"Nur ein vielfältiges Land ist ein lebenswertes Land"

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 4. April 2025

Zum 35. Gründungsjubiläum des "LSVD+ - Verband Queere Vielfalt" hat der Bundespräsident betont, wie wichtig der Einsatz für eine tolerante Gesellschaft ist. Das Motto des Vereins "Wir bleiben dran“ müsse auch für Politik und Gesellschaft gelten. "Nie wieder dürfen Menschen entrechtet, verfolgt, ermordet werden“, so der Bundespräsident.

Ich beginne nicht mit Es war einmal, sondern einer kleinen Geschichte aus unseren Tagen. Sie handelt von einer Frau und ihrer Partnerin, die sich nach langer Suche Hoffnung auf eine Wohnung machen. Die beiden freuen sich besonders, da sie in Kürze ein Kind erwarten. Sie bewerben sich für die Wohnung und erhalten dann vom Vermieter die Mitteilung: Wir vermieten nicht an Wohngemeinschaften. Die Frauen erklären, dass sie keine WG seien, sondern eine Familie. Der Vermieter bleibt bei seiner Einstellung.

Ein homosexuelles Paar wird als WG betrachtet, nicht als Familie – dieser Vorfall stammt nicht aus den 1970er oder 80er Jahren. Es ist nur einer von vielen Fällen aus der aktuellen Beratungspraxis der Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Und ich fürchte, dass unter Ihnen, liebe Gäste, nicht wenige Menschen sind, die ähnliche Erfahrungen schildern könnten.

Wir bleiben dran – das Motto Ihres Verbandstages in diesem Jahr erklärt sich mit dieser kleinen Geschichte von selbst. Ich freue mich, dass Sie alle heute hier sind und heiße Sie herzlich willkommen im Schloss Bellevue! Schön, dass Sie da sind!

Toleranz und Verständnis, das ist es, wofür der "LSVD+ – Verband Queere Vielfalt“ in Deutschland seit 35 Jahren aktiv ist. Sie kämpfen für Rechte der queeren Community und für ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit und Würde – und setzen sich damit ein für die Werte unserer freiheitlichen Demokratie. Dafür möchte ich Ihnen heute meinen Respekt bekunden, aber viel wichtiger noch: Danke sagen. Ich danke Ihnen von ganzem Herzen für Ihre Leidenschaft und Ihre Energie an 365 Tagen des Jahres!

Ich erinnere mich gut an mein Gespräch mit Ihren Vorstandsmitgliedern vor fünf Jahren, in der Corona-Zeit. Wir konnten uns nur im ganz kleinen Kreis treffen. Damals wie heute ist die Situation in unserem Land für die queere Community sehr ambivalent. Wir sehen auf der einen Seite Fortschritte, eine Gesellschaft, die aufgeklärter und toleranter geworden ist. Das belegen auch Umfragen. Die ganz große Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland – in der Regel knapp zwei Drittel – befürwortet etwa die Ehe für alle oder gleiche Adoptionsrechte für homosexuelle Paare wie für heterosexuelle.

Auf der anderen Seite sehe ich mit Sorge die Gefahr eines gesellschaftlichen Rollback – hier bei uns in Deutschland und weltweit. Die Stimmen gegen die queere Community werden lauter. Sie sind nicht die Mehrheit, aber es sind mächtige Stimmen darunter.

Im vergangenen Jahr musste die Polizei viele Paraden zum Christopher Street Day schützen, weil die Teilnehmenden von Neonazis bedroht wurden. Hass gegen Minderheiten, Vorurteile, die geschürt werden, Fake News, die über die sozialen Medien eine rasend schnelle Verbreitung finden – in Deutschland werden tagtäglich Menschen in ihrer Integrität, in ihrer Würde angegriffen und verletzt. Auch die homophobe und transfeindliche Hasskriminalität nimmt zu. Das alles sind zugleich Angriffe auf unsere Art des Zusammenlebens, Angriffe auf unsere liberale Demokratie.

Diese Angriffe dürfen wir nicht mit Schulterzucken hinnehmen. Toleranz und Respekt, die Werte unseres Grundgesetzes – all das müssen wir aktiv verteidigen und selbstbewusst leben. Sonst droht der Rückschritt. Wir bleiben dran – das hat sich lange nicht erledigt; Ihr Motto bleibt Auftrag für Sie, vor allem für Politik und Gesellschaft.

Wie schnell Errungenschaften, die uns selbstverständlich schienen, verloren gehen können, müssen wir derzeit ausgerechnet bei der bisherigen Führungsnation des freien Westens beobachten. Die Anerkennung von nur noch zwei Geschlechtern, der Ausschluss von Transmenschen aus der Armee, die Einstellung von Diversitätsprogrammen: In den USA will eine selbsternannte Elite die Zeit zurückdrehen. Und das Beunruhigende ist: Es gibt Unternehmen und Institutionen, sogar Universitäten, die sich bereits in vorauseilendem Gehorsam üben. Das ist die große Gefahr eines Kipppunktes. Mehr und mehr Menschen fühlen sich in ihren Vorurteilen bestätigt, fühlen sich legitimiert, andere zu diskriminieren. Wir drohen zurückzufallen in alte gesellschaftliche Kämpfe, die wir glaubten, schon hinter uns zu haben. Das zu verhindern, ist nicht Aufgabe der davon Betroffenen allein! Da liegt eine große Verantwortung der demokratischen Mitte auch in diesem Land!

Wir in Deutschland sollten aus unserer Geschichte wissen, wohin es im Extremfall führen kann, wenn sich Ausgrenzung und Verunglimpfung in der Mitte der Gesellschaft verfestigen, wenn sie sich dort hineinfressen. "Nie wieder!“, auf diesem Versprechen gründet unsere Nachkriegsdemokratie. Nie wieder dürfen Menschen entrechtet, verfolgt, ermordet werden. Ich möchte heute noch einmal bekräftigen, was ich 2018, am 10. Jahrestag der Einweihung des Mahnmals für die in der NS-Zeit verfolgten Homosexuellen, gesagt habe: Egal, welche sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität – die Würde eines jeden Menschen ist unantastbar. Das gilt diesseits und jenseits unserer Grenzen.

Ich gehe fest davon aus, Ihr Verband wird im 35. Jahr seines Bestehens mindestens so stark gebraucht wie in seinem Gründungsjahrzehnt. Und es ist gut zu wissen, dass wir so aktive Bürgerrechtsverbände haben wie Sie. In Deutschland mussten sich queere Menschen lange verstecken. In zu vielen Teilen der Welt gilt dies immer noch – oder schlimmer: Es gilt wieder. Das ist nicht unsere Vorstellung von Demokratie. Demokratie ist das nie spannungsfreie Zusammenleben von Menschen mit verschiedenen Interessen, Lebensentwürfen, Herkünften, unterschiedlichen Erfahrungen, Träumen und Traumata. Und dennoch bleibt richtig: Nur ein vielfältiges Land ist ein lebenswertes Land.