"Wir müssen die Zeit der Pandemie aufarbeiten"

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 14. März 2025

Bundespräsident Steinmeier setzt sich für eine transparente Aufarbeitung der Corona-Zeit ein. Ziel müsse es sein, "in Zukunft noch resilienter und stärker zu sein – und damit auch unsere Demokratie zu schützen und zu stärken".

Es waren sorglose Tage im Karneval. Es wurde gelacht und gefeiert wie jedes Jahr, an jenem 15. Februar vor fünf Jahren. Wie jedes Jahr hatte der Karnevalsverein "Langbröker Dicke Flaa“ in Gangelt zu seiner Kappensitzung geladen. Was keiner ahnte: In der fröhlichen Gesellschaft im Kreis Heinsberg saßen zwei Jecken, die sich mit einem bis dahin noch kaum bekannten Virus infiziert hatten.

Die unheimliche Lungenkrankheit im fernen Wuhan hat mit uns nichts zu tun, so dachten damals die meisten Menschen. Was für ein Irrtum! Virologen und Ärzte waren bereits hochgradig alarmiert, umso mehr, als ja bei München schon erste Fälle aufgetreten waren. Christian Drosten etwa warnte bereits Ende Januar 2020 vor einer möglichen Pandemie und rief dazu auf, das Gesundheitssystem darauf vorzubereiten.

Sie sollten Recht behalten. Wenig später wurde der beschauliche Kreis Heinsberg an der niederländischen Grenze landesweit bekannt als erster sogenannter Corona-Hotspot in Deutschland. Und was in Heinsberg geschah, war nur der Vorbote dessen, was kommen sollte und was sich niemand von uns nur im Entferntesten hätte vorstellen können.

Das Virus verbreitete sich auch in Deutschland mit rasender Geschwindigkeit und forderte bald schon die ersten Todesopfer. Wir alle erinnern uns, wie wir mit Sorge und Beklemmung jeden Abend vor dem Fernseher saßen, um die sich überschlagenden Nachrichten zu verfolgen. Und wir alle erinnern uns an die verstörenden und beängstigenden Bilder aus dem norditalienischen Bergamo, wo die Armee lange Reihen von Särgen abtransportieren musste und die Menschen zutiefst traumatisiert waren.

Fünf Jahre ist das nun her. Fast auf den Tag genau heute vor fünf Jahren wurde in Deutschland der erste bundesweite Lockdown verhängt. Lockdown, ein Wort, das wir bis dahin nicht kannten, wie so viele andere Wörter, die noch folgen sollten. Und eine Maßnahme, die unser aller Leben, unser Zusammenleben in einer Art und Weise verändern sollte, die jede Phantasie damals überstieg: Betriebe heruntergefahren, Läden, Schulen, Universitäten geschlossen, das Wichtigste, was wir als Menschen haben, die Kontakte zu anderen Menschen, drastisch eingeschränkt.

Wir alle, Sie alle, liebe Gäste, haben ganz eigene, sicher auch schmerzliche Erinnerungen an diese Zeit und sicher auch ganz unterschiedliche Schlüsse aus ihr gezogen. Ich freue mich sehr, dass Sie alle heute meiner Einladung gefolgt sind und wir gleich darüber ins Gespräch kommen. Seien Sie uns herzlich willkommen!

Ich selbst erinnere mich gut an eine Reise nach Kenia Ende Februar 2020, wo am Flughafen zum ersten Mal bei allen Passagieren Fieber gemessen wurde. Es sollte für lange Zeit die letzte Möglichkeit sein, unser Land im Ausland zu vertreten. Auch für mich als Bundespräsidenten bedeutete die Pandemie einen Einschnitt in meiner Arbeit, in meinem Verständnis, wie ich dieses Amt gern ausüben möchte. Reisen, auch innerhalb Deutschlands, waren nun nicht mehr möglich, Veranstaltungen hier im Schloss Bellevue auch nicht. Auch wir haben damals neue digitale Formate entwickelt, um mit Menschen überall im Land so weit wie möglich in Kontakt zu bleiben. Wir haben zu digitalen Gesprächsrunden eingeladen, und ich habe – auch telefonisch – Gespräche geführt mit denen, die nicht das Privileg hatten, von zu Hause aus arbeiten zu können: Ärztinnen und Pfleger in Krankenhäusern und Altenheimen, Verkäuferinnen in Supermärkten, Mitarbeiter der Verkehrsbetriebe, der Müllabfuhr, LKW-Fahrer und viele andere Berufsgruppen mehr.

Wenn ich heute zurückblicke, dann bin und bleibe ich überzeugt, dass wir besser durch die Pandemie gekommen sind als viele andere Länder. Dennoch: Auch wir haben mehr als 180.000 Tote zu beklagen. Die Pandemie hat zu Versehrungen geführt auch in unserem Land, zu ganz offensichtlichen, aber auch zu solchen, bei denen man genauer hinschauen muss, um sie zu erkennen. Das spüre und höre ich immer wieder, wenn ich im Land unterwegs bin, bei meinen Ortszeiten, bei denen ich für drei Tage meinen Amtssitz in kleinere Städte verlege. Auch das ist ein Format, das wir sehr bewusst als Antwort auf die Corona-Zeit ins Leben gerufen haben, weil ich  überzeugt bin, dass es entscheidend ist für unsere Demokratie, dass wir als Gesellschaft wieder miteinander ins Gespräch kommen, und das Ins-Gespräch-bringen, das sehe ich auch als Aufgabe des Bundespräsidenten an.

Ja, viele Einschränkungen waren notwendig, um die Ausbreitung der Seuche aufzuhalten, und dazu gehörte es eben leider auch, Kontakte so weit wie möglich zu reduzieren. Das ist Standard in der Seuchenbekämpfung und muss sein. Trotzdem: Begegnungen zu verhindern, das ist eben gleichzeitig eine riesige Belastung für eine Demokratie. Zu diskutieren, sich auseinanderzusetzen, zu kritisieren, zu protestieren, all das war nicht oder kaum noch möglich in dieser Zeit. Und deshalb fehlte unserer Demokratie etwas ganz Wesentliches: das permanente Gespräch der Gesellschaft mit sich selbst. Ein Gespräch, das sie doch so dringend braucht, auf das die Demokratie angewiesen ist.

Viele Verletzungen der Corona-Zeit sitzen tief. Wie können die Narben heilen bei Menschen, die Angehörige und Freunde verloren haben? Oft starben ihre Liebsten einen einsamen Tod, und sie blieben zurück in einer einsamen Trauer. Mir war es deshalb wichtig, dass wir als Gesellschaft die Trauer nicht verdrängen, sondern nach einem Jahr Pandemie gemeinsam in einem großen Gedenkakt getrauert haben. Aber ich weiß auch: Viele Narben sind geblieben.

Wie können die Narben heilen bei Kindern und jungen Leuten? Also bei denen, die besonders unter den Kontaktsperren gelitten haben, die nicht die Welt für sich entdecken konnten, die wochen-, monatelang zu Hause saßen und ihre Freunde nicht sehen konnten, denen fast alles gefehlt hat, was gerade in diesem Alter so wichtig ist. Viele von ihnen haben sich allein gelassen gefühlt, manche auch an ihrer Seele Schaden genommen, und auch das wird uns als Gesellschaft noch lange beschäftigen.

Aber, und das ist ganz entscheidend und das dürfen wir nicht vergessen, gleichzeitig waren die Hilfsbereitschaft und das Engagement bei vielen Menschen überwältigend. Mich hat das zutiefst beeindruckt, und ich bin allen dankbar, die dazu beigetragen haben, dass wir in dieser schwierigen Zeit Rücksicht aufeinander genommen haben, dass wir in dieser Zeit zusammengehalten haben als Gesellschaft. Und ich finde: Das kann uns auch für die Zukunft unserer Demokratie Mut machen!

Ich halte es für sehr wichtig, dass wir aufarbeiten, was gut gelaufen ist in der Zeit der Pandemie und was weniger gut – und was sogar zu Schäden geführt hat. Wir sollten dabei aber nicht vergessen, dass viele Maßnahmen auf der Grundlage des damaligen Stands der Erkenntnisse getroffen wurden. Und es ging immer um eines: möglichst viele Menschenleben zu retten. Und das ist uns auch gelungen.

Trotzdem stellt sich die Frage, welche Maßnahmen sinnvoll waren: Waren flächendeckende Schulschließungen nötig? Professor Drosten hat gerade gestern noch einmal bewertet. Und können wir versprechen, dass sie nie wieder nötig sein werden? Waren Grundrechtseinschränkungen wie die der Versammlungsfreiheit unvermeidbar? Hat die Diskussion über eine Impfpflicht eher geschadet? Welche Rolle hatte die Politik, welche die wissenschaftliche Beratung und welche sollten sie in Zukunft in einer vergleichbaren Lage haben? Wie können wir unser Gesundheitssystem für künftige Pandemien besser wappnen und besser Vorsorge tragen? Wie können wir denen besser helfen, die schwere gesundheitliche Schäden durch eine Covid-Erkrankung davongetragen haben? Und: Wie verhindern wir, dass die Skepsis gegenüber der Wissenschaft oder sogar die Leugnung wissenschaftlicher Erkenntnisse noch weiter um sich greifen? Das sind nur einige der Fragen, auf die wir Antworten brauchen.

Erfahrungen mit Aufarbeitung gibt es ja bereits, in anderen Ländern wie beispielsweise Großbritannien und Schweden, aber auch in einzelnen Bundesländern und Kommunen. Ich glaube, das wird nicht reichen. Die Menschen in unserem Land erwarten, dass wir uns gründlich mit dieser Zeit befassen, und ich bedaure es, dass in der letzten Legislaturperiode keine Einigung darüber möglich war.

Ich glaube, dass die Aufarbeitung eine riesige Chance für die Demokratie ist, und vertraue darauf, dass der neue Bundestag und die neue Bundesregierung diese Chance auch sehen werden. Ich halte es für unabdingbar, dass Transparenz hergestellt wird, damit wir möglichst viele Menschen zurückgewinnen, die in der Zeit der Pandemie an der Demokratie gezweifelt haben, und dass Aufarbeitung auch eine Möglichkeit ist, Vertrauen zurückzugewinnen. Nach den jüngsten Wahlergebnissen ist die Aufgabe noch dringender geworden. Wenn wir nicht aufarbeiten, bleibt zu viel, was verdrängt wurde. Und das, was wir nicht offen ansprechen, nährt neue Verschwörungstheorien und neues Misstrauen. Beides ist Gift für die Demokratie. Beides spielt Populisten in die Hände, und das dürfen wir nicht zulassen.

Es sollte bei der Aufarbeitung vor allem um eines nicht gehen: vordergründig nach Schuldigen und Sündenböcken zu suchen. Das bringt uns nicht weiter, im Gegenteil, das würde zu neuen Verhärtungen führen. Es geht nicht um Rache und Vergeltung, von der manche politischen Kräfte offenbar getrieben sind. Wir müssen die Zeit der Pandemie aufarbeiten, um in einer ähnlichen Krisensituation in Zukunft noch resilienter, noch stärker zu sein – und damit auch unsere Demokratie zu schützen und zu stärken. Das muss das Ziel sein: Der Schutz der Demokratie und ihrer Handlungsfähigkeit in Krisenzeiten, das ist die große Aufgabe unserer Zeit!