekteinflößende Biographie ermöglichte.
Gleichzeitig hat er gewusst, dass er seine späteren Erfolge auch den besonderen Aufstiegsmöglichkeiten eines durchlässigen und Begabung fördernden Gemeinwesen verdankte. Die Aufstiegsgeschichte Horst Köhlers ist auch eine paradigmatische Geschichte der jungen Bundesrepublik, die es möglich machte, dass aus einem Flüchtlingskind der Geschäftsführende Direktor des Internationalen Währungsfonds in Washington und schließlich Bundespräsident dieser Bundesrepublik Deutschland werden konnte.
In seiner Antrittsrede 2004 hatte Horst Köhler davon gesprochen, dass er diesem Land, dem er so viel verdanke, etwas zurückgeben möchte. Und als er dann bekannte: Ich liebe unser Land
, da schwang sicher viel persönliche Erinnerung mit. Mehr aber noch ein unaufgeregter Patriotismus, geprägt von der Überzeugung: Es sollen auch weiterhin möglichst viele hier solche Chancen ergreifen können, wie sie sich ihm geboten haben.
Wenn wir heute dankbar sind für Horst Köhler und seinen Dienst an unserem Land, dann erkennen wir damit auch eine Verpflichtung: dieses Land in seinem Sinne zu bewahren und als höchst lebenswerten Ort auch den zukünftigen Generationen zu erhalten.
Als Horst Köhler am 23. Mai 2004 zum neunten Bundespräsidenten gewählt wurde, kannten ihn das politische Berlin und alle, die nahe an der Politik waren; der breiteren Öffentlichkeit war er noch wenig bekannt. Aber wie schnell hat er die Herzen der Deutschen gewonnen: durch sein einladendes Lachen, durch seinen Optimismus, durch sein beherztes und unbefangenes Zugehen auf alle, die ihm begegneten.
Und wie schnell hat er auch den Verstand seiner Zuhörer erreicht, wenn er immer wieder von den Chancen sprach, die dieses Land bereithält. Wenn er es sich als ein Land der Ideen
wünschte, wenn er den Einfallsreichtum, die Kreativität und die Einsatzbereitschaft seiner Menschen herausstellte. Nicht etwa um die Stärkeren noch stärker zu machen, sondern gerade um dazu zu ermutigen, die Schwächeren nicht zu vergessen, niemanden am Rand liegen zu lassen. Genau das war auch sein Motiv, wenn er sich für gute und gerechte Bildungs- und Familienpolitik einsetzte.
Vielleicht war dieses Engagement auch deshalb besonders glaubwürdig und eindrücklich, weil es von einem Mann ausging, der bis dahin vor allem mit komplizierten, äußerst sensiblen finanzpolitischen Aufgaben befasst war. Die wirtschaftlich-finanziellen Aspekte bei den Verhandlungen über den Vertrag zur Deutschen Einheit, die Aushandlung des Maastricht-Vertrages mit der Einführung der Europäischen Währungsunion, die Verhandlungen über den Abzug der sowjetischen Truppen aus Deutschland – bei all dem war Horst Köhler ja einer der Hauptakteure gewesen, bevor er dann bei der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung und schließlich beim IWF auch globale Verantwortung wahrnahm.
Wenn also ein Mann der harten ökonomischen Rationalität gerade auch Themen wie Familie und Bildung für zukunftsentscheidend hielt, dann musste ja vielleicht an diesen zu Unrecht so bezeichneten "weichen Themen" doch etwas Ernstes dran sein.
Und schon bald nach seinem Amtsantritt stellte Horst Köhler seine Weltethos-Rede in Tübingen unter die ethisch herausfordernde Leitfrage: Was gehen uns andere an?
Dabei erinnert er an das christliche Erbe Europas, das den Kontinent zutiefst geprägt habe. Und er hält fest, trotz aller Barbarei, trotz aller Verletzungen der Zivilisation: Das Gebot der Nächstenliebe, die den Fremden einschließt und besonders den Ärmsten im Blick hat, das ist nicht mehr verschwunden. Es bleibt das Gewissen Europas.
Und das gilt nicht nur "unter uns". Über die Hälfte dieser Rede widmete Horst Köhler Afrika, jenem Kontinent, an dem sein Herz hing und von dem er schon in seiner Antrittsrede gesagt hatte: Für mich entscheidet sich die Menschlichkeit unserer Welt am Schicksal Afrikas.
Er beließ es in dieser Tübinger Rede nicht bei abstrakten ethischen Grundsätzen. Er buchstabierte vom Großen ins Kleine durch, was eine politisch-ethische Haltung, die den anderen als Partner begreift, für unser Verhältnis zu Afrika bedeuten müsste. Hier sprach kein weltentrückter Träumer, sondern ein mit den weltweiten Finanzmärkten, mit ökonomischen Interdependenzen, mit Schulden und Subventionen, mit Handelshemmnissen und dem globalen Marktgeschehen vertrauter Fachmann mit langjähriger internationaler Erfahrung.
Und dann blitzt doch, am gleichen Tag, auch noch ein Stück sehr frühen idealistischen Engagements auf: Mit Ihnen, verehrte Frau Köhler, besucht er nach der Tübinger Rede im nahen Herrenberg jenen "Dritte-Welt-Laden", wie man damals noch sagte, den Sie gemeinsam – Jahrzehnte zuvor – mitgegründet hatten, und Sie trafen dort Freunde und Mitstreiter von früher. Wie ein fernes Echo klingen so die Worte Schillers aus Don Carlos nach: Sagen Sie ihm, dass er für die Träume seiner Jugend soll Achtung tragen, wenn er Mann sein wird.
Horst Köhler hat diese Achtung bewahrt.
Partnerschaft mit Afrika – durch dieses Engagement ist Horst Köhler in weiten Teilen Afrikas zu einem nicht nur sehr geschätzten, sondern auch glaubwürdigen Vertreter Europas geworden. Und hier bei uns hat er den Blick auf Afrika entscheidend verändert. Afrika wurde auch durch sein Wirken vom Objekt zum Subjekt geopolitischer Diskurse
– so die bezeichnende Überschrift eines Redeentwurfs, den er noch wenige Tage vor seinem Tod gebilligt hat.
Nicht nur in seinem nie nachlassenden Engagement für Afrika wird eine markante Kontur von Horst Köhlers Amtszeit erkennbar, dass nämlich ethische Maximen und praktische Politik zusammengehören und auch zusammenpassen. Wieder und wieder und bis zum Schluss ist das ein Cantus firmus seines öffentlichen Wirkens, seiner Mahnungen und Erklärungen, seiner Appelle und seines Werbens für konkrete Antworten auf die immer aktuelle Frage: Was gehen uns andere an?
Um auf diese Weise glaubwürdig wirken zu können, galten für Horst Köhler Wahrhaftigkeit und Integrität, vor allem die Übereinstimmung von Reden und Tun als unabdingbar. Er machte es sich nie leicht. Weil er immer wusste, dass er, wie jeder andere in hohen Ämtern, nicht alles allein überblicken oder gar aus reiner Intuition oder einigermaßen gutem Willen richtig entscheiden konnte. Deshalb holte er sich Rat, informierte er sich so umfassend wie irgend möglich.
Wenn er aber dann den Eindruck hatte, nach bestem Wissen und Gewissen zu einer Entscheidung gekommen zu sein, die er vor sich selbst und vor anderen vertreten könne, dann vertrat er sie auch – mit Gradlinigkeit und mit großer Ernsthaftigkeit. So war es beispielsweise 2005, als er die Entscheidung über die Auflösung des Bundestages zu treffen hatte. Ich erinnere mich gut an die von großer Nachdenklichkeit und Verantwortung geprägten Gespräche mit ihm. Und so war es bei Gesetzen, auch bei solchen, die er nach sorgfältiger Prüfung nicht unterschrieb, oder bei Entscheidungen über Begnadigungen.
Horst Köhler war geprägt von seinem christlichen Glauben. Den trug er nicht demonstrativ vor sich her, weil er ihm zu selbstverständlich war. Aber immer wieder konnte man spüren, dass hier die Kraftquelle seines Lebens und seines Engagements lag.
Er war evangelisch; ohne jeden Zweifel aber war er auch entschieden ökumenisch gesinnt. Das sagte Horst Köhler gelegentlich auch öffentlich – auch dem Papst gegenüber, über dessen Wahl, als erster Deutscher seit Jahrhunderten, er sich ehrlich gefreut hat. Beim Weltjugendtag in Köln, einem der großen Ereignisse seiner Amtszeit, war er bei den unterschiedlichsten Veranstaltungen dabei. Sofort danach fuhr er, ohne großes Aufheben, zum Requiem für den ermordeten Frère Roger, dem Gründer der ökumenischen Gemeinschaft von Taizé. Er war dort als einziges Staatsoberhaupt, aber reihte sich einfach ein in die Gemeinschaft der trauernden Gläubigen. Auch das war Horst Köhler.
Nicht viel Aufhebens um die eigene Person oder um das Amt machen – das war die Art, wie Horst Köhler auf die Menschen zuging. Ob es eben der Papst war oder die Mitarbeiter einer Obdachlosenhilfe, ob es Künstler waren wie Herta Müller oder Walter Kempowski, ob es die vielen Pfadfinder waren, denen er zum hundertjährigen Gründungsjubiläum für einige Tage den Park von Schloss Bellevue zum Zelten überließ: Er freute sich ganz einfach an anderen, auch daran, Lebensentwürfen und Denkweisen zu begegnen, die vielleicht nicht seine waren.
Ja, Horst Köhler war berührbar – aber er ließ sich nicht blenden. Weder forsches Auftreten noch Ämter und Titel, weder internationaler Ruhm noch Schmeicheleien konnten ihn beeindrucken. Es war immer der Mensch, sein lebendiger guter Kern, der ihn für sich einnehmen konnte.
Und immer wieder waren es vor allem die Verletzten, die Trauernden, die auf Hilfe Angewiesenen, die Schwerkranken und Menschen mit Behinderungen, denen seine ganze Zuneigung, seine ganze Hinwendung, ja, auch seine spontane Umarmung galt. Ob in Bethel oder bei den Paralympics oder wo immer er ihnen begegnete: Hier zeigte Horst Köhler seine tief von innen kommende Zuwendung.
Berührbar war Horst Köhler auch, wenn es um die Verbrechen ging, die Deutsche und Deutschland in den Zeiten der Diktatur, des Krieges und des Holocausts über Millionen Menschen gebracht haben. Das Leid, das so viele erfahren hatten, hat ihn zutiefst bedrückt, wo immer er damit konfrontiert wurde. Die Erinnerung daran war ihm nicht Pflicht, sondern Herzenssache.
Und gerade, weil seine eigene Familiengeschichte mit der Besetzung Polens, mit mehrfacher Vertreibung und Flucht verbunden ist, hat er besonders die Versöhnung, ja die Freundschaft mit Polen zu einem seiner wichtigsten Themen gemacht. Als Bundespräsident führte ihn seine erste Reise nach Warschau, und in seinen letzten Lebensjahren ist er in und für Polen noch einmal besonders aktiv gewesen. Dass er 2023 mit dem Jan Karski Eagle Award ausgezeichnet wurde, hat ihn sehr gefreut. Am Ende seiner Dankesrede steht seine Mahnung: Lasst nicht zu, dass sich die Abgründe der Geschichte wiederholen. […] Achtet aufeinander und pflegt die Zusammenarbeit und Freundschaft.
Wir Deutsche trauern um Horst Köhler. Wir sind dankbar, dass er unter uns und für uns gewirkt hat. Wir vermissen ihn. Uns tröstet die Erinnerung, nicht zuletzt die an sein Lachen. Wir werden ihn nicht vergessen.