Wenn man bei einem Liebesmahl eine Festrede zur internationalen Handelspolitik hält, dann hat man als Redner eine Herausforderung, nämlich die Gäste da abzuholen, wo sie gerade sind – in unserem Fall also zwischen Vorspeise und Hauptgang. Und deshalb beginne ich meine Rede in der Küche.
Stellen Sie sich vor, heute Abend kochen hier drei Köche. Der erste ersetzt hochwertige Zutaten durch Billigprodukte. Der zweite hält sich zwar an die Einkaufsliste, aber Garzeiten beachten, Zutaten abwiegen – das ist ihm lästig. Er wirft einfach alles auf gut Glück in den Topf. Und der dritte kocht einfach drauf los. Mal brät er das Filet, mal kocht er es, mal serviert er es roh: Hauptsache, es ist neu und irgendwie anders als vorher. Auf der Menü-Karte heißt das Ganze dann "kreative Küche“ oder dem Zeitgeist entsprechend: "kulinarische Disruption“. Wie immer es aussieht, wie immer es schmeckt: Ich befürchte, für die Gäste ist es eine Zumutung.
In der Wirtschaft und Diplomatie ist es nicht anders. Beziehungen, die über Jahrzehnte, teils Jahrhunderte gewachsen sind, Handelswege, die auf gegenseitigem Vertrauen beruhen, internationale Regeln, die für Stabilität sorgen – das alles sind keine Zufallsprodukte. Sie sind das Ergebnis von Langfristigkeit, von Erfahrung, von Verlässlichkeit.
Derzeit erleben wir einen doppelten Epochenbruch. Auf gut 80 Jahre Weltordnung folgt eine neue, noch schwer überblickbare Weltunordnung. Putin hat mit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine die europäische Nachkriegsordnung mutwillig zerstört, mit Auswirkungen für die ganze Welt. Und neuerdings müssen wir erleben, wie enge Freunde und Verbündete sich ebenfalls von genau der Ordnung verabschieden, an deren Aufbau sie so entscheidend beteiligt waren, aber neuerdings Regellosigkeit als Fortschritt feiern. Diese neue Rücksichtslosigkeit, wie sie der amerikanische Publizist Thomas L. Friedman für sein eigenes Land diagnostiziert, mag dem einen oder anderen einen kurzfristigen Vorteil verschaffen, aber schon auf mittlere Sicht werden alle zu Verlierern, weil Unsicherheit, Instabilität, Regellosigkeit Schaden anrichten – politischen Schaden, aber eben auch wirtschaftlichen Schaden, Einbußen an Investitionen, an Wachstum, an Wohlstand.
Und ich plädiere sehr dafür, dass wir Deutsche und wir Europäer uns gegen diesen Trend stellen. Wir sollten unseren Partnerländern in aller Welt ein anderes Angebot machen: Wir setzen auf Fairness, auf offenen Wettbewerb, auf Planbarkeit, Langfristigkeit, Zuverlässigkeit, auf Vertrauen und Zusammenarbeit. Kurz: Wir setzen auf eine Politik der Zukunftspartnerschaften. Das bedeutet nicht, dass in Europa alles beim Alten bleiben könnte – im Gegenteil. Aber unser Ziel muss sein, Wandel und Innovation in geordneten Bahnen nach anerkannten Regeln und Völkerrecht voranzutreiben, sodass sie Voraussehbarkeit und Planbarkeit befördern statt Chaos zu verursachen. Wir treten ein für eine ausgewogene Entwicklung, die allen Ländern guten Willens Nutzen bringt, für Fortschritt mit Weitsicht.
Fortschritt mit Weitsicht, genau das feiern wir hier heute. Das 102. Ostasiatische Liebesmahl und 125 Jahre Ostasiatischer Verein. Diese Zahlen stehen für etwas, das in unserer Zeit auf den ersten Blick altmodisch erscheinen mag, aber gerade in einer Zeit der Krisen umso wichtiger ist: Partnerschaft. Und mindestens genauso wichtig ist das Vertrauen darauf, dass auch morgen noch gilt, was heute verabredet wurde. Wer 125 Jahre enge Beziehungen zwischen Europa und Asien geknüpft und gepflegt hat, der weiß: Die wahre Kunst liegt im Miteinander, nicht im Gegeneinander. Dafür an dieser Stelle nicht nur meinen Dank, sondern auch meinen Glückwunsch zum 125. Jubiläum!
Unsere Politik der Zukunftspartnerschaften basiert auf drei Grundfesten: erstens dem Bekenntnis zum Freihandel, zweitens dem Vertrauen in Institutionen, drittens der Stärke durch wissenschaftliche und technologische Exzellenz und Innovation. Zu allen drei Punkte will ich jetzt kurz etwas sagen.
Da ist zunächst unser Bekenntnis zum Freihandel. Freihandel ist Teil unserer Identität, gewachsen durch gute Erfahrungen. Das gilt nicht nur hier in Europa, sondern insbesondere auch in Asien. In vielen Ländern war und ist der Freihandel nicht nur ein Schlüssel für Wachstum, sondern er hat für viele Millionen Menschen den Weg aus extremer Armut überhaupt erst ermöglicht.
Freihandel ist aber nicht nur gut für Wohlstand, Wachstum und Arbeitsplätze. Wir wissen heute: Eine Welt ohne Freihandel würde weniger effizient wirtschaften, mehr Kosten verursachen, und ganz sicher mehr Ressourcen verschwenden. Auch darum setzen wir Deutsche und wir Europäer auf Vernetzung statt Abschottung, auf Freihandel statt Protektionismus, auf mehr statt weniger Zusammenarbeit, mit mehr statt weniger Regionen und Nationen. Don’t put all your eggs in one basket!
– das ist ein Lehrsatz, nicht nur für Börsianer. Wir werden unseren Außenhandel weiter diversifizieren, unsere wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Abhängigkeiten verringern und mit noch mehr Staaten dichtere politische, ja auch handelspolitische, Kontakte knüpfen.
Lassen Sie mich auch daran erinnern: Internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit, Handelsbeziehungen, Mechanismen zur Streitbeilegung – das waren keine politischen Erfindungen! Die ersten internationalen Organisationen waren zum Beispiel Flusskommissionen, wie die 1815 gegründete Zentralkommission für die Rheinschifffahrt, oder die 1865 gegründete Internationale Telegraphen-Union, oder der 1874 gegründete Weltpostverein. Es gibt unzählige weitere Beispiele. Es waren im Ursprung nicht Regierungen, die sie entwickelt und vorangetrieben haben, es war die Wirtschaft selbst. Dahinter stand die Überzeugung, dass man nicht gegeneinander, sondern miteinander erfolgreich sein kann. Und dass es dafür gemeinsame, verbindliche Regeln braucht. Und genau diese Überzeugung sollte uns auch heute leiten! Das ist die zweite Grundfeste unserer Politik der Zukunftspartnerschaften: das Vertrauen in Institutionen.
Der multilaterale Welthandel – im Wesentlichen definiert durch eine funktionierende Welthandelsorganisation – leidet unter der Erosion und dem Autoritätsverlust der WTO. Die teils offenen Angriffe auf die Organisation durch wirtschaftliche Schwergewichte, wie die USA, haben die WTO weitgehend gelähmt. Die Flucht in viele kleinteilige bilaterale Handelsabkommen ist die Folge. Man kann das nicht kritisieren. Denn wenn über die WTO nichts mehr geregelt werden kann, bleibt nur der Weg in die Freihandelsabkommen. Das ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt unumgänglich, wenn wir uns nicht in einer Welt der Regellosigkeit verlieren wollen.
Wir hier in Europa setzen weiterhin auf verbindliche Regeln der Zusammenarbeit. Und wir sind überzeugt, dass wir gerade jetzt mehr und nicht weniger Verabredungen brauchen, die Schritt für Schritt mehr Chancen und mehr Investitionssicherheit für die globale Wirtschaft ermöglichen. Diesen Weg gehen wir ganz gezielt seit Jahren, indem wir neue Abkommen bereits abgeschlossen haben oder sie gerade verhandeln. Ich denke hier an das Abkommen zwischen der EU und Kanada von 2017, mit Mexiko wurden die Verhandlungen gerade abgeschlossen, das Abkommen Mercosur mit Südamerika ist auch bereits verhandelt und wird derzeit von der EU-Kommission überprüft. In Asien sieht es ähnlich aus: Ein Abkommen mit Japan ist seit 2019 in Kraft, mit Vietnam seit 2020, und mit Indonesien und Indien verhandeln wir ebenfalls.
Und natürlich brauchen wir für eine funktionierende Weltwirtschaft China. Und ich bin sicher, auch China braucht verlässliche Partner in der Welt. Wir wollen gute Beziehungen mit China und wir arbeiten auch dafür. Gleichzeitig müssen wir unser Verhältnis zu China immer wieder neu justieren, ohne Türen zuzuschlagen. Aber wir müssen darauf bestehen, Asymmetrien – also unterschiedlich gestaltete Marktzugänge – weiter abzubauen. Wir arbeiten dafür, unsere Handelsbeziehungen mit China stabil und zukunftsfest zu gestalten: unter Wahrung unserer Interessen, nach fairen Regeln, ohne versteckte Wettbewerbsverzerrungen und mit klarer Betonung der Reziprozität. Wir sind überzeugt: Langfristig wird eine darauf gegründete Partnerschaft von beiderseitigem Nutzen sein.
In ganz Asien sehen wir große Chancen, wenn auf beiden Seiten das Verständnis herrscht, dass wir partnerschaftlich mehr erreichen und unsere Wirtschaften besser auf einen neuen, nachhaltigen Wachstumspfad bringen können, den wir alle brauchen, wenn wir nicht zurückfallen wollen. Das sind wir den Menschen hier in Europa und Asien schuldig.
Wir Europäer stehen zu unseren Werten und zu unseren Bündnissen. Europa – und ich schließe neben der EU hier auch Großbritannien, Norwegen und die Schweiz mit ein – ist auf Augenhöhe mit Nordamerika und Ostasien einer der größten Wirtschaftsräume der Welt. Dennoch: Wir Europäer können in Zukunft nur dann stark sein, wenn wir unsere Rolle neu definieren und zu neuem Selbstbewusstsein finden. Damit meine ich unsere Sicherheit, unsere Investitionen in Verteidigung, aber auch unsere Wirtschaft. Europa stärker zu machen, das muss unser Ziel sein, und gelingen kann uns das nur durch eine offensive, gemeinsame Technologiepolitik. Wir brauchen eine neue Wirtschaftspolitik der technologischen Exzellenz. Damit komme ich zur dritten Grundfeste unserer Politik der Zukunftspartnerschaften. Wir müssen den Anspruch haben, Innovationen, Technik, die neuesten Verfahren und Anwendungen und die modernsten Infrastrukturen selbst weiterzuentwickeln. Wir müssen und wollen in jeder Beziehung cutting edge sein.
Regulierung am Marktort Europa nach unseren Werten und Interessen ist das eine. Aber vor allem geht es jetzt um technologische Exzellenz und Innovation. Wir müssen uns unserer eigenen Stärke bewusst sein und unsere Technologieführerschaft im verarbeitenden Gewerbe besser nutzen. Zugleich gilt es aber auch ganz dringend europäischen Innovationsgeist zu fördern, und dafür brauchen wir einen gemeinsamen Kapitalmarkt. Noch dringender brauchen wir einen europäischen Binnenmarkt für digitale Produkte, für Dienstleistungen und auch für Energie. Digitale Technologie wird das strategische Asset unserer Zeit. Wenn wir hier unabhängiger werden wollen, dann sind dafür Geschäftsmodelle, aber auch die Infrastruktur nötigt. Eine Reihe von Initiativen europäischer Anbieter liefern im Datenverkehr spezielle Branchenlösungen oder verringern die Abhängigkeit von den Clouds der wenigen großen Tech-Konzerne.
Unsere Ambitionen sollten dabei ehrgeizig sein: Hochleistungsserver für sichere Clouddienste müssen ihren Standort bei uns in Europa haben, und dafür brauchen wir eine zuverlässige Stromversorgung, die wir zu vernünftigen Kosten bereitstellen. Europa muss zu einem neuen Hub der vertrauenswürdigen Datenökonomie werden! Wir müssen – und wollen! – in Europa besser werden, um attraktiv und stark zu bleiben.
Und ich versichere Ihnen, Deutschland wird sein Engagement vergrößern und einen unserem wirtschaftlichen Gewicht entsprechenden Beitrag leisten, durch massive Investitionen in unsere gemeinsame Sicherheit und Infrastruktur. Der Deutsche Bundestag hat dafür die Weichen gestellt, und ich bin sicher, dass die kommende Bundesregierung sich ihrer Verantwortung bewusst ist, massiv in die Zukunft unseres Landes zu investieren.
Dazu gehört nicht nur Geld. Dazu gehört auch, dass wir Bürokratie abbauen, den Staat effizienter machen und – und das ist mir wichtig – ein Klima der Weltoffenheit bewahren. Die in Teilen sehr hart geführte Debatte über irreguläre Migration, die notwendig ist, darf nicht dazu führen, dass Menschen aus aller Welt den Eindruck bekommen, sie seien in unserem Land nicht erwünscht. Wahr ist doch: Menschen, die unser Wertesystem teilen und die mit anpacken wollen, brauchen wir dringend! Eines muss uns klar sein: Ohne die geordnete Fachkräftezuwanderung aus dem Ausland werden wir unseren Wohlstand nicht bewahren.
Ich weiß, ich renne damit bei Ihnen viele offene Türen ein. Auf vielen meiner Reisen konnte ich selbst erleben, dass deutsche Unternehmen weltweit, aber insbesondere in Ostasien, engagiert in die Ausbildung junger Menschen investieren. Wie die Pflegeschülerin, die in Hanoi gemeinsam mit dem Werkzeugbauer-Azubi im Sprachunterricht deutsche Sprichwörter kennenlernt wie Viele Köche verderben den Brei.
Oder der Kfz-Mechatroniker, der in Bangkok eine duale Ausbildung nach deutschem Vorbild absolviert und Hybrid-Fahrzeuge für den europäischen Markt verschaltet. Und ich erinnere mich, wie ich vor wenigen Jahren in Sri Lanka ein Zentrum für Berufsausbildung eingeweiht habe, wo Berufsausbildung in Anlehnung an deutsche Vorbilder betrieben wird.
Jugendliche vor Ort auszubilden, egal, ob sie anschließend im jeweiligen Land bleiben oder als Fachkräfte nach Deutschland kommen, ist nie eine Einbahnstraße. Junge, gut ausgebildete Menschen, die für einige Jahre in unserem Land leben, bringen nach ihrer Rückkehr ihre Erfahrung und Fähigkeiten in ihrem Heimatland ein. Wir wissen: Es ist zum gegenseitigen Nutzen, wenn Zusammenarbeit, Investitionen und Know-how nicht an Ländergrenzen Halt machen. Freier Welthandel ist kein Null-Summen-Spiel. Die Gewinne des Einen sind eben nicht gleich die Verluste des Anderen, sondern alle Seiten können profitieren.
Gerade die gegenwärtige Krise in den internationalen Beziehungen sollte uns lehren: Nur die Verständigung auf gemeinsam akzeptierte Regeln führt uns gemeinsam in eine bessere Zukunft! Der Weg zurück in eine aufgeteilte Welt alter oder neuer Blöcke führt ins Unheil. Wir können die Welt nicht schöner reden als sie ist. Und deshalb, ja: Wir brauchen Investitionen in unsere Sicherheit; Investitionen, mit denen wir unsere Resilienz stärken. Aber nicht weniger brauchen wir aktive Diplomatie und Freiräume dafür. Offenheit füreinander, vielfältigen Austausch, nicht nur in der Politik sind die Voraussetzung für Zusammenarbeit auf Augenhöhe!
Zusammenarbeit, Austausch und Vernetzung stehen quasi im Gründungsmanifest des Ostasiatischen Vereins. Und wie Sie heute Abend sehr gut sehen können: Sie werden gebraucht! Gäbe es Sie nicht, man müsste Sie erfinden! Ihnen und Ihrem Verein alles Gute zum 125. Auf die nächsten 125 Jahre erfolgreicher Wirtschaftspartnerschaft zwischen Europa und Asien! Nochmals: herzlichen Glückwunsch!
Damit möchte ich überleiten und jetzt die Hauptspeise für sich sprechen lassen. Sie können beruhigt sein, der Chefkoch hier setzt auf bewährte Rezepte: hochwertige Produkte aus aller Herren Länder, eine gute Portion Erfahrung, kräftig gewürzt mit Innovationsgeist und das Wichtigste, eine gute vertrauensvolle Zusammenarbeit, auch im Küchenteam – genau so, wie es auch in Wirtschaft und Politik am besten funktioniert.
Vielen Dank und guten Appetit!