Schnörkellos und klar regelt unsere Verfassung den Übergang zwischen zwei Legislaturperioden. Mit der Konstituierung des 21. Deutschen Bundestages am heutigen Tag endet nach Artikel 69 Absatz 2 des Grundgesetzes Ihre Regierungszeit. Und ebenso klar steht im nächsten Absatz, dass der Bundeskanzler auf Ersuchen des Bundespräsidenten bis zur Ernennung seines Nachfolgers im Amt bleibt und seinerseits sein Kabinett darum ersucht.
Das Ziel, das die Väter und Mütter des Grundgesetzes mit Artikel 69 verfolgten, ist eindeutig: Unser Land soll zu jeder Zeit, auch in Phasen des Übergangs, handlungsfähig sein.
Ich bin froh, dass unsere Verfassung so weitsichtig formuliert wurde. Und ich möchte heute daran erinnern, dass diese Weitsicht aus einer grundstürzenden Erfahrung resultierte. Es war die Erfahrung, dass die Demokratie nicht unzerstörbar ist, dass sie wehrhaft gegen Angriffe sein muss, und dass es Demokratinnen und Demokraten braucht, um sie zu hüten und zu leben – und das gemeinsam!
Es ist für uns wichtiger denn je, das Wissen um die Wehrhaftigkeit und das Wissen um die Gemeinsamkeit praktisch wirksam werden zu lassen. Wehrhaftigkeit bedeutet: Wir müssen uns an neue Zeiten und neue Umstände anpassen, um unsere Art zu leben verteidigen zu können. Um unser Ideal der Freiheit zu bewahren, müssen wir mehr tun, um sie zu schützen. Gemeinsamkeit bedeutet: Wir als Demokratinnen und Demokraten müssen bei aller Kontroverse gesprächs- und kompromissfähig bleiben und pfleglich miteinander umgehen - auch um das Vertrauen in unsere Staatsform zu erhalten und um das Bestmögliche für die Bürgerinnen und Bürger zu erreichen.
Diese Aufgaben sind groß. Sie kosten Kraft – finanziell, wirtschaftlich, gesellschaftlich. Und ja, auch zwischenmenschlich. Das zeigen Ihnen und uns die vergangenen dreieinhalb Jahre dieser zurückliegenden Legislaturperiode.
In der Zeitspanne Ihres Regierungsmandats hat sich unsere Welt in atemberaubender Geschwindigkeit verändert. Die Weltlage, sie hat sich in einer Weise verschärft, wie ich sie in meiner politischen Biographie bis dahin nicht erlebt habe. Wir wurden und wir sind vor große Herausforderungen gestellt.
Sie als Bundesregierung mussten sehr oft sehr schnell und entschlossen handeln. Sie mussten unbekanntes Terrain begehen und neue Wege suchen. Sie waren im Dezember 2021 das erste Bündnis dreier ganz unterschiedlicher politischer Kräfte auf Bundesebene und Ihr Anspruch war es, unser Land auf vielen Ebenen fitter für die Zukunft zu machen, auch für eine Zukunft mit sich überlagernden Krisen. Mitten in der Pandemie, diesem Ereignis, das die Welt erschüttert und uns als Gesellschaft Enormes abverlangt hat, starteten Sie in diese ganz neue politische Konstellation. Sie gingen diesen Schritt voller Zuversicht und mit vielen Zukunftsvorhaben.
Und dann überfiel Russland am 24. Februar 2022 die Ukraine. Seitdem ist die Welt eine andere. Seitdem sterben und fliehen Menschen in einem furchtbaren Krieg. Ein Krieg, der zuallererst für die Ukraine, aber eben auch für unser Land enorme Folgen hatte. Seit diesem 24. Februar 2022 werden auch die Werte unseres gemeinsamen, friedlichen Europa angegriffen. Dieser Krieg dauert nun länger als drei Jahre. Und er hat unsere europäische Friedensordnung, wie wir sie kannten, zerschlagen.
Die Verantwortung, die im Angesicht des ersten Eroberungskrieges auf europäischem Boden seit 80 Jahren auch auf der deutschen Regierung lastet, war und bleibt groß. Als Bundeskanzler, als Ministerinnen und Minister dieser Regierung haben Sie gemeinsam von Tag eins an diese Verantwortung angenommen.
Von einer Zeitenwende sprachen Sie, Herr Bundeskanzler, in Ihrer ersten Regierungserklärung wenige Tage nach dem Angriff Russlands. Was seitdem unter Ihrer Führung unternommen und auch geschafft worden ist, um Deutschland resilienter zu machen und um gemeinsam mit unseren Nachbarn und Verbündeten die Ukraine zu unterstützen, das war und ist ein immenser Kraftakt, und dafür danke ich Ihnen.
Sie als gesamte Regierung haben es vermocht, parteiübergreifend Allianzen zu schmieden, um mit Hilfe eines Sondervermögens unsere Verteidigungsfähigkeit mittelfristig zu sichern und zu verbessern. Sie haben alle Hebel in Bewegung gesetzt, um die Energieversorgung mit dem ersten Winter des Krieges sicherzustellen. Und Sie haben, gemeinsam mit Ländern und Kommunen, dafür gesorgt, dass wir die vielen Menschen, die vor dem Krieg geflüchtet sind, gut und sicher aufnehmen konnten, auch wenn die Belastung uns an Grenzen brachte und bringt. Diese Leistung Ihrer Bundesregierung verdient Respekt.
In Ihrer gesamten Regierungszeit hat unser Land, hat die Welt keinen Augenblick gehabt, um einmal Atem zu holen. Auf die Schrecken des Überfalls auf die Ukraine folgte am 7. Oktober 2023 eine Schockwelle, die die Welt erfasste, als die Terrororganisation Hamas Israel überfiel, fast 1.200 Menschen auf grausamste Weise ermordete und 250 Menschen als Geiseln verschleppte. Ihre Regierung hat sich beim Kampf gegen Terror und beim Ringen um die Freilassung der Geiseln, unter denen auch deutsche Staatsbürger sind, fest und unverbrüchlich an die Seite Israels gestellt. Sie haben zugleich stets das humanitäre Leid und den Tod zehntausender ziviler Opfer im Gazastreifen gesehen und benannt, Sie haben humanitäre Hilfe für die Notleidenden dort auf den Weg gebracht und sich für eine Waffenstillstandslösung eingesetzt. Ebenso klar kämpften Sie gemeinsam gegen die Welle von Antisemitismus, die sich auch auf unseren Straßen, an unseren Schulen, Universitäten, in Kultureinrichtungen zeigte und zeigt.
Seit dem Machtwechsel in den USA erleben wir auf besorgniserregende Weise, wie ganz neue Kräfte einer rücksichtslosen selbsternannten Elite versuchen, konstituierende Elemente liberaler Demokratien in Frage zu stellen. Auf viele der neuen weltpolitischen Herausforderungen werden wir noch lange nach Antworten suchen.
Wie schon die Jahre zuvor, so war auch die Zeit Ihrer Regierung geprägt von einer wachsenden gesellschaftlichen Polarisierung, von verhärtetem Streit. Viele engagierte Menschen, Minister wie Kommunalpolitiker oder Ehrenamtler erlebten Hass und Bedrohung im Netz, die manchen zum Verstummen brachten. Und wir erlebten politische Gewalt und Anschläge in unseren Städten, die Menschen das Leben kosteten und die uns das Herz zerreißen.
All das bereitet Sorgen und schafft Verunsicherung bei vielen Menschen in unserem Land. Unsicherheit und das Schüren von Ängsten machen gesellschaftliche Debatten, die wir dringend führen müssen, wie die über die Zuwanderungspolitik oder die über den Klimawandel, noch schwieriger.
Auch in Ihrer Regierungszeit war nicht jedem Gesetz Erfolg vergönnt. Doch Sie alle haben mit aller Kraft dafür gearbeitet, der Verunsicherung der Menschen sachliche Argumente und Lösungen entgegenzusetzen. Die Stimme der deutschen Regierung war auch international eine Stimme der Vernunft, der Partnerschaft, der europäischen Solidarität und des Respekts vor dem Recht. Auch dafür bin ich Ihnen dankbar.
Wir dürfen nicht nachlassen darin, das Vertrauen in uns selbst zu stärken. Was international anerkannt ist, sollten wir auch selbst glauben: Wir sind ein starkes Land! Zu unseren Stärken als Demokratinnen und Demokraten gehört eine gesunde Mischung aus Leidenschaft in der Sache und Vertrauen in uns selbst. Unsere politische Kultur ist dann intakt, wenn alle politischen Kräfte diese ihre Verantwortung ernst nehmen. Das bedeutet, sich immer wieder bewusst zu machen, dass Wettbewerb und Kontroverse in der Demokratie unverzichtbar und grundlegend sind. Genauso grundlegend allerdings ist die Bereitschaft zum Kompromiss. Die Demokratie lebt vom Ausgleich der Interessen.
Sie waren angetreten, um diesem Ausgleich eine neue Form zu geben – eine Koalition, die soziale, ökologische und liberale Perspektiven miteinander vereinen sollte. Und das war alle Anstrengung wert. Ich weiß, dass gerade Sie, Herr Bundeskanzler, sehr viel Energie und Geduld eingesetzt haben, damit dieser Ausgleich gelingt. Ihnen war es ein besonderes Anliegen, dass das Regierungshandeln unter dem Primat der Vernunft steht. Eine moderierende Stimme der Vernunft zu sein in aufgeregten Zeiten und auch bei so manchem Sturm in Ihrer Regierung, Verlässlichkeit und Ruhe auszustrahlen für die Menschen in unserem Land: So haben Sie Ihre Rolle verstanden.
Nun gehört es zur Geschichte Ihrer Koalition, dass Ihr Bündnis vor der Zeit zerbrach. Die unterschiedlichen Auffassungen, wie beides vereinbar ist, die Schuldengrenze zu wahren und gleichzeitig angemessen auf die Krisen zu reagieren, sie haben am Ende zu unüberbrückbaren Differenzen in der Regierung geführt.
Es liegt für die kommenden Jahre nicht allein bei der neuen Regierungsmehrheit, sondern in der Verantwortung aller Fraktionen im Bundestag, respektvoll und konstruktiv miteinander zu streiten und Lösungen zu finden, die allen Menschen in unserem Land dienen. Darum muss es jetzt gehen! Denn nur so können wir das Vertrauen in die Institutionen und unsere Demokratie stärken – und das ist notwendiger denn je.
Im Namen der Bundesrepublik Deutschland danke ich Ihnen für Ihre Regierungsarbeit in den vergangenen mehr als drei Jahren.
Bereits heute früh habe ich Sie, Herr Bundeskanzler, gemäß Artikel 69 Absatz 3 des Grundgesetzes ersucht, die Geschäfte bis zur Ernennung einer neuen Bundesregierung weiterzuführen. Ich wünsche Ihnen und den Ministerinnen und Ministern, die ebenfalls die Geschäfte kommissarisch fortführen, dafür viel Erfolg!